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März 1913

Die europäische Kultur hält ihren Einzug

Neue Freie Presse, 11. März 1913:

[Lehar in Tripolis.] Der ›Corriere della Sera‹ bringt eine Nachricht, die sicher einiges Interesse finden wird. In Tripolis wurde dieser Tage das erste Theater eröffnet, und zwar mit Franz Lehars »Eva«. Es war ein sehr großer Erfolg, und sowohl die italienischen Regierungsvertreter, Offiziere und Beamten, als auch das einheimische Publikum haben sich glänzend unterhalten. Aus dieser Tatsache gehen zwei erfreuliche Momente hervor. Man erfährt aus ihr, daß in der Wüstenstadt nach dem langwierigen Krieg wieder ganz behagliche Zustände herrschen und daß endlich europäische Kultur dort ihren Einzug hält. Die Dinge haben sich blitzschnell entwickelt. Vor ein paar Jahren war dieses Tripolis noch ein sonniges, staubiges Wüstennest, in dem die arabischen Muselmänner nicht die geringste Ahnung von der Köstlichkeit einer Theateraufführung hatten, und nun sind sie mitten drinnen im Vergnügen, können sich allabendlich an Leharscher Musik begeistern und ihre braunen Köpfe im Takt zum »Eva«-Walzer wiegen. Vielleicht werden sie darüber alle Revanchegelüste und die Trauer um den Verlust des Landes vergessen. Aber auch vom höheren politischen Standpunkt ist der Einmarsch Lehars in Tripolis sehr erfreulich. Man hätte schließlich auch mit Mascagni den Anfang machen können, war aber artig genug, dem Wiener Komponisten den Vortritt zu lassen. Eine Courtoisie, die symptomatisch ist. Übrigens haben die Italiener dadurch gezeigt, daß sie wahrhaft Realpolitiker sind. Sie haben sich eine Musik gesucht, von der sie glauben konnten, daß sie auch den ungeübten arabischen Ohren lieblich erklingen werde. Lehar zieht überall, warum also soll er nicht auch in Tripolis ausverkaufte Häuser machen? Der eingeschlagene Weg ist gut und muß fortgesetzt werden. Wenn man abends »Die lustige Witwe« und »Den Mann mit den drei Frauen« genossen hat, so ist man nachher sicher nicht mehr zur Revolution aufgelegt, abgesehen davon, daß es mit der Zeit auch den kleinen italienischen Theatermädchen gelingen kann, die Beziehungen zu den Eingebornen inniger zu gestalten. Jedenfalls lehrt aber die ganze Geschichte, daß auch der Krieg seine Segnungen haben kann. Denn — man denke nur — wenn die Italiener Tripolis nicht erobert hätten, wo würden die Tripolitaner jemals etwas von Lehar erfahren haben!

Warum solln sie sich nicht amüsieren, die Tripolitaner, recht ham sie. »Allah, wenn man so zurückdenkt« — sagte ein arabischer Kommerzialrat im Parkett nachdenklich vor sich hin — »vor ein paar Jahren war das noch ein sonniges, staubiges Wüstennest, und jetzt hat ma die Lustige Witwe!« Er versank in Träumerei. Die Gattin neben ihm, die immerzu ihren Kopf im Takt wiegte, sagte: »Abdullah mein Gold, bist du traurig über den Verlust des Landes?« »Laß mich in Ruh mit solche Narrischkatn«, sagte er und sann vor sich hin. Sie aber wiegte ihren Kopf im Takt und summte: »Dort bin ich sehr intim ...« Ein junger arabischer Konzipient, der etwas an Treumann erinnerte, näherte sich und bemerkte: »Was sagen Sie zum Duett, gnädige Frau? Fesch, was? Ich sag Ihnen, es gibt nur ein Wien. Einen Karczag braucheten wir zum Aufmischen! Wenn wir den haben, pfeif ich auf Mohammed.« Der alte Araber sagte: »Nu, ’s is ein intressantes Stück ...« Die Gattin meinte: »Eigentlich muß man froh sein, daß die Italiener das Land erobert haben. Schön mopsen möcht ma sich heut ohne ihnen.« »Fatme, du bist gerecht«, versetzte der Kommerzialrat, »aber wart ab die Kritik, sag ich dir.« »Du wirst sehn, sie wird großartig sein. Ich bin wirklich froh, daß wir besiegt sind. Da haben wir einen Treffer gemacht.« »Wissen Sie nicht von wem das Programm ist?« fragte der arabische Konzipient, indem er die Gelegenheit benützte, Fatme feurig anzublicken. »Ich glaub, von Batka Bey. Er verdient hübsch«, sagte Fatme. »Sprech nicht so laut im Theater, sonst gibt Karpath Effendi dich hinein in die Unarten und Rücksichtslosigkeiten.« »Liegt mir stark auf. Is das nicht Korngold Pascha, der dort siehst du, der in den dort hineinredt?« »Ob ich seh. Wahrscheinlich spricht er wegen dem Buben, recht hat er.« »Geschmacksache«, versetzte der junge Araber, »ich finde, daß er eine Pascha-Wirtschaft etabliert.« »Was denn soll er, genieren wird er sich«, warf Fatme hin, »wenn er nicht einmal das davon haben soll, daß er Kritiker is? Er tuts doch für das eigene Kind?« »Das ist wahr. In Wien sollen sie sich noch weniger genieren.« »Natürlich«, bejahte Fatme, »und wir müssen trachten, uns ein Beispiel zu nehmen in jeder Hinsicht. Wien hab ich mir sagen lassen ist bekanntlich das Mekka der Librettisten.« »Und das Wasser was sie dort haben sollen!« bemerkte Abdullah. »Apropos«, versetzte der Konzipient, »haben Sie schon gehört, daß wir ein Telephon streng nach Wiener Muster bekommen —« »Ich hör gar nichts. Ich bin außer Verbindung.« »Unterbrechen Sie mich nicht. Das Störungsbureau soll eine Sehenswürdigkeit werden. Und wissen Sie schon, von wem die neuen italienischen Uniformen entworfen sind? Von Meister Schönpflug! Nämlich eine Kriegslist. Man verspricht sich, daß uns übel wird beim geringsten Aufstand.« »Aber was tut Allah, sind wir begeistert! Wir haben den Wiener Geschmack.« »Apropos, Herr Kommerzialrat, was is mit der Revolution morgen? Mir scheint es steht mies.« »Das hätt ich Ihnen im Voraus sagen können. Und warum? Unsere Leut sind alle bei der Lustigen Witwe. Bittsie heutzutag! Revolution zieht nicht. Passen Sie auf, wie das Land aufblühn wird unter Lehar. Warum soll er nicht auch in Tripolis ausverkaufte Häuser machen, recht hat er. So wahr ich Abdullah heiß, 600 mal en suite, in arabischen Ziffern! Lassen Sie jetzt nur noch den Rastelbinder geben und keine Katz denkt mehr an das Vaterland. Schaun Sie sich Österreich an. Die hätten auch Krieg führen sollen, aber sie sind gewitzigt und gehn lieber hinein in die Eva. Die singen überhaupt den ganzen Tag. Wie Rußland gedroht hat, haben sie einfach gesagt: Pipsi, holde Pipsi — und die Entspannung war fertig. Ich sag Ihnen, hätte Schükri Zigeunerblut geben lassen, rechtzeitig, hätten wir heut noch Adrianopel! Nein, etwas e Heldentod muß er sterben!« »No, Herr Kommerzialrat, aber im Notfalle werden Sie sich, wie ich Sie kenne, auch nicht ausschließen.« »Sagen Sie! Ich aber sag Ihnen, wenn man abends die Lustige Witwe gehört hat, is man früh nicht mehr aufgelegt zur Revolution Fatme, Schnitzler grüßt aus der Loosch, grüß zurück.« »Ja richtig, wissen Sie schon das Neueste? Der Professor Bernhardi wird aufgeführt! Der Wali, wie Sie wissen, hat es verboten, aber Heller aus Wien kommt eigens und führt es auf. Er hat sich geäußert, wenn der Wali sich auf den Kopf stellt, er laßt es sich nicht nehmen, Kultur nach Tripolis zu tragen.« »Tüchtiger Mensch! Haben Sie gelesen, wie ihn der Fackelkraus angegriffen hat?« »Was hat er gegen Heller?« Hier warf Fatme ein: »Ah du meinst den, der was immer nur zerstören und nix aufbauen kann?« »Ja, den mein ich«, sagte Abdullah; »Sehn Sie, in allem stehn wir doch heut schon so da, daß wir uns mit Wien vergleichen können. Aber Allah behüt, um diesen Vogel beneiden wir sie nicht, die, wie heißt mer sie nur — die Phäaken!« »Was sagst du Phäaken? Phaiaken, sagt Harden, sagt man.« Hier warf Abdullah ein: »Ah du meinst den, der was die greßeren Themas hat?« »Ja, den mein ich«, sagte Fatme. »Sie müssen nämlich wissen, Doktor, meine Frau schwärmt für Harden! Er sagt statt Tripolis Dreistadt, und dos is ihr Geschmack.« »Das is aber auch fesch«, schmunzelte der junge Araber, »aber wissen Sie, über den Fackelkraus kann ich Ihnen etwas verraten, was hier in Tripolis noch niemand weiß. Warum glauben Sie schimpft er ineinemfort auf die Neue Presse?« »Was, auf die Presse schimpft er, die so angesehn is im Ausland, der Lump?« »Und wie! Also warum schimpft er? Raten Sie! Weil er nicht hineingekommen is!« »Was Sie nicht sagen! Aber woher wissen Sie?« »Woher? Weil es doch klar is, daß man das doch sonst nicht verstehn könnte! Wenn er hineingekommen war, möcht er doch nicht schimpfen?« »Das seh ich ein.« »Wenn wir in der Situation wären, wir möchten auch schimpfen! Aber passen Sie auf, wenn er hineinkommt, gibt er Ruh.« »Das glaub ich auch.« »Wenn wir hineinkommen möchten, wir möchten doch auch Ruh geben?« »Selbstredend. No aber — kommt er hinein?« »No kommt er hinein? Konträr, so schimpft er weiter.« »Intressant. Sie wissen es also ganz sicher?« »Authentisch. Wie ich letzten Sommer in Wien war, hat ganz Wien davon gesprochen. Die Toilettefrau im Imperial hat gesagt, daß sie es direkt von einem Polyhistor weiß, der alles weiß und dort viel verkehrt.« »Was Sie nicht sagen! Also hörst du, sie weiß es von einem, der viel weiß und alles verkehrt. Intressant. Und weiß er es selbst — er?« »Wer?« »Der Fackelkraus!« »Er weiß es auch, aber er will nicht, daß man es ihm sagt. Er macht scheint es ein Geheimnis daraus. Er soll sich einmal geäußert haben, er klagt jeden, wer es erzählt.« »Es is also bei Gericht erwiesen?« »Es is erwiesen.« »Fatme, was sagt man, es is erwiesen!« »Bei Allah«, rief Fatme, »wenn es erwiesen is und wenn ich nicht täglich jetzt zur Lustigen Witwe gehn müßt, ich fahret auf der Stelle nach Wien —« »Schrei nicht, Karpath hört!« »Laß mich, in dem Fall wird er entschuldigen, ich fahret nach Wien so wahr ich da leb nicht ausstehn kann ich den Kerl und möcht ihn anspucken! Das ist doch das Geringste, wo Wien so viel für uns getan hat!« (Das Orchester intoniert: »Ich bin eine anständige Frau« und während die braunen Köpfe sich im Takt wiegen, hebt sich der Vorhang.)

Vgl.: Die Fackel, Nr. 372/373, XV. Jahr
Wien, 1. April 1913.