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Juli 1914

Sehnsucht nach aristokratischem Umgang

In anonymen Briefen und in noch weniger zuverlässigen Druckschriften, die bekanntlich so entstehen, daß ein Gerücht eine Maschine in Bewegung setzt, wird mir jetzt ein eigenartiges und offenbar einträgliches Doppelspiel, das ich, ein »Schauspieler der Ethik«, seit langer Zeit betreibe, nachgewiesen. Ich aspiriere, heißt es, »mit großem Ehrgeiz auf aristokratischen Umgang und sei sehr stolz darauf, daß sich in meinen Vorlesungen« — vermutlich sind die Prager Vorlesungen gemeint — »einige Mitglieder des ganz reaktionären Provinzadels blicken ließen, die natürlich die angeblich linksradikalen Angriffe auf die jüdischen Liberalen, Bourgeoisie und Neue Freie Presse mit sehr rechtskonservativem Wohlbehagen anhörten«. Ich habe hier nicht den Provinzadel, zu dem sicher die nur in der Provinz begüterten Familien Lobkowitz u. dgl. zählen, gegen eine Zurücksetzung hinter den Großstadtadel (Pollack von Parnegg, Rappaport von Porada, Eisner von Eisenhof) zu verteidigen. Ich habe nur mich selbst gegen den Verdacht einer zweideutigen Politik zu behaupten. Ich gebe zu, daß dies nicht allzu leicht sein wird, da der Schein gegen mich spricht; aber auch den Willen, es zu versuchen, muß man gelten lassen. »In seiner bekannten Ehrlichkeit wird sich K.«, heißt es allerdings etwas vorschnell, »hüten, dieses Mißverständnis aufzuklären«. Vielmehr folge er »höchst geschmeichelt den Einladungen zu feudalen Privatgesellschaften, wo man sich das Vergnügen nicht entgehen lassen will, den jüdischen Antisemiten und ganz tollkühnen, aber in Anbetung des Landjunkertums gelandeten Revolutionär aus der Nähe zu besehen«. Es sei ja von mir zu erwarten gewesen. »K., dieser Schauspieler der Ethik, war ja nie wählerisch in Bezug aufsein Publikum. Zuerst war er glücklich über den Beifall derselben Juden und Journalisten, die er in seinen wütenden Satiren angeblich verachtete. Jetzt ist er immerhin zum Hofnarren avanciert.« Die Zukunft sei leicht vorauszusehen: »seine radikalen literarischen Freunde, aber auch alle, die Religion und klerikale Feudalherrschaft nicht identifizieren, werden ihm den Rücken kehren«, und er wird »zum literarischen Hausjuden des Grafen X. emporsteigen«.

Das wird das Ende eines Menschen sein, der unersättlich nach gesellschaftlichen Vorteilen, nur durch ein fortwährendes Versteckenspielen eine Zeitlang den Beifall zweier unvereinbaren Welten einheimsen wollte, um schließlich doch sich für eine entscheiden zu müssen und für die schlechtere sich zu entscheiden. Es ist eine auf die Dauer unhaltbare Zweideutigkeit, im Literaturcafe unter allerlei Vorwänden auszubleiben, um sich zu einer feudalen Privatgesellschaft zu schleichen, wo man nur unter der Bedingung geduldet wird, daß man entweder seine jüdische Abstammung verschweigt oder mit dem Geheimnis seiner Herkunft auch deren Geheimnisse verrät. Daß ich je nach der Situation, die sich bei so einer feudalen Privatgesellschaft ergibt, mehr geschwiegen oder verraten habe, ist mir ohneweiters zuzutrauen, und zumeist habe ich wohl beides zugleich getan. Ich habe das Judentum unterm Wert verkauft, für eine Einladung verraten und selbst beim Essen verleugnet, und wenn es mir die Judenbuben in den Zeitschriften nicht vorgeworfen hätten, so hätte man nie erfahren, welcher Abstammung ich sei, und mein Verrat noch war jenes feige Schweigen, das den eigenen Geburtsschein fälscht, um den fremden zu verspotten. Nie hatte ich ja, um nicht später in eine unangenehme Lage zu kommen, in meinen Schriften über den Judenpunkt Farbe bekannt; wenn ein Ariofanatiker wie Lanz v. Liebenfels wüßte, daß ich doch e Jud bin, hätte er nicht behauptet, daß ich eigentlich doch keiner sei; und es ist klar, daß die Welt, in die ich hineinstrebe, um ein trügerisches Ansehen zu erraffen, vor einer Enthüllung steht, während die radikalen literarischen Freunde, deren Geburtsschein die erste und die letzte Wahrheit ihres Lebens sagt, mir den Rücken kehren, erstens, weil sie mich verachten, zweitens um mir zu beweisen, daß der gelbe Fleck bereits abgeschafft sei. Wie soll ich das nur abwenden? Kein Zweifel, es gärt. Die radikalen literarischen Freunde, die noch ahnungsloser waren als die feudalen Privatgesellschaften, sind endlich aufmerksam geworden, denn sie können zwar schreiben, aber nicht lesen und haben darum in fünfzehn Jahren nicht gemerkt, daß ich die Pest weniger hasse als meine radikalen literarischen Freunde. Sie haben meine Angriffe auf die jüdischen Liberalen, auf Bourgeoisie und Neue Freie Presse für linksradikal gehalten und nicht geahnt, daß sie, wenn ich überhaupt etwas will und wenn sich das, was ich will, auf eine staatsverständliche Formel bringen läßt, im höchsten Maße rechtsradikal sind. Sie haben geglaubt, ich sei ein Revolutionär, und müssen nun erfahren, daß ich noch nicht einmal bei der französischen Revolution angelangt bin, geschweige denn im Zeitalter zwischen 1848 und 1914, und daß ich die Menschheit mit Entziehung der Menschenrechte, das Bürgertum mit Entziehung des Wahlrechts, die Juden mit Entziehung des Telephons, die Journalisten mit Aufhebung der Preßfreiheit und die Psychoanalytiker mit Einführung der Unterleibeigenschaft regalieren möchte. Nicht was schwarz unter den Fingernagel geht, haben sie es geahnt, und nun fällt es ihnen wie Schuppen von den Haaren. Sie haben entweder die aufschlußreichsten Nummern der ›Fackel‹ versäumt, weil diese gerade in der Hand oder nur gestohlen war, oder auch nicht gemerkt, daß der tausendste Teil meiner — angeblich — linksradikalen Glossen, auf eine im Staat geläufige Tendenz herabgesetzt, einen Rechtsradikalismus1 propagiert, gegen den tausend Jahrgänge von tausend klerikalen Zeitungen die Sprache einer Protestversammlung des Monistenbundes zum Schutze reisender Kaufleute führen. Sie haben nicht gehört, daß mir ein verhängter Himmel, dem eine Weltanschauung erspart bleibt, immer noch besseren Trost bringt als eine freie Erde, die zum Himmel stinkt. Es ist ihnen entgangen, daß ich untröstlich bin, die Machtmittel der Staaten nicht gegen den Zerfall der Völker aufbieten zu können, und nur zufrieden in der Gewißheit, daß dem auf den Glanz hergerichteten Menschheitspofel, der jetzt allerorten zu sehen ist, der große Ausverkauf bevorsteht. Solche Stimmungen, Ahnungen, Hoffnungen habe ich, wenn’s meine linksradikalen literarischen Freunde nicht merkten, heimlich aus Hirn und Herz direkt ins Heft übernommen. Das aber haben sie zum Glück verpaßt, überschlagen oder nicht verstanden, und sind jetzt fataler Weise aufmerksam gemacht worden. Ich brauche solche Leser, ich streiche, da mich aus der Verzweiflung nur meine Eitelkeit rettet, ihren gedankenlosen Beifall ein, und muß fürchten, ihn jetzt zu verlieren. Ich sammle ja Anhänger, von welcher Couleur und welchem Mißverständnis ich sie immer beziehe. Ich bin ja ein Verbindungsmensch ohnegleichen. Ich gehe im Kaffeehaus von Tisch zu Tisch und grüße die Leute zuerst, als ob ich der Kaffeesieder selber wäre, und sehe es gern, wenn dieser die ›Fackel‹ hält. Stets noch habe ich einen Parteigegner umzustimmen gesucht — ich krieche vor Aristokraten —, und nie habe ich einem Anhänger gesagt, er möge mich unbehelligt lassen. Nie auch habe ich mir einen linksradikalen Redakteur durch Verweigerung der Erlaubnis des Nachdruckes rechtskonservativer Artikel binnen eines Quartals aus einem Bewunderer in einen Todfeind verwandelt, der sogar imstande war, meinen Gesinnungswechsel zu enthüllen. Und wenn ich eine Vorlesung halte, habe ich beide Parteien in der Tasche. Der Verlauf dieser Abende ist immer der nämliche: so oft ich die Chinesische Mauer lese, rufen die einen: »Bravo! Das war wieder einmal linksradikal!«, während die andere Gruppe ihre rechtskonservativen Anschauungen schmunzelnd erkennt, ohne daß in der Pause oder nachher eine erbitterte Einigung auf mein Parteiprogramm erfolgte. So manövriere ich geschickt zwischen den Parteien, die ich mir beide, solange es geht, tributpflichtig erhalte, während von rechts- und linkswegen die Gegensätze über meinem Kopf radikal werden müßten. Ich suche die Freundschaft, aber ich suche auch die Gesellschaft. Lange Jahre habe ich mich bei der jüdischen und journalistischen lieb Kind gemacht und deren Beifall auf der Habenseite gebucht; jetzt, da ich wegen meiner Satiren auf Judentum und Journalistik in ihrer Gunst fest genug zu sitzen glaube, folge ich beherzt den Einladungen zu feudalen Privatgesellschaften und aspiriere mit großem Ehrgeiz auf aristokratischen Umgang.

Was kann ich gegen diese Feststellung anderes vorbringen, als daß sie wahr sein könnte, wenn die feudale Gesellschaft und der aristokratische Umgang so weit wären, meiner würdig zu sein? Das Zeug dazu — und wenn Legionen von radikalen literarischen Freunden mir den Rücken, ja selbst das Gesicht kehren wollten, ich bekenne es — das Zeug dazu hätten sie, solange Nichtstun davor bewahrt, Übles zu tun, und bliebe nur ihr Dasein unberührt von einer zeitlichen Gemeinheit, die auch den Grafen zum Jobber macht und die das Geschmeiß der öffentlichen Meinung den Triumph des Fortschritts bejubeln läßt, weil der Träger einer gutgebornen Nase endlich eine Börsenkarte gelöst hat. Ja, ich aspiriere auf aristokratischen Umgang; aber ich, ewig unbelohnter Streber, finde ihn so selten. Wenn irgendwo, ist hier ein Rest Hoffnung auf eine Jugend, die sich der Häßlichkeit abwendig machen ließe, wenn irgendwo könnte ich hier den Versuch wagen, das Unerfüllbare in die Umgangssprache des Lebens, der Politik, ja der Gesellschaft umzusetzen. Mir, der weiß, daß die Empfindungen eines Stallköters erhaben sind über der Ausdrucksfähigkeit eines kosmisch interessierten Literaturgesindels, und der von Staatswegen einen Kommerzienrat zwingen möchte, einem Stallknecht zu dienen, mir sollte füglich nicht verübelt werden, daß ich dort, wo ich vergebens aristokratischen Umgang suche, auf anderen verzichte! Ich dringe nicht bis zu Wohltätigkeitsbazaren vor, wo Parvenüs nach unten um die Gunst von Handeljuden buhlen. Daß ich trotzdem hinreichend verdächtig bin, aristokratischen Umgang zu suchen, müßten meine radikalen literarischen Freunde längst heraushaben: denn den ihren fliehe ich. Der Typus ist lebensgefährlich. Er ist die Pest, die sich des Daseins freut und jeglichem Bazillus außer dem eigenen auf der Spur ist. Sein Blick löst Welträtsel und dreht Gottes Geschöpfen den Magen um. Er analysiert mir den Traum, in den mein Ekel vor ihm flüchtet. Er weckt mich und ich suche einen König, der eine Bombe hätte für diesen allzu klugen Untertan. Ich weiß, was auf dem Spiel steht: Rettet unsere Seelen! Ich weiß und bekenne — und auf die Gefahr hin, fortan ein Politiker zu sein oder gar ein Ästhet, oder beides —: daß die Erhaltung der Mauer eines Schloßparks, der zwischen einer fünfhundertjährigen Pappel und einer heute erblühten Glockenblume alle Wunder der Schöpfung aus einer zerstörten Welt hebt, im Namen des Geistes wichtiger ist als der Betrieb aller intellektuellen Schändlichkeit, die Gott den Atem verlegt!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 400–403, XVI. Jahr
Wien, 10. Juli 1914.

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April 1922

Nachwort

Die in diesem Zusammenhang von den radikalen literarischen Freunden mißdeutete, aber nicht ihnen zuliebe, sondern aus stilistischen Gründen beseitigte Wendung »Konservatismus von einer Blutbereitschaft« hat neben der Ankündigung, daß »dem auf den Glanz hergerichteten Menschheitspofel der große Ausverkauf bevorsteht«, mich in den Augen jener zwar als einen Propheten des Weltkriegs bestätigt, aber als einen solchen, der ihn herbeigewünscht habe. In Wahrheit bin ich hier nur ein schlechter Prophet des Zustands gewesen, der auf den Weltkrieg gefolgt ist, indem leider Gottes nicht der Ausverkauf des Menschheitspofels stattgefunden hat, sondern dessen Bereicherung an der ruinierten Menschheit. (Wiewohl ich schon früher eben dies gewußt hatte: »Die Unbesiegten sind die, die nicht in den Krieg ziehen«.) Daß nicht die Menschheit, sondern eben deren Pofel als solcher bezeichnet war — indem »Menschheit« als der weitere Begriff hier wirklich in einem Abhängigkeitsverhältnis zum »Pofel« steht —, das konnte nur der Literatur entgehen. Wäre es anders, so hätte ich ja den »Zerfall der Völker«, an dem ich jenem die Schuld gab, gewünscht und nicht beklagt. Der »König, der eine Bombe hätte für diesen allzu klugen Untertan«, ist gleichfalls ein Opfer des radikalen Schwachsinns geworden und obschon er datumgemäß nur die Metapher auf eine reale Bombe war, geradezu mit jenen »Königen« verwechselt worden, als die sich bald darauf die bomben-beladenen Fliegeroffiziere vorkamen, mit jenen Teufeln, die ich wohl zu schnell verleugnet hätte, um sie liebevoll an die Wand gemalt zu haben. Doch alles in allem muß den überzeugten Flachköpfen zugestanden sein, daß auch hier — soweit dem unerschütterlichen Ressentiment gegen sie ein positives Bekenntnis abzunehmen war — ein »Widerspruch« offenbar wird, dessen Erlebnis freilich wertvoller ist als die Intelligenz, die ihn erfaßt. In der Abschätzung ihres Lebenswertes ergibt sich keiner. Denn der Menschheitspofel bleibt was er ist, wenn seine Bestrebungen auch schon solche Sphären erfaßt haben, die — dank der Erfahrung an erfreulichen Ausnahmen — noch einen »Rest Hoffnung« zu gewähren schienen. Die Katastrophe hat die Ansicht vom Wert einer schönen Fassade berichtigt und die Grundanschauung bestätigt, die in den öden Fensterhöhlen das Grauen wohnen sah.


  1. Siehe das Nachwort.