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Die Malerischen

(Phantasien einer Italienreise)

September 1908

Zwei einander feindliche Prinzipe bewegen unser geistiges Dasein: der Sinn für das Malerische und das Gefallen am Nützlichen. Ich möchte hundert gegen eins wetten, daß der Mensch, der sozusagen im Leben steht, also der Philister, dem Malerischen den Vorzug gibt, während der Dichter sichs am Nützlichen genügen läßt. Denn der Dichter braucht die freie Bahn des äußeren Lebens, um zu den Wundern zu gelangen, die er aus sich selbst holt. Er trägt alle Himmelssonnen in seinem Kopf, und um sie recht zu genießen, braucht er nur eine Lampe, die tadellos funktioniert. Daß es Automobildroschken gibt, die ihn schnell und bequem an den Schreibtisch bringen, ist ihm wichtiger als das Bewußtsein, daß im Museum seiner Stadt ein echter Correggio hängt. Dem Philister hingegen ist der Correggio unentbehrlich, auch wenn er etwa nicht in der Lage sein sollte, ihn von einem echten Knackfuß zu unterscheiden. Der Philister lebt in einer Gegenwart, die mit Sehenswürdigkeiten ausgestattet ist; der Künstler strebt in eine Vergangenheit, eingerichtet mit allem Komfort der Neuzeit. Jener muß sich aus den Hindernissen des äußeren Lebens nichts machen, denn er hat kein inneres Leben, das von ihnen bedroht wäre. Und wenn seine dicke Haut sie dennoch spürt, so bleibt ihm ja ein Trost: die Kunst. Sie ist dem Philister der Aufputz für des Tages Müh und Plage, und er schnappt nach den Ornamenten, wie der Hund nach der Wurst. Selbst die Hindernisse des Lebens locken ihn durch ihren malerischen Anstrich. Ich empfinde die Peitsche eines italienischen Kutschers, deren Knall das Angebot seiner »Carrozza!« verstärken soll, als wahre Gottesgeißel. Ich möchte mich loskaufen von der Pein, mit der der öde Wille des inferioren Nebenmenschen in meine geistigen Kreise dringt. Meinetwegen könnte die Taxe überschritten werden, die man dafür erlegen soll, daß man nicht zum Fahren aufgefordert wird. Auch empfinde ich die Herrschaft, die die italienischen Kinder über die Straße ausüben, als unerträgliche Tyrannis, wiewohl sich die künftige Kutschergeneration damit begnügt, nach einer Zigarette zu verlangen, wenn ein Vulkan raucht oder gar der Kopf des Betrachters. Alle diese Hindernisse sind aber im höchsten Grade »pittoresk« und danach angetan, das Herz des sächsischen Vergnügungsreisenden zu erfreuen, dem getrost die Bettelkinder über die Gedanken laufen mögen, wie die Fliegen über die Makkaroni. Ich hätte mir den Golf von Neapel schöner vorstellen können, als er ist, und ohne die störenden Begleitumstände, die mir dort unten den Eindruck verderben mußten. Aber ich war gereist, um noch unbekannte Quellen der Enttäuschung kennen zu lernen, und kehre befriedigt heim. Man hofft, es werde gehen, wenn man die Sprache des Landes nicht versteht, eine Zeitlang hilft das, aber sobald die Menschen merken, daß man es auf den Lebensgenuß abgesehen hat und auf das Glück der Ruhe, dann liest man es von allen Mienen geläufig: Lasciate ogni speranza.

Was zurückbleibt, ist das Malerische. Man ist auf die blaue Grotte angewiesen. Könnte eine Sehenswürdigkeit aber auch täuschender nach einer bekannten Ansichtskarte hergestellt sein? Von diesen Wänden tropft das Staunen der Reisenden aus Kötzschenbroda, und weil dieses Blau im Lauf der Zeit ein etwas kitschiges Genre geworden ist, darum fährt der Bootsmann gleich bei der Einfahrt in seine Nase, um wieder einen aparteren Zug in die Sache zu bringen. Aber was hilfts? Irgendwo hat sich ein Echo verfangen, das Herrjeses! ruft, auch wenn man auf einsamem Kahn schweigend dahingleitet, in Gottes Wunder versunken, bis der Bootsmann wieder den Ausweg gefunden hat ... Übrigens hatte ich Deutschland gerade in den Tagen verlassen, als die Nachricht kam, daß ein paar Hundert von den Leuten, die sonst in der blauen Grotte schwelgen, der Hinrichtung der Grete Beier beigewohnt hatten. O über den Sinn für das Malerische! Der Unterschied liegt nur in der Kleidung des Betrachters. Für die Hinrichtung der Grete Beier war ausdrücklich Frack oder Gehrock vorgeschrieben, während die blaue Grotte auch im Lodenanzug besucht werden kann. Aber wer wird auf Äußerlichkeiten halten? Die Hauptsache ist, daß in beiden Fällen ein ehrliches Jägersches Normalhemd darunter pocht. Als der Kopf eines Mädchens fiel, rief ein vereinsamtes Echo: Herrjeses! ... Ein Psychiater jedoch war anderer Meinung und sagte, »um solche Exemplare des homo sapiens sei es nicht schade, denn sie sei stark messalinisch veranlagt gewesen und auch ihre Reue habe keinen inneren ethischen Wert gehabt«. Der stark neronisch veranlagte Psychiater bedauerte später, daß seine private Äußerung durch alle Blätter Deutschlands gegangen sei. Aber diese Reue hatte keinen inneren ethischen Wert und selbst die Gegner der Todesstrafe an Psychiatern meinten, daß es um solche Exemplare des homo sapiens nicht schade wäre. Mir ist so unerbittliche Nüchternheit wenig sympathisch und darum sage ich: Laßt sie gehen, die Psychiater, sie sind zwar nicht nützlich, aber malerisch.

Sie gehören zu den vielen Berufen des modernen Lebens, die unter solchem Zwiespalt der Bestimmung zu leiden haben. Aber zu einem wahrhaft tragischen Konflikt verschärft er sich bei den Hotelportiers, die, zwischen der Müßigkeit ihres Amtes und der Bedeutung ihres Kleides hin und her geworfen, zu keiner wahren Daseinsfreude gelangen können. Es ist nur ein Beispiel von den vielen, gewiß nicht so geläufig wie etwa das der Staatsanwälte, doch gerade deshalb um so bemerkenswerter. Allen diesen Berufen ist gemeinsam, daß zwar der Anblick des Repräsentanten das Auge erfreut, daß aber seine Tätigkeit nicht im eigentlichen Sinne des Wortes als nutzbringend gelten kann. Der Hotelportier ist eine Person, die namentlich auf Reisen stört. Er schiebt sich zwischen den Reisenden und die Eindrücke, ohne jedoch vermittelnd zu wirken. Im Gegenteil entzweit er beide Teile selbst dort, wo sie aufeinander geradezu angewiesen sind. Indem er sich wie der leibhaftige Vertreter des Mr. Cook gebärdet — jener sagenhaften Persönlichkeit, unter der man sich einen Kolumbus von fünf Weltteilen vorstellen mag —, dirigiert er die Passagiere immer dorthin, wohin sie eigentlich nicht gelangen wollten. Ich kann und will es nicht sagen, in wie viel unrichtige Züge ich auf den Rat der Hotelportiers gestiegen bin, denen ich auf meinen Reisen zu begegnen das Pech hatte. Was den Hotelportier, der auf der Höhe der Situation steht, vor allem auszeichnet, das ist die Präzision der falschen Auskunft. An der Hand des Kursbuches und mit den Worten: »Das werden wir gleich haben!« schickt er den Mann, der nach Mailand wollte, unfehlbar nach Brindisi. Oder er würde auf die Frage, ob es günstiger sei, den Seeweg zu nehmen, wenn man von Berlin nach Frankfurt wolle, gelassen antworten: »Ja, das könn’ Se machen!«; und zwischendurch geistesgegenwärtig einem andern Neugierigen aus dem Straßenplan nachweisen, daß er von der Friedrichstraße nicht direkt nach den Linden kommen könne. Ein Hotelportier darf eben nie den Kopf verlieren. Er hat alles parat, obschon zumeist das Gegenteil. Man versuche es nur einmal, ihn nach der Beschaffenheit der dänischen Seebäder zu fragen: er wird einem das Nordseebad Fanö wegen seines Waldreichtums und die Ostküste wegen ihres Strandes empfehlen. Wenn einer nun eingesehen hat, daß er auf Reisen von den Hotelportiers nicht viel profitieren kann, so erliegt er nur zu leicht wieder der Versuchung, ihnen etwas von den Erfahrungen mitzuteilen, die er schlecht und recht auf eigene Faust sich erworben hat. Aber er säet auf steinigem Boden. Enttäuscht zieht er sich aus der Portierloge zurück und erkennt die Nichtigkeit menschlichen Mühens. Wahrlich, wenn Hotelportiers nicht bloß einen dekorativen Zweck haben, so sind es Attrappen, Vexiergebilde, scherzhafte Vorrichtungen zur Irreführung des Publikums. Sicher weiß mans aber nicht; das ist es eben. Man möchte gern das Gegenteil von dem tun, was sie einem raten, doch leider ist auch auf diesen Weg kein Verlaß. Denn es kann vorkommen, daß ein Hotelportier irrtümlich eine richtige Auskunft gibt, und dann steht man da! O, es wird sich einmal herausstellen, daß diese Männer in den Portierlogen geboren und gleich Kant nie aus ihrem Geburtsort herausgekommen sind. Wie hätten sie auch mit ihren geringen Kenntnissen vom Eisenbahnwesen die Reise in die fernen Länder antreten können, in deren Hotels sie heute ihre eigenartige Tätigkeit entfalten? Sie sind schon auf dem Standpunkt aufgewachsen, auf den unsereins erst nach mannigfachen Ärgernissen und Enttäuschungen gelangt: daß es viel schöner ist, sich das Reisen vorzustellen.

Und muß man denn wirklich erst reisen, um zu erfahren, daß es so viele Berufe gibt, deren Nützlichkeit mit ihrer koloristischen Wirkung nicht gleichen Schritt hält? Kontrollore zum Beispiel gibt es auch auf der Straßenbahn. Sie unterscheiden sich von den Kondukteuren dadurch, daß sie Handschuhe tragen, aber während die Kondukteure die Karten wenigstens zwicken, schauen jene sie bloß an. Wozu gibt es Kontrollore? Auch der Zimmerkellner, dem man die Hotelrechnung bezahlt, erscheint in solches Rätsel eingehüllt, das aus Würde und Grundlosigkeit seltsam gewoben ist. Und hat man denn schon das Geheimnis jener Funktionäre ergründet, die in unseren ureigenen Stammlokalen für nichts anderes entlohnt werden, als dafür, daß sie das Geld nehmen? Während die Speisenträger sich bloß nützlich machen, sind die Zahlkellner in hohem Grade malerisch. Und hat man sich vollends schon einmal gefragt, was die sonderbaren Männer zu bedeuten haben, die im Restaurant oder Kaffeehaus plötzlich vor uns hintreten und sich stumm verbeugen? Mit Mühe ist es mir gelungen, herauszubringen, daß es die Besitzer sind. Aber diese Erschließung hatte mit so vielen anderen erweislichen Wahrheiten gemeinsam, daß sie mich nicht befriedigte. Denn es war damit noch nicht aufgeklärt, welche Bedeutung die Pantomime jener Männer habe. Daß sie unserer Verdauung nicht nützt, daß sie uns zur Unterbrechung unserer Lektüre, unserer Gespräche, unserer Gedanken zwingt, liegt auf der Hand. Dieser Gruß nötigt uns sogar zu einem Gegengruß, wir sind also gezwungen, eine Unfreundlichkeit mit einer Höflichkeit zu erwidern. Was wollen diese Leute nur, die nichts zu tun haben als uns zu zeigen, daß sie da sind? Ich kannte einen Cafétier, der täglich mit einem Blick vor mich hintrat, gegen den das Ave Caesar, morituri te salutant eine leere Versprechung war. Ob nun darin bloß eine unzerstörbare Ergebenheit lag, oder auch der stille Vorwurf, daß das Geschäft nicht sehr gut ging, nie vergesse ich diesen Blick eines verendenden Kaffeesieders. Wie anders wirkte der Hotelier eines Kurortes auf mich ein, dessen stummer Gruß weltmännisches Gehaben bedeutete, ohne daß ich mir freilich zu erklären wußte, warum es gerade vor mir produziert wurde. Als ich mich aber einmal zu der unvorsichtigen Bemerkung hinreißen ließ, daß das Rindfleisch heute gut sei, vernahm ich die folgende Ansprache: »Es ist erfreulich, ein solches Lob aus so kompetentem Munde zu vernehmen, und soll dies uns ein Ansporn sein, nicht zu erlahmen, sondern unerschrocken auf dem einmal betretenen Pfade fortzufahren.« Er ist also freiwilliger Feuerwehrobmann, sagte ich mir, und die Perspektive in ein winterliches Leben tat sich vor mir auf, wo es keine Kurgäste mehr gibt und das zurückgehaltene nationale Bewußtsein wieder in seine Rechte tritt ... Ja, ich habe oft den Nutzen des Restaurants und der Kaffeehäuser gewürdigt; nie aber ist mir klar geworden, welchen Zweck die Restaurateure und die Cafétiers haben.

Wenn mir jedoch unter den idealen Berufen einer aufstieß, mit dem ich mich um keinen Preis ausgesöhnt hätte, so war es der des Kapitäns auf unseren kleinen Alpenseedampfern, wiewohl gerade dieser sich durch besondere Farbenpracht auszeichnet. Seitdem ich einmal einen dieser Beherzten dabei ertappt habe, wie er sich Wettergebräuntheit anschminkte, hat auch die Befehlshabergeste, mit der sie den einen Mann an Bord zu rufen pflegen, ihren Reiz für mich verloren. Sind alte Seeratten, sicherlich; aber mehr Kostüm als Inhalt. Die Welt ist eine Kinderstube, und mit dem andern Spielzeug, das eine schöne Uniform hat, gehören auch sie hinein. Es soll die reisenden Sachsen verblüffen, und für die gibt es die vielen bunten Dinge, die so unnütz sind. Für die gibt es Italien, das malerisch ist von oben bis unten ...

»Carrozza!« knallt es, »Sigaretta!« bettelt es hinter mir her; Kinder jammern, Tiere wimmern. Auf allgemeines Verlangen entschließe ich mich endlich, meine Zigarette hinzugeben und eine Karosse zu besteigen. Wenn die arme Mähre überhaupt nicht mehr will, ruft der Kutscher im Tone der äußersten Bewunderung: Ah! ... Es ist aber auch im höchsten Grade malerisch. Je schwieriger und holperiger, um so malerischer wird es. Auf dem Weg des Lebens ergeben sich Hindernisse. Und immer mehr Leute nehmen auf dem Kutschbock Platz, immer mehr Hadernballen sollen aufgeladen werden, und hinten hängen die lieben Kleinen, die weiter nichts wollen als eine Zigarette. Und so oft oben einer aufsitzt, meint der Kutscher entschuldigend: mio fratello —! Das schlägt alle Einwände, besiegt alle Hindernisse. Immer wieder sitzt mio fratello oben auf. Die Familie muß sehr zahlreich sein. Sie riecht nicht gut; doch sie ist malerisch.