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April 1912

Recht und Pflicht, mich totzuschweigen

Das Recht, totzuschweigen

... Große Kritiker sind selten. Ein solcher, unter den Deutschen vielleicht der größte, war Lessing ....

Ein solcher leidenschaftlicher Kritiker war Kürnberger ....

Der Satiriker ohne innere Leidenschaft ist undenkbar, wenn er äußerlich auch oft kalt und schroff erscheint. Es ist kein Zufall, daß der bedeutendste Satiriker der deutschen Gegenwart, Karl Kraus, unermüdlich für Kürnberger gekämpft hat. Schon das hat ihn den Wiener Zeitungsschreibern unangenehm gemacht. Sie werden nicht gern an Kürnberger erinnert, der die Dinge mit einem Ernst nahm, der einfach unbequem ist .... Lebte Kürnberger heute, so würde er das Schicksal des Karl Kraus erfahren. Man würde versuchen, ihn totzuschweigen. Und darin hat ja die Wiener Presse so mannigfache Übung! .... Immer wenn man sagen möchte: »er (Kürnberger) schießt übers Ziel«, muß man doch sich an der echten Entladung seines Zornes so sehr freuen, daß man gern die Ungerechtigkeit mit in Kauf nimmt. Auch Karl Kraus, der unter den Heutigen in der Kritik eine ganz einzige Stelle einnimmt, ist oft ungerecht. Aber auch seine Ungerechtigkeit kommt, wie bei jedem echten Satiriker, zuletzt aus dem Drang nach der Wahrheit. In der Übertreibung des Satirikers liegt eine Notwendigkeit. Mit der Übertreibung erreicht er nicht nur seinen sachlichen, sondern auch seinen künstlerischen Zweck. Die Übertreibungen des mittelmäßigen Kopfes wirken leer und schal, die Übertreibungen des schaffenden kritischen Genies geben ungeahnte Einsichten. Die Vergrößerungen und Verkleinerungen entfalten ihre größte Kraft in ihrer vergleichenden Zusammenstellung, wo sie denn oft wie Offenbarungen wirken. Aber große Kritiker und Satiriker im Stil Kürnbergers und Kraus’ sind selten. Sie geben weder den Maßstab noch sind sie Muster. Sie sind einzelne und können nur aus sich heraus verstanden und beurteilt werden. Sie haben als zum wirklichen Adel gehörig Vorrechte, die man ihnen gar nicht zuzugestehen braucht. Sie nehmen sie sich. Sie nachzuahmen macht lächerlich, abgesehen davon, daß ihre Größe in ihrer Person so bodenständig ist, daß sie einfach nicht nachzuahmen sind .... Es ist aber gar nicht auszusagen, welchen Einfluß die Presse auf das Publikum hat und wie sie es, freilich wohl nicht auf die Dauer, zuwege bringt, das Mittelmäßige in die Höhe zu treiben und das Gute zu hemmen. Dagegen sind nur wenig Fälle bekannt, in denen die Presse im Gegensatz zur allgemeinen Strömung wirklich Bedeutendes gefördert hätte. Das zeigt sich zum Beispiel jetzt in dem Fall Kraus, der von fast der ganzen Presse Wiens totgeschwiegen wird, während er doch eine der wichtigsten Erscheinungen des deutschen Schrifttums der Gegenwart ist. Wohl gibt es gewiß eine Reihe von Wiener Tagesschriftstellern, die gern über ihn schreiben möchten, aber erstlich erlauben es ihnen die Herausgeber nicht und dann müssen sie ihre Kollegen furchten, denen ja Kraus oft genug übel mitgespielt hat. Sie sind kleinlich genug, einen vielleicht scharfen Angriff nicht vergessen zu können und beweisen dadurch nur, daß Kraus recht gehabt hat .... Die Wiener Presse ist sehr empfindlich, sie verzeiht nie. Sie bewahrt als treuen Schatz den alttestamentarischen Haß und läßt bis ins zehnte Glied je des Verbrechen an ihr fühlen. Aber wir Alten denken noch dreißig, vierzig Jahre zurück. Wir erinnern uns, wie die Presse sich gegen Richard Wagner, gegen Nietzsche gestellt hat. Gegen jenen mit giftigem Hohn, gegen diesen mit dem Totschweigeverfahren ....

Engelbert Pernerstorfer.

Hierin steckt ein wohlgemeinter Irrtum; und es ist Zeit, daß in Ruhe darüber gesprochen werde. Die Rache der Presse an dem Werk jener, die durch ein Wort die Presse beleidigt haben, ist nicht zu verwechseln mit der organischen Antwort des Schweigens über einen, dessen Werk es ist, die Presse totzusprechen. Wie sollte sie denn anders tun? Ich muß endlich rückhaltlos zugeben, daß ich die stumme Quittung Wiens begreife und leichter ertrage als das redende Mißverständnis, das jetzt mit Lob oder Tadel aus deutschen Blättern auf mich eindringt. Man unterscheide zwischen Kritik und Berichterstattung. Totschweigen der Kritik ist das Schweigen der Toten. Es ist plausibel. Die Institution, der ich das Dasein nehme, kann nur schweigen. Der einzelne, der dem Gesetz der Trägheit und dem Gebot der Schwäche folgt, auch dort, wo kein Auftrag der Lumperei an ihn ergangen ist, steht außer der Verantwortung, und die Institution hat recht. Nur jene einzelnen, die von mir leben und schweigen, handeln schimpflich. Literaten, die es sich nicht versagen können, mir Abgelesenes zu verwenden oder so zu zitieren, daß man die Hemmung des Schamgefühls, den Konflikt und den Sieg der Feigheit spürt, und die sich auch in Berlin so benehmen, weil es ihnen in Wien schaden könnte, handeln schimpflich. Die es ihnen übelnehmen könnten, die Vertreter der Institution, handeln folgerichtig. Es wäre ungerecht, gerade bei der Wiener Presse den Selbsterhaltungstrieb im Kampf ums Dasein zu übersehen. Die Fähigkeit einer Spinne, die Gestalt einer Pflanze anzunehmen, hat die Natur der Presse nicht verliehen, und selbst wenn sie, um sich vor Verfolgung zu schützen, sich platt hinlegen könnte und so tun, als wäre sie anständig, so würde ihr diese Mimikry bei mir nichts nützen. Das weiß sie. Von ihren kulturellen Verpflichtungen hält sie selbst nicht viel und Fleißaufgaben mutet ihr niemand zu. Wie sie sich nun aber mit ihrer Berichterstatterpflicht abfindet, ist eine Angelegenheit von niedrigem Interesse, die lediglich zwischen ihr und ihren Kunden spielt. Den Übelstand, daß sie diesen nicht mitteilt, wie’s an meinen Leseabenden zugeht, habe nicht ich zu rügen. Was sie unterläßt, ist gleichgiltig neben dem, was sie tut. Und nicht einmal das Publikum kann ihr einen Vorwurf daraus machen, daß es durch sie nicht auf die Gelegenheiten, mich zu lesen oder lesen zu hören, aufmerksam gemacht wird. Jene, die die Gelegenheit suchen, wissen sie auch ohne die Presse zu finden. Das hat sich in einer Art gezeigt, die sie selbst als Faktor der Reklame problematisch macht. Es ist sogar gerichtsordnungsmäßig festgestellt. Die Tagespresse ist durch meine Leseabende an der Wurzel ihrer Daseinsberechtigung getroffen. Berichte sind überflüssig; aber die Notwendigkeit der Nachrichten war bis dahin nicht angezweifelt worden. Hier ist der Fall eingetreten, daß einer zwischen Oktober und Juni sieben Wiener Säle füllen kann, ohne daß irgendwo ein bezahltes oder unbezahltes »Morgen findet statt« zu lesen war. Mehr als das. Der Berichterstatter muß sehen, daß Autorabende, denen er seine volle Werbekraft leiht, schenkt oder verkauft, gemieden werden. Daß die Suggestion nachgelassen hat, ist wohl mein Verdienst. Mein geringeres, daß ich ihrer selbst nicht bedarf. Ich schreibe es einer Popularität zu, die nicht dem Wert gilt. Aber es kann nicht laut genug als journalistisches Debakel ausgerufen werden. Meine Vorlesungen gehören zu mir; zu mir gehört nicht der Andrang; aber zu mir gehört, daß er ohne die Presse zustande kam. Die Entbehrlichkeit journalistischer Hilfe in diesem Fall ist der wahre, der erste praktische Erfolg meines Wirkens gegen die Presse. Mögen jene Kunden, die kein Aviso mehr brauchen, aber am Morgen lesen wollen, was sie am Abend erlebt haben, sichs mit ihr ausmachen, was für den Bezugspreis geliefert werden muß und was unterschlagen werden darf. Mich geht die Versäumnis an mir lange nicht so viel an als die Beachtung, die den Schwindlern und Dilettanten gewährt wird. Ich will, daß weniger, und nicht, daß mehr geschrieben wird. Daß sich die Großpresse kritisch nicht mit mir abgibt, ist eine der letzten Annehmlichkeiten des Wiener Daseins. Das fehlte noch! Ich bin zufrieden und begreife. Aber außer mir sollten es auch andere gerechte Urteiler begreifen. Denn hier wird nicht ein Ganzes um einer Einzelheit willen, die einzelne betroffen hat, geächtet, sondern um eines Ganzen willen, das allen ans Leben geht. Dieses Ganze tritt, wenn es auch über die Negierung der Presse hinausgeht, doch als solche in Erscheinung, und wenn ich ein Gedicht an eine Sonnenfinsternis schriebe, so fühlte sich die Journalistik mit einigem Recht getroffen, und man könnte nicht verlangen, daß sie ihr Standesbewußtsein verwinden solle, um zu einer objektiven Würdigung des Gedichtes zu kommen. Ich habe nicht Musik oder Epen geschrieben und mit gelegentlichen Seitenhieben die Presse vor den Kopf gestoßen. Natürlich steckt auch in einer Oper wie in jedem Kunstwerk Preßverachtung. Aber sie ist nicht sein Stoff. Es schneidet nicht die Riemen aus der Haut derer, die es trifft. Das wäre doch viel verlangt, daß die Leute einen Maler würdigen sollten, der seine Landschaften auf ihre Rücken malt. Sehen sie sie denn? Ist es nicht genug, daß sie sie spüren? Ist nicht das stille Martyrium die würdigste Antwort? Niemand überblickt die Situation besser als ich. Was ich will — wenn man von dem, was ich tue, unmittelbar eine Tendenz abziehen kann — ist, daß die Presse aufhöre, zu sein. Das will ich schließlich in fast jeder Zeile. Wie soll nun die Presse dem Werk, das sich aus solchen Zeilen zusammensetzt, gerecht werden? Sie hat zwei Wege: entweder daß sie aufhört, zu sein, oder daß sie so tut, als ob ich aufgehört hätte zu sein. Ein drittes: Antworten, gibt es nicht. Es würde auf meine Existenz hinweisen und die der Presse nicht verbessern. Ein viertes: Anerkennen, wäre faustdicke Heuchelei, die man der Presse in jedem, nur nicht in meinem Fall zutrauen kann. Was soll sie also tun? Zwei Wege sind möglich. Aufhören: das wäre schön, aber nicht einträglich. So bleibt nichts übrig als Totschweigen, was immer noch für sie die bequemste und für mich die angenehmste Art ist, in der sich die Presse mit mir auseinandersetzt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 347/348, XIV. Jahr
Wien, 27. April 1912.