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Januar 1914

Das Denkmal eines Schauspielers

Unter den vielen Drucksachen, die ich zugeschickt bekomme — als brauchte ich immer neue Belegexemplare für die Erkenntnis, daß aller technische Aufwand der Verbreitung der Geistesschwäche dient —, befinden sich auch solche, deren Format mir die Rücksendung erschwert. Mag Verleger oder Autor glauben, daß ich sie gelesen habe. Ich müßte sie, Kreuzbände im rechten Sinn des Wortes, in ein Postamt tragen, und ehe ich einem Romanidioten zuliebe diesen Weg mache, lege ich ihn lieber zu den übrigen, in einen Winkel, der bis zur nächsten Übersiedlung wartet, um als ganzer ausgemistet zu werden. Ja, ich schlucke den Staub der Zeit; der künftige Mieter wird es rein haben. Ein Titelblatt, ein Verlagsprospekt genügen etwa der Neugier. Nicht unbesehen wandern sie alle, an deren Nichtigkeit so vieler Menschen Kräfte wirkten, in den Winkel. Welch ein Weg, vom Baum, der fallen mußte, durch die Papierfabrik zum Setzkasten, weil der Wahn eines Narren sich am Schreibtisch nicht beruhigen wollte, sondern hundert Hände brauchte, um sich in tausende zu spielen; welch ein Apparat aus Zeit und Nerven, bis der Ehrgeiz eines, der das Alphabet mißbrauchen kann, die Gangart eines Briefträgers beschleunigt, der mir das Rezensionsexemplar bringt. In den Winkel!

Vor solchem Ende bleibe ein Doppelband bewahrt, den ich in der nach Monaten ersten freien Stunde durchblättert habe. Die spärliche Pause, die mir, der letzten Beute meiner Jagd, gegönnt ist, wie verbringe ich sie? Nicht mehr vor einem Kunstwerk, weil seine Fülle mich nicht beruhigt, wenn sein Mangel mich in die Arbeit treibt. Unzulängliche Götter lassen mich nicht zur Andacht kommen. Nur Menschliches, das noch kein Nachschöpfer geformt hat, taugt zur Erholung. Doch welche Qual der Hindernisse sperrt den Weg dazu, wenn sie es nicht längst verschüttet hat! Menschen kennen lernen, ist Gefahr ohne Romantik. Aber es gibt noch Verstorbene — immer seltener auch sie — und wird man mit solchen bekannt, so zeigt sichs bald, ob die Anknüpfung sich lohnt; und wenn ein abgeschlossenes Stück Menschentum aus Briefen zu uns spricht, so sollen wir umgänglich sein. Ich habe eine Bekanntschaft gemacht, auf die ich stolz bin. Ich habe den wahrsten Menschen kennen gelernt, und es war ein Schauspieler. Adolf Ritter von Sonnenthals Briefwechsel1 — von der liebreichsten Kordelia mit jener beherrschenden Sorgfalt, die nur die Treue hat, gesammelt — läßt eine Gestalt erblicken, die wie das letzte Ebenbild Gottes in ihrer Zeitverlassenheit zum Monument ihrer selbst wird. Von dem Augenblick idealer Lebenserwartung, in dem das Kriehuber’sche Blatt von 1859 einen edlen Jüngling vorstellt, bis zu dem ins Jenseits glotzenden Wahnsinn Lears — welch eine Dichtung aus Milde und Männlichkeit, Anmut und Adel, Güte und Größe, die die Natur zustandegebracht hat, damit ein Komödiant einen Pfarrer lehre, ein Jude den Aristokraten, der Schneiderlehrling den Weltmann. Nie hat es einen ritterlicheren Ritter gegeben als diesen vollkommensten Darsteller einer bürgerlichen Kultur, deren kläglicher Zerfall noch durch die Harmonie dieser Lichtgestalt geadelt wird. Nie hat ein jüdischer Familienname weniger den Glanz seines Inhalts verleugnet; und so wahr die penetrante Häßlichkeit des Wiener Lebens vor einem Gonzaga nur noch an eine Kommerzgasse denken läßt, die in jenen Schottenring mündet, vor dem man nicht an Schotten denkt, so möchte man vor einem Tal voll Sonne sich immer auch eines strahlenden Menschenlebens besinnen, über das durch alle Alter die unveränderte Gnade eines windstillen Klimas gebreitet war.

Viele Probleme, mit denen die Zeit sich über Wasser hält und die der Zweifel braucht, um nicht an sich selbst zu verzweifeln, werden zuschanden vor der Einheit eines Menschen, dessen Hingang zu rechter Zeit erfolgt, um den Reinhardt’schen Ensemblewirkungen des Zerfalles Platz zu machen. Der Zusammenbruch der Lebens- und Bühnenwerte vollzieht sich in dem Grinsen einer Generation, die zwischen Gott und dem Schauspieler alles zerzweifelt, was imstande war, ein schöneres Leben als das ihre auf die Beine zu stellen. Die Unfähigkeit zum Gefühl, die wirklich hofft, durch Autos weiter und durch Aeros höher zu kommen, erfrecht sich eines Stilbewußtseins und wirft alles in die Rumpelkammer ihrer Parvenüschaft, was doch so bedeutend war, daß es ableben mußte, um dem Mißwuchs das Recht auf Selbstbehauptung zu vermachen. Die Höherwertigkeit eines Zeitalters beweist sich aber nicht an dem höheren Niveau literarischer und sonst gewerblicher Fertigkeit; nicht einmal an dem Dasein vereinzelter schöpferischer Mächte, die nur Boten sind des kommenden Chaos. Sondern sie hat sich an der höheren Aufnahmsfähigkeit bewiesen und an der größeren Bewegtheit der Masse, und die Kultur des Theaters zeigt den Wärmegrad des Lebens an. Ist die Massenkunst schlechter, so ist die Masse schlechter geworden. Nur zwischen sieben und zehn ist unmittelbar das Abbild unsres Zustandes erhältlich, nicht durch die Literatur. Es beweist gar nichts gegen eine Zeit, daß die Konturen, in die schauspielerisches Leben eingefüllt war, von handwerklichen Federn gezogen sind. Es beweist aber alles für eine Zeit, daß in diesem Grundriß echte Bühnengötter ihre Wunder schufen. Ein Mißglaube ist es, der vom Wort und vom Geist jene unmittelbaren Wirkungen auf die Gegenwart erhofft, die allein der Klang vermag und das Weib. Der Sprechkunst, nicht der Sprachkunst ist es vorbehalten, uns selbst zu sagen, wie es um uns selbst bestellt ist. Zum Gedanken führt keine Bühnentür, und der Weg, der ein Säkulum braucht, steht nicht für einen Abend offen. Die Zeit war noch ganz, die halbe Autoren hatte. Die ganzen leben nicht dem Ohr der Gegenwart, sie schaffen das Ohr der Zukunft. Sie sind nicht zu lesen, denn sie gehen auch ungelesen in das Blut. Daß sie durch den Mund des Schauspielers gehört werden könnten, war immer der Irrtum eines Literatentums, welchem Kunst und Bühne nur darum vereinbar scheinen, weil es im gleichen Abstand von beiden lebt. Kein Tropf, der mit der dramaturgischen Forderung an das Theater herantritt, hat sich noch den Kopf darüber zerbrochen, warum denn heute unter verständigen Bühnenbürgern, die Ibsen erläutern können, kein Vulkan mehr ausbricht, keine Leidenschaft, die mit Kean oder Narziß vorlieb nimmt, um die Erde zu erschüttern. Als ob die Menschlichkeit, die der große Schauspieler wirkt, vom Wortmacher mehr als das Stichwort brauchen könnte, und als ob die unvergeßliche Gebärde je etwas dem Teil von Shakespeare verdanken könnte, der des Geistes ist und nicht des Stoffes! Und als ob der Gedanke auf die Zunge angewiesen wäre und nicht von ihr, indem er ihr Laute leiht, zugleich gefesselt würde. Als ob, was gehört wird, auch verstanden werden könnte, und was gefühlt wird, nicht vom Sprecher käme, sondern vom Wort. Die stickige Zeitluft, in der Schauspieler zu Psychologen werden mußten, tut sich viel darauf zu gute, die Literatur dem Theater nähergebracht zu haben. Aber sie weiß nicht, daß sie hier — zeitweise — bloß mit ihrem analytischen Pech Glück hat. Sie hat das Theater zum Hörsaal gemacht, in welchem zu tausend Einzelnen gesprochen wird, ohne die bindende Kraft, die nie der Begriff, nur der Tonfall vermag. Was sind tausend intelligente Schwächlinge, wenn sie nicht einmal mehr das eine und einzige Weib bilden, das dem Schauspieler erliegt? Die literarischen Gelegenheitsmacher jener großen schauspielerischen Generation, die nie mehr eine Nachfolge finden wird, die geistigen Korrespondenten eines Sonnenthal, die ihm auch Briefe schreiben, sind die Autoren zwischen Gottschall und Lindau. Sie sind reinlicher als die Handlanger, die heute, entlarvt vom schauspielerischen Mittelwuchs, mit ihrer Geistigkeit als solcher dem Publikum Spaß machen, welches sie — Hand auf den Bauch — noch immer bei weitem dem Ibsen vorzieht. Es ist gleichwohl möglich, daß der Kulturhochmut, der heute um das Theater herumschwindelt, aus der Mitwirkung eines Philippi an einer Riesenleistung der Wolter, eines Sudermann an einem ihn umstülpenden Triumph der Helene Hartmann, aus der zeitlichen und räumlichen Anwesenheit der nüchternsten Macher bei den heroischen Augenblicken des Burgtheaters dieselben falschen und frechen Schlüsse zieht wie aus der Unentbehrlichkeit des Herrn Buchbinder für den ein Volkstum bezeugenden Genius Girardi. Man beklage den literarischen Defekt und man finde den schauspielerischen Effekt bedenklich. Doch »dieser Defektiv-Effekt hat Grund«. Die Poloniusse verstehen es nur nicht. Sie glauben, die mimische Leistung sei ein Vergängliches und habe sich jeweils an dem Text zu beweisen. In Wahrheit lebt der Klang länger als das Wort, wenn es nur ihn hat und nicht auch die Schrift. Wie sonderbar, daß das wahre und großartige Leben, das einen Sonnenthal und seinen Umkreis erfüllt hat, noch im Briefwechsel die zweifelhaftesten Kompagnons seiner Erfolge adelt. Und wie wird das Gefühl, an einer schauspielerischen Leistung sei nur der Text vergänglich, eben vor dieser Briefsammlung zur Gewißheit! Das Menschentum, das im durchschnittlichen Komödianten verschwindet, um im großen Bühnenschöpfer wiederaufzuleben, und nicht anders als in jeder andern Formkraft, die eine Kunst bedeutet, es lebt als ein Beispiel fort und geht — trotz der Ansicht über die Flüchtigkeit des Bühnendaseins — ganz ähnlich in das Gehör der kommenden Geschlechter ein, die es nicht mehr hören können, wie die Bücher, die nicht gelesen werden müssen, um fortzuwirken.

Dieses hier aber gehört zu jenen, die gelesen werden sollten um einer zeitlichen Wirkung willen: um die Auffassung zu berichtigen, welche die von einer wesenlosen Natürlichkeit bestochene Generation von der verflossenen Größe hat, mit deren Schilderung die überlebenden Zeugen ihr nur ein posthumes Vorurteil beibringen. Sie hat sich gewöhnt, das Pathos der überlebten Epoche für ein solches zu halten, das schon in seinem Ursprung ein Residuum sein müsse, und es sei eben eine Zeit gewesen, die aus dem Leben, das immer schon nach ehrlichen Handelshäusern verlangt habe, mit einem dekorativen Betrug herauszuwachsen bestrebt war. Die Kunst einer Wolter könne nichts anderes gewesen sein als der Bühnenausdruck dessen, was sonst eben auf makartisch gesagt wurde. Sie ahnen nicht, daß eben in solcher Zeit die Urkräfte auf der Bühne entfesselt waren. Sie glauben wirklich, daß ihre dürftigen Eindrücke von geschlossenen Ensembles, durch die ein Regisseur den Willen eines bühnenfremden Autors drückt, an die Erschütterungen hinanreichen können, welche in den ironisch klischierten Achtziger-Jahren einer Jugend zuteil wurden, die, wenn keinem anderen Erlebnis, diesem da bis zum Grab die Treue hält. Bei der reinen Flamme, die die Erinnerung an das Dasein eines Lewinsky verklärt, sei’s geschworen: hier ist das Lob des Vergangenen die letzte Phrase, die die Wahrheit sagt. Und wie ist dieser Sonnenthal’sche Briefwechsel imstande, die ganze Konvention eines maniervollen Lebens eben wieder glaubhaft zu machen, wenn seine fortwährende Wärme und Würde unserer Zeit verlogen scheinen müßten, weil diese noch in ihrer Fratzenhaftigkeit verlogen ist. Denn die Frechheit des Benehmens ist ihr ganzer Inhalt, aber die Sitten der Vorzeit waren der Spielraum für die Kraft. Davon könnte bei einigem guten Willen dieses Buch überzeugen, in dem hinter keinem Schnörkel ein unechtes Wort ist, mindestens keines, zu dem man sich nicht ein echtes Herz vorstellen möchte. Denn in diesem Schauspieler ist so viel Höflichkeit, daß ihrer nur die Gradheit fähig ist, und so viel Menschlichkeit, daß man erst hinterdrein gewahr wird, ihre Anlässe seien Rollen gewesen und die Träne sei über Schminke geflossen. Spät erst, im Zersplittern jener bürgerlichen Kultur, der ein Schauspieler seine Ritterkrone aufsetzte, mochte es scheinen, als wäre seine Art auch eins mit ihrem Mißklang, und es war möglich, daß ein Ressentiment gegen eine jüdische Presse, die längst die Vertretung der Verfallsbestrebungen übernommen hatte, seinen ehrwürdigen Resten unrecht tat. Aber vor dem Buch, in dem sein ganzes reines Leben aufgebreitet liegt, stellt es sich leicht heraus, wie wenig diese Natur mit dem unsaubern Verlauf der Dinge zu schaffen hatte. Nur wer nicht weiß, daß auf den höchsten Höhen der Schauspielkunst die Quelle des Lebens wieder fließt, kann über die Profession dieses Edelmannes, wenn man sich ihrer nach so viel Feinheit doch vergewissert hat, den Kopf schütteln. Es mag dieselbe Ahnungslosigkeit sein, der auch seine Konfession noch heute zum Maß für die Tiefe seiner Empfindungen dient. Sein Wesen war mehr, als ihm bewußt sein mochte und als er es sich erlauben wollte, jenem Streitfeld entrückt, wo die Dummheit, die den Menschenwert konfessionell verdächtigt, und die Frechheit, die ihn konfessionell begründet, noch immer miteinander beschäftigt sind. Der Antisemitismus, der einen Adolf Sonnenthal nicht für voll nimmt, ist von seiner eigenen Leere erfüllt, und die liberale Weltanschauung ist eben dort zu Ende, wo sie sich auf den Darsteller ihrer noch unverbrauchten Humanität zu berufen beginnt, der ein Mensch war, ehe die Händler zur Welt kamen. Eine andere Weihe als ihren angemaßten Tempelsang hat die Orgel seiner Stimme begleitet. Ertönte sie heute und später, sie wäre als Sturm geboren, der unter ihnen Schrecken verbreitet. Wohl hatte sie nichts von der feindlichen Urgewalt, mit der die Rede der großen Tragöden das Ohr überrannte, wie die Matkowskys, der Wolter und vielleicht jener Burgtheatergiganten, deren Art der junge Sonnenthal verzückt erlebt hat. Und dennoch hatte sie, wenn sie mit sanfter Überredung sich Eingang verschaffte, die Macht, uns bis zum Herzkrampf zuzusetzen, und wenn sie Goneril verfluchte, so klang sie, als würden Trümmer des Menschentums durch Tränen zerbröckelt. Wenn je eine schauspielerische Begabung würdig war, durch ein Denkmal vor dem Gesicht der Taubheit geehrt zu werden, so war es diese, die sicher wie keine zuvor den Umfang des von der Bühne zu umfangenden Lebens hatte und die vollkommenste Sprache einer Gesellschaft führte, wie Girardi die eines Volks. Das Kainz-Denkmal ist, wie es jede solche Verewigung eines trefflichen Einzelfalls von Schauspielerei wäre, in Pietät oder Eitelkeit die Privatsache jener Kreise, die auf die Idee verfielen. Es mag in der Stadt, deren Persönlichkeit ihre ureigensten Darsteller vergißt und in der es kein Nestroy- Denkmal gibt, als eine Kuriosität seinen Platz haben. Sonnenthals Briefwechsel wirkt bescheidener und deutlicher. Und bleibt eben darum auch der Beachtung jener Passanten entrückt, die Zeitungen lesen. Außer durch ein paar Notizen hat man nichts von diesem Buch erfahren, in welchem nebst der wunderbaren Geschlossenheit eines Schauspielerlebens, vor dem der faule Zauber aller Ensembles schwindet, in einer Reihe konventioneller Briefe die ganze Tragödie der Burgtheaterherrlichkeit, der ganze Dahingang einer edlen Bühnenkultur, der ganze Abstieg der Wiener Gesellschaft beglaubigt ist. Und nebstbei noch dargetan, daß Aristokraten von 1860 bis 1890 ein besseres Verständnis für die Dinge zwischen dem Geist und der Szene hatten als Literaten von 1914. Man hat allzu wenig von einem Buch gehört, aus welchem ein Ritter spricht, an dem man immer wieder mit Staunen gewahr wird, daß er eigentlich ein Hofschauspieler ist, aber den zu ehren Fürsten eine Ehre war; ein Schauspieler, der weit voran der nachkommenden Standesmittelmäßigkeit, die auf soziale Geltung sieht, doch so wenig komödiantische Eigenschaften gezeigt hat, daß man an seinem Schauspielertum zweifeln müßte, wenn man nicht eben wüßte, daß er diesem, nur diesem seine ganze Reinheit aufbewahrt hat. Von einem Buch, das selbst dann wertvoll wäre, wenn es, ohne die Erinnerung an einen vorzüglichen Mann festzuhalten, bloß als eine Sammlung theater- und kulturhistorischer Dokumente in Betracht käme. Das aber schon durch einen einzigen Brief jene Weihe zu fordern und zu empfangen scheint, welche die Überlebenden der Persönlichkeit Adolf Sonnenthals schuldig bleiben. Der 86jährige La Roche übermittelt — 1880 — dem Jüngeren, der in München reichen Erfolg hatte, die Grüße Elisabeth Marrs. »Die Frau Heinrich Marrs«, sagte sie, »läßt ihn grüßen .... Es tat mir wohl, ihn spielen zu sehen, denn ein edler Hauch weht uns aus seinen Darstellungen entgegen!« Und La Roche fährt fort:

Daß Sie große Sensation in München machen würden, wußte Carl La Roche vorher, und wo denn nicht?!

Aber, lieber Adolf —

NB. »Sparsam nur die Lippen naß gemacht
Hält stets in Amors Diensten Euch in Ehren —
Allzu rasche Spende
Macht dem Lied ein Ende,
Und wenn Seufzer winken,
Wird der Muth Euch sinken —
Darum sparsam etc. etc.«

Diese Lehre habe ich in der alten Oper »Hieronimus Knicke« vor 68 Jahren in Danzig gesungen — und stets befolgt!! Aber — jetzt ist es aus, ich bin fertig. Man sagt zwar, daß mit dem 86. Jahre, welches ich am 12. Oktober in Aussicht habe, die wahre männliche Kraft wieder eintrete, aber ich glaube nicht daran, zumal ich dieses Alter auch nicht erreichen werde, denn es geht mir wirklich miserabel und ich habe allen Muth verloren. Alt werden und nicht gesund dabei, soll der Teufel holen!

Raimund sang:

»Scheint die Sonne noch so schön,
Einmal muß sie untergehn!
Brüderlein fein,
Mußt nicht traurig sein!«

Ja, der hat gut singen, er hats überstanden. —

Mir schien die Sonne auch oft hell und schön und müßte ich ein undankbarer Hund sein, dies nicht anzuerkennen ....

Nun, lieber Sonnenthal, ruhen Sie ein wenig aus auf Ihren neu er worbenen Lorbeeren und schonen Sie sich nach Möglichkeit ....

Der Baumeister, der Bildhauer, der Maler kann von seinem Kunstwerke sagen: »Dies ist, und es wird sein« — Nicht so der Schauspieler. Nur das Aufgebot aller seiner Kraft gewährt seinem Kunstwerk Vollendung. Jedes reißt ihn näher an das Grab — das sagt nach jeder kräftigen Darstellung die keuchende Brust, seine klopfenden Pulse und das erschütterte Nervensystem, ohne daß er sich rühmen könnte: »Dies wird sein! —« Sein Kunstwerk geht dahin, wie das Lächeln über das Gesicht eines Menschen. Drum rede der Freund und der Bewunderer eines seltenen Talents ein dankbares Wort von dem, was gewesen ist! —

Warum sollte diese ehrwürdige Handschrift, die unter liebenswürdigen Weisheitslehren Selbstbescheidung in einem erhabenen Tonfall findet, nicht besser und aufhebenswerter sein als das viele Geschmier und Geschwätz, mit dem eine altersschwache Jugend das Theater überschätzt, um es in seinem Urwert zu verkennen? Es ist, als ob in diesen Sätzen ein Laut von jenem Heros selbst verhallt wäre, unter dessen Führung der Schreiber in Weimar den Mephisto studiert hat. Und sie sind an einen Mann gerichtet, der siebzig Jahre später in Weimar der großherzoglichen Familie den Faust in dem Fauteuil vorliest, »in welchem, wie die Großherzogin freundlich aufmerksam macht, Goethe selbst immer während seiner Vorlesungen gesessen hatte«.

Drum rede der Freund und der Bewunderer eines seltenen Talents ein dankbares Wort von dem, was gewesen ist. Die Weisung La Roche’s, in so alten Worten so neu gefühlt wie nur Iphigeniens Abschied, hat eine dankbare Überlebende noch einmal an den Schluß des Buches gesetzt. Und damit fassen wir — im Angesicht der uns umgebenden Gewandtheit — Mut zum Schmerz darüber, daß Sonnenthals Thräne nicht mehr fließt. Und daß dieser große Chor unserer Jugendbühne verstummt ist, ohne den Jugend zu haben uns heute nicht mehr denkbar scheint: Die Glocke, die Charlotte Wolter hieß; der Hammer, der mit Lewinskys Rede das Gewissen schlug; und einer Brandung gleich die Stimme des Cyklopen Gabillon; Zerlinens Flüstern; und Mitterwurzers Wildstroms Gurgellaune; eine Tanne im Wintersturm jedoch war Baumeisters Ruf; und schwebend, eine Lerche, stieg des jungen Hartmann Ton, vermählt dem warmen Entenmutterlaut Helenens; und Hagel, der durch schwülen Sommer prasselt, Krastels Sang; und edlen Herbstes Röcheln Roberts Stimme. Und Sonnenthals: die große Orgel, die das harte Leben löst. Und all der Sänger Stimme und Manier, die noch verstimmt, von so eindringlichem Geiste war, daß sie bewahrt sei gegen alles Gleichmaß, womit die Narren der Szene und der Zeit die lauten Schellen schlagen!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 391/92, XV. Jahr
Wien, 21. Januar 1914.


  1. Nach den Originalen herausgegeben von Hermine von Sonnenthal, mit zwei Bildnissen in Gravüre, 24 Einschaltbildern und einem Brieffaksimile.