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Juli 1913

Und Hauptmann dankt

Breslau, 13. Juni. Die ›Schlesische Zeitung‹ bringt die Nachricht, daß der Kronprinz als Protektor der Breslauer Jahrhundertausstellung sich nach der Lektüre des Hauptmannschen Festspiels darüber in entschiedener Weise ablehnend geäußert habe. Die ›Schlesische Zeitung‹ hat auch Anlaß anzunehmen, daß der Kronprinz die zuständige Instanz von seiner Auffassung in Kenntnis gesetzt habe und daß er bereit sei, die Konsequenzen zu ziehen.

Hauptmann darf sich über diesen Tadel mit dem Bewußtsein trösten, daß er, indem er die Sympathien der Reaktionäre sich verscherzt, diejenigen aller Unabhängigen und Freigesinnten im Lande sich erworben hat. Wenn er auch durch seine dichterische Leistung wieder einmal enttäuscht hat, so hat er doch durch seine Gesinnung die Erwartungen gerechtfertigt, die man auf den Dichter der »Weber« setzen durfte und man muß es ihm danken, daß er auch als Verfasser eines vaterländischen Festspieles ein aufrechter Mann geblieben ist.

Wenn Gerhart Hauptmann, nachdem er alle an ihn gerichteten Telegramme sämtlicher Lese- und Redehallen, Monistenbünde, Kultusgemeinden und Gesinnungsgremien persönlich beantwortet hat, die Situation überblickt und dann nicht zu der Einsicht kommt, daß die Unzufriedenheit des Kronprinzen seiner Künstlerwürde weniger nahetritt als die Zufriedenheit des Paul Goldmann, dann müssen wir ihn wohl aufgeben. Dann liegt der Fall vor, daß einem edlen Dichtertum die Kraft gefehlt hat, sich ohne die peinlichste Gemeinsamkeit zu behaupten und jenen erhabenen Mangel an Gesinnung zu bewähren, der jede Verbindung mit liberalen Journalisten unerträglich macht. Dann ist entweder eine von Kunst nicht ganz gedeckte Menschlichkeit von der Phrase gekapert worden oder ein vom Leben verlassenes Artistentum sucht, wie jener Fichtenbaum an die Palme, Anschluß an die Politik. Die zweite Wendung ist die Normalkatastrophe des großstädtischen Literatentums; Hauptmanns Fall dürfte das naivere Schicksal sein. Hier wie dort empfangt die Gesinnungstüchtigkeit einen verlorenen Sohn mit offenen Armen, freut sich, daß er nicht mehr »l’art pour l’art« treibe und hält Gott, der es weiterhin ablehnt, statt Menschen Politiker zu erschaffen, für einen unverbesserlichen Ästheten. Hauptmann war so sehr Dichter, daß selbst ein Gesinnungsstoff wie der der »Weber« ihn nicht in die Gefahr bringen konnte, Gesinnung zu haben. Weil aber das kunstfremde Pack nichts außer dem Stoff schmeckt, so zog sich Hauptmann durch sein Hungerdrama die Sympathie der Goldmänner zu, die er sich später durch stofflich unsoziale Dichtungen bis zum Haß entfremdet hat. Dasselbe Verstandesbewußtsein, das immer bis irgendwohin noch mitgeht, jedoch nicht so weit, um einem Dichter eine Dichtung nicht übelzunehmen, und das »Pippa« und die »Ratten« mit den Eierschalen seines faulen Witzes bewarf, klopft jetzt dem Dichter für einen Beweis seiner Verständlichkeit auf die Schulter — und Hauptmann dankt. Der Mensch Gerhart Hauptmann bringt es über sich, den »Aufrecht- und Geradegesinnten«, bei denen alles bis auf die Nase aufrecht und gerade ist, die Hand zu drücken, die ihn für die Bekenntnisse heiliger Herzensnot geschlagen hat. Wenn dieser Fall nicht anzeigt, wo wir halten und wohin wir im Siegeslauf der Phrase, die Gott, Kunst und Menschenwert wie ihre schäbigen Bollwerke erobert, gelangen werden, dann hat die Phrase alle, die’s noch merken konnten, blind und taub gemacht. Könnte man noch lachen, dann müßte man’s vor dem Opfermut eines Dichters, in dessen Werke, dort, wo es ging, das Gesindel so viel Gesinnung gelegt hat, daß er sich endlich entschließt, sie zu haben.

Er hört nur noch auf Reden und spricht nur mehr im Ton von Dringlichkeitsanträgen des Fortschritts gegen die Reaktion. Er hofft, daß es »den Fängen der Parteipolitik nicht gelingen wird, das Antlitz der Wahrheit unkenntlich zu machen«: aber es ist nur die andere Partei gemeint und daß die eigene das Antlitz der Kunst unkenntlich mache, ist nunmehr politische Nebensache. Er merkt gar nicht, warum er so viel neue Freunde hat. Sie protestieren mit der einen Hand dagegen, daß sein Festspiel »statt vom künstlerischen vom politischen Standpunkt« kritisiert werde, und preisen mit der andern die Tendenz, die sie für die künstlerische Wertlosigkeit entschädigt. Politik ist ihrem Künstlersinn verhaßt, wenn sie die andern treiben: über die Mängel der Kunst hilft ihnen die Gesinnung, die sie selbst haben. Die Konservativen sagen, das Stück sei schlecht; darauf antworten die Liberalen mit Recht, das sei Politik, und finden das Stück gut, weil die andern sagen, es sei nur liberal. In solche Diskussion hat sich ein Dichter begeben. Er stellt seinen Kopf unter, wenn Biergläser fliegen. Er ist vom Geist zu den Intellektuellen übergetreten, und ehe er ins Volksbewußtsein einging, kam er in die Volksversammlung. Jetzt hat er ein paar tausend Freunde, weil er keinen hatte, der ihn verwundert ansah, als er den Antrag des Breslauer Magistrats zur Abfassung eines patriotischen Festspiels annahm. Der ihn fragte, ob er denn die Anreger nicht die Treppe hinuntergeworfen habe. Gerhart Hauptmann hört nicht, daß seine Freunde den Breslauer Magistrat an den »Auftrag« erinnern, den er dem Dichter gegeben habe, »das Stück zu dichten« — er hört nur das Lob seiner liberalen Gesinnung. Und Hauptmann dankt.

Sie berufen sich auf den deutschen Geist und auf das bürgerliche Gesetzbuch. Er aber hat sich einem Zweck attachiert, und es gibt keinen Respekt vor dem Geist, wenn es die Frage gilt, ob die Leistung dem Zweck entspreche. Ein Dichter dürfte eher Schuhe als Festspiele liefern, und der Auftraggeber hätte das Recht, ihn einen schlechten Schuster zu nennen. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Anregung des Bestellers die Inspiration durch den Genius nicht ausschloß. Gerhart Hauptmann mußte wissen, daß man für heutige Breslauer nicht Verse schreibt und daß das Ergebnis weder den Lieferanten, der aus einer toten Region seines Geistes schöpft, noch den Besteller befriedigen werde. »Nicht weniger als fünfmal«, heißt es, »hatte er die Mitteilung an den Magistrat von Breslau gelangen lassen, daß er das Festspiel lieber nicht schreiben wolle«. Wie kann ein Dichter etwas »lieber nicht schreiben« wollen, anstatt es lieber nicht zu schreiben? Wenn ein Festspiel gemacht werden soll, so hat der Dichter der »Weber« den Herren Lauffund Glücksmann nicht das Brot wegzunehmen, und wenn er fünfmal abgelehnt hat, umso schlimmer für ihn, daß er das sechstemal angenommen hat, anstatt dem Magistrat von Breslau zu sagen, er möge ihn gern haben und zu Ehren des Vaterlands die Pippa aufführen. Er muß sich jetzt den Hinauswurf gefallen lassen, den er damals unterlassen hat. Aber er sollte ihn nicht für eine schwerere Kränkung halten als die Einladung, die ihm widerfuhr. Wenn er sie angenommen hätte, um ins deutsche Heim, weil wir grad so gemütlich beisammen sind, revolutionäre Gesinnung einzuschmuggeln, wär’s eine Taktfrage. Von der Familie Honorar zu nehmen, um gegen sie im Geburtstagsgedicht zu polemisieren, ist vielleicht auch Vertrauens- und Vertragsbruch. Gerhart Hauptmann hat nicht sich vor dem Magistrat und den Magistrat nicht vor sich gewarnt und ist nun empört darüber, daß der Magistrat hereingefallen ist. Junker und Pfaffen sind nun einmal Junker und Pfaffen. Bürger sind Bürger und wollen ein Festspiel. Aber ein Dichter ist kein Dichter, wenn er es schreibt, und ein Festspiel, das er schreibt, ist kein Festspiel. Kriegervereine, die schließlich mehr Daseinsberechtigung haben als Journalistenvereine, Veteranen, die vielleicht ehrlichere Leute sind als Rezensenten, wollen es nun nicht vertragen, daß ihnen zur Feier der Freiheitskriege unter Beweis gestellt wird, daß der Krieg Mord sei, und daß man ihnen mit historischen Enthüllungen über den König von Preußen eine Begeisterung ausreden möchte, die nun einmal da ist und nur etwas Reizung durch poetischen Klingklang gebraucht hat. Solch vorhandenes Pathos, das von dem schlechtesten Vershandwerker am besten bedient wird, steht immer noch über dem Kunstgefühl von Tinterln, die von einem »geschändeten Kunstwerk« sprechen, wenn Besteller sich darüber beschweren, daß ihnen die falsche Tendenz geliefert wurde. Die journalistische Intelligenz, die nicht imstande ist, diesen einfachen Sachverhalt zu erkennen, macht sich über Kriegerverbände lustig, deren jüngstes Mitglied, das noch keine Schlacht mitgemacht hat, immerhin das Verdienst hat, noch keinen Kriegsbericht geschrieben zu haben.

... Auch Max Reinhardt befindet sich, was selbstverständlich ist, auf Seite der Opposition. Er ist gewillt, des Dichters Widersachern, die zugleich seine eigenen sind, ein Scharmützel zu liefern; er hat den gesamten Festspielfundus aufgekauft und wird das Spiel in Berlin, in seinem Hause zur Aufführung bringen. Man darf gespannt den Hindernissen entgegensehen, die man der Verwirklichung dieses Gedankens in den Weg rollen wird. Was wird alles mobil gemacht werden, Zensur und Kriegerverbände und Jägerwäsche und Veteranenkapellen; aber hoffentlich ist Reinhardts Energie auch diesmal stark genug ...

Er wird sich opfern für die reine Kunst. Er wird, wiewohl er im Bankfach aufgewachsen ist, ein Scharmützel liefern, als ob er einer vom Kriegerverband war. Er hat, weil er im Bankfach aufgewachsen ist, schon jetzt kein Opfer gescheut und den ganzen Fundus aufgekauft. Nichts wird er davon haben außer hundert volle Häuser. Aber er darf sich die Generalregie der Freiheit, diese ganze Müller-Meiningerei nicht entgehen lassen. Freiheit zieht, aber Freiheit mit Zensur zieht noch besser. Bis dahin hagelt es Kundgebungen. Die Ratten des Freisinns sind los. Alles, was fortschreitet und freimauert, alles, was Fahnen hat und Resolutionen anzettelt, ist zur Stelle. Aus Prag kommt eine sensationelle Meldung:

Die Lese- und Redehalle deutscher Studenten hat an Gerhart Hauptmann .... eine Zuschrift gerichtet, in welcher es heißt: ».... Und so drückt Zorn und Empörung uns die Feder in die Hand. Wir, auf deren Fahnen die Freiheit des Geistes und der Wissenschaft geschrieben steht und die wir in einem Lande leben, wo Haß und Heuchlertum gar manche häßliche Erfolge zu zeitigen vermochten, wir fühlen mit Ihnen. Wir wissen, was es bedeutet, wenn falsche Unterwürfigkeit und launische Willkür ungebärdiger Höflinge die Wahrheit in den Staub zu zerren vermag. Doch zu herbstem, bitterstem Ingrimm wächst unser Unmut, wenn wir vernehmen, daß gerade Gerhart Hauptmanns Kunst, dieses von dem stillsten, zurückgezogensten Dichterfürsten dem Vaterlande geweihte Werk Niedrigkeit und Unverstand zu weichen hatte.« Die Lese- und Redehalle richtete an Gerhart Hauptmann die Einladung, in Prag einen Vortrag zu halten.

Und Hauptmann dankt. »Mögen Sie nie alt werden in dem, worin Sie jetzt so erquickend jung sind.«

Der Ausschuß der Lesehalle hat diesen Dank Hauptmanns durch Anschlag ans Schwarze Brett zur Kenntnis der Mitgliedschaft gebracht.

Auch das wird telegraphiert. Gerhart Hauptmann wird wohl den Vortrag halten. Auch ich habe dort einmal einen Vortrag gehalten und ich weiß, was es bedeutet, wenn Jugend, die nicht falscher, nur echter Unterwürfigkeit fähig ist, mich in der Pause um hundert Autogramme anbettelt, meinen Namen in das Goldene Buch des Vereins einträgt, mich stürmisch zu einem zweiten Vortrag auffordert, und wenn dann die Freiheit des Geistes zaghaft wird, zurückweicht, sich davon schleicht wie die Bürger im »Egmont«, und sich nicht traut, den gewünschten Vortrag zu veranstalten, weil der zweitzurückgezogenste Dichterfürst, der Hugo Salus, etwas dagegen hat und weil deutsch gesinnte Jünglinge in einem Lande, wo Haß und Heuchlertum — bei den Tschechen! — gar manche Erfolge zu zeitigen vermochten, auf die Gefahr aufmerksam gemacht wurden, daß es ihnen in der Karriere schaden könnte. Es dürfte noch viel Schmalz aus einer Redehalle fließen, ehe Gerhart Hauptmann den Braten riecht. Der »Akademische Verband für Literatur und Musik« in Wien, eingedenk der Hermann Bahr-Feier und der »akademischen Traditionen von 1813«, begrüßt ihn. Und er dankt allen Geradegesinnten, die, wie er sich schon parlamentarisch ausdrückt, »in Breslau noch immer die erdrückende Mehrheit bilden«, »allen aufrecht gesinnten Herren« und besonders dem Herrn Ablaß — die Männer der fortschreitenden Entwicklung heißen in der Regel Zulauf und Ablaß —, und er versichert ihnen, daß die Ehrenstellung, die ihm der Liberalismus eingeräumt hat, identisch sei mit einer »Mission, die ihm das Fatum zuteilt«. Sein Wahlspruch sei: »Geh deines Weges gerade, schenken wird sich dir Gnade«. »Womit ich aber«, fügt er hinzu, »nicht die Gnade von irgend jemand außer Gott meine, der allein sie zu vergeben hat.« Und Gerhart Hauptmann wähnt, daß er auch mit diesem Bekenntnis liberalen Ohren imponieren werde. Bis zu der Ablehnung kaiserlicher Gnade gehen sie noch mit, aber die höhere lehnen sie selbst ab. Gerhart Hauptmann will trotz seinem Gottesglauben Fortschrittsmann werden und er merkt nicht, daß sie bedenkliche Gesichter machen und ihn nur in die Fraktion aufnehmen wollen, wenn er auch den Gottesglauben draußen läßt. Gott? Nich zu machen. Er telegraphiert etwas von der »Nacht des mittelalterlichen Wahnsinns«: Redner wird beglückwünscht.

Oskar Blumenthal richtet im ›Berliner Tageblatt‹ folgendes Gedicht an Gerhart Hauptmann: Du solltest zur Jahrhundertfeier / Aus Versen winden einen Kranz. / Entklingen sollte deiner Leier / Der Freiheitskriege Not und Glanz. / Doch mußte dir dein Werk mißlingen, / Weil du verkannt hast deine Pflicht: / Die Kriege durftest du besingen — / Die Freiheit nur, die Freiheit nicht.

Welch ein Kämpe! Dieser ausgewitzte Kulissenonkel — Moritz Arndt ist ein Börseaner gegen ihn — stellt traun noch immer seinen Mann. Er hat vielleicht noch die Premiere von »Vor Sonnenaufgang« mitgemacht, wo die aufrechten Männer, die gerade und richtiggehenden Berliner eine Geburtszange schwangen. Und Hauptmann hofft im Stillen, daß er seinen Gott doch durchdrücken werde. Und er, der »Hannele« geschrieben hat und die Verse der Engel, dankt. Die Ratten sind über ihn gekommen. Er dankt den Monisten, denselben, die aus einem Arndt’schen Lied Gott entfernt und durch Haeckel ersetzt haben. Gott gebe, daß die nächste Dichtung, die Gerhart Hauptmann wieder auf eigenes Geheiß schreibt, nicht ihren Besteller, wohl aber seine Gratulanten enttäuscht!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 378/379/380, XV. Jahr
Wien, 16. Juli 1913.