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Juli 1911

Der Blitz hat sie getroffen, zerschmettert sind sie, nicht gedacht sollen sie werden

Eine Orgie

Ich hatte ja keine Ahnung gehabt. Da sah ich abends zwei Männer gestikulierend an mir vorübergehen und hörte wie der eine zum andern sagte: »Also das erste wird jetzt sein, daß —«. Ich wußte genug. Es war kein Zweifel, daß wir in einer großen Zeit leben.

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»Vergiß nicht morgen wenn du zur Urne schreitest«, rief Frau Melanie Kohary, die in aufopferndster Weise den Kampf zur Herabsetzung der exorbitanten Fleischpreise geführt hatte, »vergiß nicht Leo an die Bresche!« »Sei beruhigt«, antwortete er, indem er das Licht abdrehte, »wir werden das Bollwerk stürmen. Es gilt einen Feind zu zerschmettern, der im Finstern seine Zwangsherrschaft aufgerichtet, und wir werden wie eine Springflut diesen Krankheitsträger mit einem Axthieb vernichten, der überallhin seine Ansteckung hätte tragen können, diese Partei, die den Atavismus ihrer rückschrittlichen Grundsätze mit einem Mäntelchen von Sozialpolitik und Mittelstandsrettung decken wollte — was Christlichsoziale, Heidnischsoziale sind sie!« »Vergiß nicht, Kohary, daß diese gefährliche Macht, die auch in dem internationalen Verhältnisse und dem Verhältnisse der Dreibundmächte zu einander von störender Wirkung war, eine Zwittergeburt ist, die unser politisches Leben wie mit einem Netz bis in seinen Lebensnerv angegriffen hat.« Kohary fuhr empor und sprach: »Ich möchte kühn behaupten, daß die Unzulänglichkeiten unseres politischen Lebens in ultima analysi nicht zum geringsten Teile auf die verderbliche Herrschaft dieser Partei zurückzuführen sind. Der Sieg des freiheitlichen Gedankens in Wien wird nicht bloß in den Kreisen des deutschen Bürgertums allerorten im Inlande Freude hervorrufen, auch die Österreicher, die in der Fremde Beruf und Erwerb haben, nehmen herzlichen Anteil an der Wiedereroberung des großen Kulturzentrums der Heimat vom christlichsozialen Hochdruck, weil der Deutsch-Österreicher, der im Auslande lebt, umgeben von dem rastlosen Vorwärtsstreben freier Völker am sausenden Webstuhl der Zeit nebbich noch tiefer den Schmerz empfunden hat, daß sein Vaterland durch eine Partei des wirtschaftlichen und kulturellen Rückschrittes an dem freien Wettbewerbe gehindert wurde, obwohl die alte Kultur, die Begabung und geistige Regsamkeit den Deutsch-Österreicher befähigen in der vordersten Reihe zu stehen, und der volle Sieg über die Reaktion aus ganzem Herzen in diesem schweren Kampfe um Freiheit und Licht, in dem die Saat der Freiheit, die die Neue Freie Presse gebreitet, zündende Früchte gezeitigt, glänzend waren die Aufsätze, in denen sie über diesen dunklen Punkt in Österreichs Parlament helles Licht goß, während wir Freidenkende Ungarns noch im bangen Zweifel über den Erfolg die belebenden warmen Strahlen einer schönen Zukunftssonne fühlen und zugleich der Neuen Freien Presse wärmstens gratulieren, die diese packende Anthologie einer klassischen Redekunst gegeben.« »Wenn Österreich«, versetzte Frau Kohary, »gereinigt aus dem Schlamme dieser Wirtschaft hervorgeht, was Gott geben möge, so kommt eine neue freie Luft, in der man wieder den lieben anheimelnden Scharm der gesunden Wiener Seele erkennen wird.« »In das Gefühl der allgemeinen Freude«, fuhr er fort, »mischt sich auch das Gefühl der lebhaftesten Bewunderung über die mächtige, nie erlahmende Arbeit der deutschen freiheitlichen Presse, welche fürwahr dem freiheitlichen Gedanken zu diesem wunderbaren Siege verholfen, und es war die Offenbarung der idealen und reinen Macht der Presse und wo sich die Macht der reinen Presse und die Kraft der Prinzipientreue in solcher Weise offenbart, wo solche Männer an der großen Arbeit sind, ist das Schicksal der Völker und Massen gegen Feind und Unbill gesichert, und man kann nicht anders, man muß die Freie Presse zur Durchdringung der herrlichen Kaiserstadt aus der Nacht zum Licht, wie ihr aus Jassy telegraphiert wird, beglückwünschen, wenn man in Wien lebt und ein gleichgesinnter Landsmann im fernen Osten ist, weil in diese schöne, kunstsinnige, lebensfrohe Stadt eine neue Ära des Freisinns einbrechen wird und sich ihre Atmosphäre sich gleichsam mit dem Geiste des Liberalismus, der reinen Menschlichkeit, der durch den des Hasses und der Verhetzung und des Eigennutzes leider so lange zurückgedrängt war, und vom Mittelpunkt soll dieser neue Geist als die Plattform allseitig hinausstreben ins weite Reich, ja über den schwarzgelben Grenzpfählen seinen wohltätigen, heilbringenden Einfluß entfalten. Auch vom Gute des Liberalismus gilt das Faust’sche Wort, erwirb es um es zu besitzen! In den letzten Tagen war sie auch überall ausverkauft.« »Wenn man bedenkt«, sagte Frau Kohary, »daß erst der Freisinn, diese politische, geistige und sittliche Bürgschaft, daß Menschen das Recht haben, den kühnsten Fragen ins Gesicht zu sehen und daß sie nicht von christlichsozialer Gewalt niedergebeugt werden —« »Was niedergebeugt, geknebelt, erdrosselt, erstickt haben sie sie. Auf dem Rücken des Wählers sind sie heraufgestiegen —« »Worauf herauf?« »Wer jemals im vatikanischen Museum gewesen ist und dort die Statue des SaloCohn und seiner Kinder gesehen hat, die von solchen Reptilien umschlungen werden, konnte nicht umhin, sofort an Wien zu denken. Jetzt aber wird alles wieder gut. Der Freisinn ist das gar nicht zu entbehrende, dem Staate und jedem Einzelnen notwendige Element, das ihn vorwärts bringt, seine Tatkraft hebt, das nationale Einkommen in rascher Zunahme steigert und diesen Wohlstand durch die kleinsten Haarröhrchen in die Familie hinüberleitet, er gehört zu unserem jetzigen Leben wie der Dampf und die Elektrizität, wer ihn nicht haben will, tut genau so, als wollte er den Dampf und die Elektrizität nicht haben, wenn man den Freisinn nicht hätte, müßte er erfunden werden, wie man den Dampf und die Elektrizität erfunden hat, wie Saiten einmal gesagt hat, ihm gesagt, sondern es läßt sich kein Beispiel in den Blättern der Geschichte, nicht einmal in den Annalen aufspüren, daß ein Volk ohne der Erweiterung des Gesichtskreis sich hat zum dauernden Fortschritt aufschwingen können, wenn man bedenkt, daß der Deutsche in Österreich von der Natur mit hohen Gaben ausgestattet. Besonders ist das den Wienern nachzurühmen. Wer in fremde Städte reist, ist sehr erstaunt zu erfahren, wie groß und wie zahlreich die Erfolge der Wiener und der Österreicher im besonderen draußen sind und wie häufig sie glänzende Karrieren machen und wie gern sie gesehn werden und wie durchschlagend ihre Tüchtigkeit ist, besonders im Nachtgeschäft, wo nur Wiener Leute zu brauchen sind. Das Bedürfnis nach freieren Weltanschauungen wird eines Tages sich losringen und auch im flachen Lande Gestalt bekommen. Wer erinnert sich nicht an die Beschimpfungen gegen die Ärzte, denen sie zugerufen haben, jeder Dürrkräutler versteht mehr wie sie, noch sind unvergessen die Anzettelungen gegen die Professoren der Fakultät und gegen zahlreiche Vertreter der Wissenschaft und der Kunst und der Aufklärung, und wir alle haben es schaudernd miterlebt, daß die Schule immer mehr herabsank und schließlich nichts wurde als ein gefügiges Werkzeug in der Hand der Klerisei, alle haben sie gezittert und hell aufgejubelt haben sie, als die erste Bresche in die dichte Phalanx der Wiener Machthaber geschlagen war, und jetzt sollen mit einem Male die freisinnigen Bürger ihre Überzeugung, das einzige, was nicht geraubt werden konnte, freiwillig über Bord werfen, ausgerechnet jetzt? Man verlangt von uns, daß wir einem Kompromiß zustimmen, daß wir mit einem Wort aus einer Fanfare eine Chamade machen? Mögen sie sich jetzt des alten Schlachtrufes: ›Caveant consules ne res publica quid detrimenti capiat‹ (Ne quid res publica, verbesserte Frau Kohary), also ne quid, laß mich in Ruh, in dieser Stunde der Gefahr erinnern. Denn: ›periculum in mora!‹ Mit vorzüglicher Hochachtung S. Pohorille, Konzipient.« »Was sagst du?« »Ach so, ich hab die Unterschrift mit gesagt — macht nix. Man verlangt von uns. Man verlangt von uns, die wir noch alle unter dem Eindrucke des 13. Juni stehen, wo die gesamte freiheitliche Bevölkerung Wiens auf ihren Stimmzettel einen flammenden Protest niedergeschrieben, einen Protest gegen den Verrat, der nicht ein Mal, nein hundertmal an der Bevölkerung verübt wurde, durch Verbitterung des Mittelstandes bis zum Äußersten und vom Lohnarbeiter bis herauf zu den Spitzen des freisinnigen Bürgertums, indem sie die Ärmsten der Armen geködert haben, sie alle haben in gleicher Weise die Hand gefühlt, die sie umgarnt hat wie ein Alp, Schriftsteller Hans Müller telegraphiert uns, jetzt, wo unter dem überwältigenden Eindruck, apropos hast du das Gedicht von Wertheimer gelesen über die Finsterlinge? Lagst Du zu Boden, ein gebund’ner Aar — und folgt dem Zug des Weih’s ..« »Mit welchem Zug ist der Weiß nach Boden?« »Aber das ist doch nur im übertragenen Sinn! Die ersten Dichter von Wien interessieren sich heute für ernste Sachen, Kunststück, jetzt ist nicht Zeit, zu singen und zu sagen, sagt er. Alle gehen sie mit! Und grad von uns will man ein Kompromiß? Jetzt, wo selbst Trebitsch, der bekannte erfolgreiche Übersetzer Shaws, in seiner Freude über den großen Erfolg aller Gutgesinnten das Bedürfnis fühlt, jetzt, wo die grandiosen Ereignisse sich zu historischer Bedeutsamkeit verdichtet, so daß selbst ein Dr. Leo Feld, ein leiblicher Bruder von Viktor Leon, die freudig empfundene Pflicht fühlt, für die unbeirrbare Energie zu danken, die diesen ersehnten Tag direkt mit schöpferischer Einsicht heraufführen half, das ist keine Kleinigkeit, man sieht, wie sehr ihre Volkstümlichkeit in allen Grundfesten erschüttert und entwurzelt ist, und jetzt soll alles wieder, soll diese einzig dastehende publizistische Wahlkampagne — nein, das wird nicht geschehen! Wir haben am 13. Juni in einer Position der Geßmann-Partei, welche als ihre uneinnehmbarste Hochburg galt, eine gewaltige Bresche geschlagen, zum Himmel schreit das Sündenregister der Christlichsozialen und große Sympathien für Wien bei allen Deutschen in Österreich stehn im Abendblatt, noch sind hohe Berge zu übersteigen —« »Heraus aus dem Sumpf!« rief Frau Kohary. »Du hast ein überaus glückliches und aktuelles Losungswort geprägt, das die derzeitige Situation grell, programmatisch und umfassend beleuchtet. Jawohl, heraus aus dem Sumpf! Die Volkspolitik, die zum Herzen und zu den Sinnen spricht, ist sie nicht vorzuziehen den taktischen Klügeleien? Und hat man vergessen, wie sie die Deutschnationalen, die sie in den Sattel gehoben, behandelt haben wie die Knechte, ärger wie die Liberalen! Bis dat, qui dito dat!« »Sapienti satt!« »Möge jeder sein Scherflein davontragen! Der Neuen Freien Presse, deren treuer Abonnent vom Beginn des Erscheinens zu sein ich mir zur besonderen Ehre anrechne, ist man es schuldig, die Liechtensteins, die Weiskirchners, die Geßmanns, die Pattais et ceteros pares et tutti quanti hinwegzufegen. Sie hat den eklatanten Nachweis erbracht, daß sie auf das Epitheton, ein Sprachrohr zu sein, mit vollem Recht Anspruch erheben darf. Man greift sich an den Kopf und fragt: Ist denn das möglich, ist das Wirklichkeit oder Traum? Ich kann Sie versichern, hat einer von der Viktoria ihr geschrieben, daß ein solches Kompromiß gegen den Willen der breiten Massen der freiheitlichen Wähler Wiens ist, die werden wissen, was sie am 20. zu tun haben und an welcher Parole sie sich zu halten haben. Erheben Sie doch Protest, hat er gesagt, man muß sich doch selbst und seinen Prinzipien treu bleiben, hat er gesagt, das ist doch das Erste und Höchste für jeden Menschen, der Anspruch auf Achtung und Würde erhebt, hat er gesagt. Tausende und Abertausende von Familienvätern haben nur mit blutendem Herzen und zähneknirschend für die Wiener klerikalen Agrarier gestimmt, der 20. Juni aber wird und muß die Wiener effektiv von dem Joch befreien. Sein Verhalten nach dem Tode Luegers, daß er so pietätlos gehandelt und das Testament nicht angetreten, Lueger hat an ihm wie ein Vater gehandelt, warum hat er nicht wolln Bürgermeister wem, nichts hat ihm gehindert, hat ihm die Krone gehindert? das hat den Stolz der Wiener beleidigt und so erklärt sich der Zusammenbruch, das alles sind Taten, an die ein Wiener niemals vergessen kann und wird, wofern er sich zur freien Weltanschauung bekennt. Wie Heine von Napoleon gesagt, diese Lippen brochen nur zu pfeifen und die Klerisei hat ausgeklingelt, gilt auch von der Neuen Freien, sie brocht nur zu hauchen und ihre Feinde liegen zu Boden. Zu Boden liegen sie in Wien, zu Boden liegen sie in Niederösterreich. Möge vom Kahlenberg und von der Donau herab bis zu den fernsten Enden der Stadt an den letzten Ausläufern des Anninger der Jubelschrei ertönen —« »Welcher Anninger? Der früher —« »Laß mich aus! Wir sind heraus aus dem Sumpf! Die Herzen in die Höhe! Den Mut à la hausse! Eine neue Zeit hat sich erbrochen! Zerschmettert sind sie, der Blitz hat sie getroffen, zu Boden liegen sie, der Tag der Gerechtigkeit ist erschienen, Segen und Glück mögen dieser Stadt zuteil werden für alle Zeiten!« Frau Kohary meinte: »Ruhig können wir den kommenden Dingen entgegensehen, die wieder nur den Beweis liefern werden, ein wie kleines Geschlecht einen großen Moment gefunden hat. Sempre avanti! Aus dem letzten Schlupfwinkel müssen die Feinde des Freisinns herausgedrängt werden!« »Als langjähriger Abonnent dieses vornehmen Weltblattes seit dessen Bestand, verfolge ich selbstredend dessen Inhalt mit Interesse«, fuhr Kohary fort. »Speziell jetzt die Beratungen über Wahlangelegenheiten, welche es, wie von einem Blatte dieses Ranges nicht anders zu erwarten, in anerkennendster Weise betreibt. Aber ich kann mir nicht helfen — nach meinem Gefühl — war dieses Kompromiß — geradezu emperend! Hie Fortschritt und Kultur — hie Reaktion und Ultramontanismus!« »Was heißt hie?« »No hie! Ich sag dir, der heutige Leitartikel ist wieder aus den Herzen sämtlicher freiheitlicher Wähler geschrieben, und gebührt Ihnen hiefür der Dank sämtlicher Deutschen, die sich effektiv nicht mehr in das Netz der Hochburg des Bollwerks der Klerisei spannen lassen wollen. Ohne mit der Wimper zu zucken, gibt es jetzt nur eines: Unter allen Umständen stimmen gegen die Christlichsozialen! Der kleine Mann hat endlich eingesehn, er war nur der Schemel für sie, den sie genasführt haben, damit einige wenige in der Höhe hinaufkommen, während der natürliche Zersetzungsprozeß dieser innerlich verfaulten Partei mit elementarer Gewalt vor sich gegangen, und ein befreites Aufatmen ging durch ganz Wien, dieser uralten Kaiserstadt, wo jeder Stein von der deutschen Geschichte erzählt, gleichsam als spüre man schon den Hauch einer neuen freien Luft, wie wenn sie die letzten Reste der gesprengten Ketten von sich geschüttelt hätten. Als sich die Nachricht von dem Ausgange der Hauptwahlen und von der hippokratischen Niederlage der Machthaber verbreitete, als immer neue Berichte über die Anzahl der in die Stichwahlen gekommenen früheren Größen einliefen und schließlich die Wiedergeburt so gut wie gesichert war, da erfüllte alle ein einziger Gedanke, endlich ist eine Bresche geschlagen in das Bollwerk!« »Wir Frauen kennen wohl die tiefe Kluft, die uns trennt. Die Zeit der Barrierstöcke ist vorüber!« »Du hast recht, ich bin ein einfacher Reisender, ich kenne aber viele Familien seit achtzehn Jahren und kann aus meiner Erfahrung bestätigen, daß sich langsam, aber stets fortschreitend, im letzten Jahrfünft ein Umschwung in der Weltanschauung des weitaus größten Teiles vollzogen hat und daß eine Brücke geschlagen ist über die Wälle, die das Schicksal der Deutschen in Österreich sichern können. Wien darf nicht zur Seite geschoben werden. Jetzt ist das Erste, seine Stimme erheben und mit aller Wachsamkeit den Hang zur Eigenbredelei in dem weiteren Rahmen einer sozial leidenschaftlich bewegten Großstadt nicht zu vermehren, vielmehr durch Erhaltung des Gleichgewichts auf die goldene Mittelstraße zu geleiten und mit diesem politischen Meldezettel in Fühlung zu treten, um die Deutschen nicht gewaltsam zu Freischärlern zu machen, sondern die älteren Parlamentarier erinnern sich noch an Franz Schmeykal, wie er dort beide Hände entgegengestreckt hat. Wenn das neue Haus sich zusammentritt, wird man sehen, daß auch von ihnen das Wort der Bourbonen gilt: Nichts gelernt haben sie und nichts vergessen! Es ist keine Kunst, eine Politik der freien Hand zu führen, sondern a conträr erst wenn es gelungen ist, das mühsam sich bewegende Regierungsschiff vorbei auf Klippen und Sandbänke zu leiten, kann man sagen, daß es gelungen ist. Es wird Sache des Nationalverbandes sein, durch behutsame Stellungnahme den berechtigten Empfindlichkeiten Rechnung zu tragen, weil die starken, werbenden Kräfte zu übersehen, hieße uns Deutschen in den Rücken fallen und dürfen diese zwei Millionen vom deutschen Besitzstande nicht von sich gestoßen werden. Glaub mir, Melanie, es gibt Momente im Völkerleben, wo das Herz siegt über die Grübeleien und die innere Natur des Menschen sich verschafft Gehör! Wo sind die Zeiten, wo man noch abgeschmalzene Nudeln bekam für sechs Neukreuzer und Karbonadeln für einen Spottpreis um acht? Schon jetzt ist es sicher, daß die Mehrheit den Anhängern der freisinnigen Weltanschauungen gehört. Die freisinnige Weltanschauung, der freisinnige Gedanke, die freisinnige Vertretung im Parlament haben gesiegt. Wien war eine Stadt, wo Lippen- und Augendienst geübt wurde, diese Wunde hat am Körper der Deutschen geeitert, und die Bürgerklubbeschlüsse und Rauchsalonkonventikel dürfen nicht länger ausschlaggebend sein. Wien ist gesundet. Mit besonderer Genugtuung erfüllt es uns, in Ihrem weitverbreiteten Blatte — ich bin 32 Jahre Ihr Abonnent — endlich eine mannhafte Sprache zu lesen. Die Glorie, die es umstrahlt, allem zugänglich zu sein —« »Du glaubst —?« »Laß mich ausreden, die Glorie, die es umstrahlt, allem zugänglich zu sein, was vornehm und gut ist in dem Menschen, leuchtet wieder im hellsten Lichte. Es war ein schöner Tag. Überall bildeten sich Gruppen, größere und kleinere; wildfremde Menschen sprachen sich in den Cafés an, ein Geriß war um die Extraausgaben, die Ziffern und Namen der Wahlresultate flogen durch die Luft, noch in den späten Nachtstunden stand das Straßenbild unter dem Eindrucke der Wahlergebnisse, indem ein kräftiger Wind die Kronen der dichtbelaubten Bäume schüttelte, alle Fenster waren besetzt und Frauen und Kinder winkten mit Tüchern herab. Friedmann erklärt, er sei nach dem errungenen Erfolge im Parkviertel sogleich auf dem benachbarten Kampfplatz im Rathausviertel geeilt, um das Seine dazu beizutragen, stürmischer Beifall, die wankenden Größen der Christlichsozialen wurden mit tosenden Abzugrufen bedacht —« »Was, so viel?« »— und stießen nirgends auf Widerspruch. Es bleibt ein hübscher Zug, daß jetzt die Christlich-sozialen mit ihren drei Mandaten an den Katzentisch gewiesen sind, während das Bürgertum bis zu zehn Mandate hinaufgerückt ist. Wenn sie sich dort an ihre Stellen und Mandaten hängen, so ist das nackte Vermessenheit. Deutlich war es zu merken, wie den breiten Schichten das willkürlich genommene Recht der freien Meinungsäußerung zurückerobert worden ist, wie ein Zwang gebrochen ward, der Tausende und Abertausende genötigt hatte, die Faust in der Tasche zu ballen und mit ihrem vernichtenden Urteil über die Vergewaltiger Wiens zurückzuhalten. Die Erde hat gebebt. Die Kondukteure der Straßenbahn besprachen die Wahlergebnisse mit den Fahrgästen, da braucht man kein Trinkgeld geben, das Interesse für den Ausgang war ein so ungemein lebhaftes, daß sich selbst Damen, die sich schon auf dem Lande befinden, im fortschrittlichen Agitationslokal einfanden und bis zum letzten Augenblick ausharrten, um mit größter Spannung die Wahlresultate, bei denen diesmal alle Gesetze der Wahlmathematik auf den Kopf gestellt waren, unter geradezu frenetischem Jubel zu vernehmen.« »Uns Frauen kümmern keine Parteidifferenzen, keine Parteischattierungen. Wir müssen uns in dieser ernsten Stunde vornehmen, mit allen unseren Kräften am Kampfe gegen die Reaktion teilzunehmen. Gilt es doch außer der Herabsetzung der exorbitanten Fleischpreise unsere höchsten Ideale zu verwirklichen und die Ideen der Freiheit zum Siege zu führen.« »Überall ist sie ausverkauft!« »Per aspera ad astra!« erwiderte Frau Kohary. »Wir fern von Wien weilenden Geschäftsreisenden« — fuhr er fort — »sind voll des Lobes über die Haltung, die sie in der Wahlkompromißangelegenheit einnimmt. Wir fallen über die Neue Freie Presse her, deren Artikel uns vollste Befriedigung bieten —« »Uns Hausfrauen auch!« »— weil sie eintritt für den Kampf im Verein mit den Sozialisten gegen die Christlichsozialen. Jeder Tag brachte noch eine Steigerung, ein Mehr an zwingenden Argumenten, glänzender Beredsamkeit, und finde ich es nur natürlich, wenn die aus jeder Zeile sprechende Begeisterung, ehrliche Überzeugung, der eiserne Wille und nicht zuletzt der prächtige Zorn über die Volksbetörer gleich dem Triester Orkan die Wogen der Wahlbewegung aufpeitschte (›Mit Automobile sind sie vorgefahren‹, warf Frau Kohary ein), welche früher oder später die unheilvolle Partei hinwegschwemmen muß. La verité est en marche. Wien ist wieder der Mittelpunkt von Österreich. In der Leopoldstadt suchten die Schauspielerinnen und die ersten Koryphäen vornehmlich höhere Beamte und Kaufleute auf, vor denen sie ihr Programm entwickelten und mit liebenswürdiger Überredung sie zu gewinnen verstanden. Während sich der Sieg an die Fahne des Freisinns heftete, ist der Damm weggeschleudert worden und die Gewässer stürzten mit verdoppelter und verdreifachter Wucht über das Bollwerk. Doktor Waber ist somit heute schon so gut wie gewählt. Hast du nicht gelesen, wie er sich der Ovationen kaum erwehren konnte und gesagt hat: ›Bitte, bitte, lassen Sie mir nur zehn Minuten Zeit, um mein liebes Mutterl zu begrüßen‹? Ein schöner Zug von ihm, einem Christlichsozialen war das nicht eingefallen!« »Laß mich aus mit Waber! Auch ein Antisemit!« »Aber freisinnig! Hast du nicht gehört, Adonai hat mit Wotan ein Kompromiß geschlossen und kommt mit Geßmann in der Stichwahl? Die zielbewußte Haltung unserer Gesinnungsgenossen findet Verständnis und Würdigung bei der Volksseele und ein grelles Licht wird auf die Methode christlichsozialer Gesinnungsknechtung geworfen. Jetzt heißt es vor allem deutsch sein, deutsch, deutsch und wiederum deutsch! Ein Preßburger, dessen Name der Redaktion bekannt sein soll, spiegelt den gewaltigen Eindruck, die außerordentliche Spannung, die beinahe fieberhaft zu nennende Erwartung, die den morgigen Tag begleitet. Bange Stunden trennen uns noch bis zum 20. Juni —« »Aber Kohary, entschuldige, wir haben doch schon den 20.! Auf zur Stichwahl, du scheinst zu vergessen!« »Pscht! Versunken und vergessen! Unterbrich mich nicht! Nur einige Säulen schwanken hie und da noch herum! Das hab ich der Neuen Freien geschrieben, mein Name ist der Redaktion bekannt —« »Du hast ihr geschrieben? Sehr gut, ich hab ihr auch geschrieben!« »Du hast ihr auch geschrieben? Was hast Du ihr geschrieben?« »Ich hab ihr geschrieben aus voller Brust und daß sie bahnbrechend gewirkt hat in der Aufklärung!« »Glänzend! Spürt man es nicht in jedem Bissen Brot und Fleisch, wie sie sich überhoben haben?« »— haben hoben!« »— hoben hoben! Binnen acht Tage ist Wien erwacht! Seit Jahrzehnten, sagt Zenker, bitte ein Goi, hat man auf den Ausbruch der Freiheit und Demokratie geharrt. Freisinnig, das ist der beste, der richtigste und der am meisten zu Herzen sprechende Name! Freisinnig oder nicht freisinnig! Freisinnig! Daran werden wir uns erkennen! Hie freisinnig, hie nicht freisinnig!« »Was machst du hihi?« »Ich mach hihi? Ich sag dir, wo immer der Freisinn bedrückt und geknebelt wird, rächt sich die mißhandelte Natur! Aber jetzt wird alles wieder gut, ah, wie das wohltut, alles, alles wird wieder gut —« »Kohary, stell deinen Mann!« (Stürmischer werdend:) »Wie Theodor Neustadtl möcht ich ihr zurufen: ›Leser und Abonnent Ihres Journals seit seinem Bestehen, bin ich seit längerer Zeit am Ausgehen verhindert, aber meiner deutschfortschrittlichen Gesinnung stets treugeblieben.‹ Gesund wird er werden durch den Freisinn! Ja, Freisinn, aufatmen möcht man, in der Luft atmen können, welche die Brust erweitert und den Geist erfrischt, der Freisinn ist der Sauerstoff, der den Blutumlauf erhält, die Kräfte unausgesetzt verjüngt und vor Zersetzung und Fäulnis schützt, man fühlt sich ordentlich wohl, man kommt zu sich, seit 1873 war keine so gute Luft! Man fragt sich schlaftrunken: Wie ist das gekommen? Das danken wir dem Führer im Streite, der Neuen Freien Presse, deren hervorragende journalistische Tätigkeit alles mit sich gerissen hat und alles an sich gerissen hat, darum Dank diesem Blatte für den Sieg vom 20. Juni 1911, der dank der Pioniere des Freisinns Wien vom Alpdruck der Schleppträger des Bollwerks der Hochburg der Reaktion —« »Um Gotteswillen aber das wird doch erst übermorgen stehn!« »Ich kann sehr nicht leiden, immer unterbrochen werden, laß mich, es ist Sache des Charakters und der ganzen Lebensauffassung! Ein sehend gewordener Bankbeamter schreibt, sie hat geradezu herzbewegend auf die Leser gewirkt. Verwundert war ich jedoch zu lesen, daß eine (zögernd:) — Absicht — bestand, daß die Deutschfreiheitlichen mit den Christlichsozialen — ein Kompromiß vereinbaren wollen! (ausbrechend:) Schmach und Schande vor der ganzen zivilisierten Welt! Mehr Licht! Per aspera! J’accuse! Von dem Inhaber einer Firma, deren Name der Redaktion bekannt ist, entnehmen wir, daß man über einer Partei, die mit ihrem Titel den Lehren des Erlösers effektiv entgegenarbeitet, den Stab gebrochen hat. Jetzt ein Kompromiß? Wo die Hydra der Dunkelmänner umklammert ist und es nur noch eines einzigen Hiebes bedarf, und alle ihre fürchterlichen Häupter rollen am Boden? Das hieße sich an seiner eigenen Familie, an seiner Frau und an seinen Kindern versündigen, die unter der Last der Hochschutzzölle beinahe zusammenbrechen, in der Milch und in der Butter spürt man es, in allem, was auf den Tisch kommt, was sie getan haben, die Schleppträger. Ich sitze vor der Terrasse eines großen Kaffeehauses der Champs Elysées, die Zeitungsausrufer eilen mit der Ausgabe der Abendblätter laut rufend vorüber. Ein Blick in eines dieser Blätter: Da steht’s: Sie sind zerschmettert! Drüben im Westen, hinter dem großen Triumphbogen Napoleons, senkt sich, ein mächtiger Feuerball, die Sonne zum Horizont herab. Diese Sonne, sie kommt aus dem Osten! Mein Herz pocht, die Augen gehen mir über, ich habe den großen, längstersehnten Tag erlebt. Man sitzt mitten in der Stadt, in dem prächtigen Vorgarten des Café Silier, und läßt sich ein echtes Wiener Frühstück, duftender Kaffee, köstliche Butter und knusperiges Gebäck trefflich munden, ringsum enwickelt sich der Trubel des Großstadttreibens und man hat einen schönen Blick auf die Bauten des neuen Wien der letzten Jahre vor sich, das schillernde Band des Donaukanals und aus der Ferne grüßen die Ausläufer des Wienerwaldes mit ihrem Grün, ein erfrischender Lufthauch streicht um den Garten herum, in dem sich die Gäste wohl und geborgen fühlen wie auf einer Insel beschaulichen Genießens. Die Flucht aus der Großstadt hat begonnen, es gibt schon Scharen von Strohwitwern, die gleich den unsere Stadt besuchenden Fremden mehr denn je auf Gast- und Kaffeehäuser angewiesen sind. Auf dem geheiligten Boden der großen Revolution lese ich von dem Erwachen der Geister in Wien. Sie alle können sich einen Genuß eigener Art schaffen, der den schönsten Sommertag stimmungsvoll einleitet: Ein Prücklfrühstück.« »Kohary — was hast du — höchste Zeit!« »Als Student der Alma mater Wiens habe ich den Lienbacher-Rummel mitgemacht, ich habe den denkwürdigen Herzensschrei gehört: Herr, was hat Ihnen dieses arme Volk getan, daß Sie ihm sein einziges Brot, die Schule wegnehmen wollen? Mit sehr gemischten Gefühlen lesen wir soeben in Ihrem sehr geschätzten Morgen- und Abendblatte Nr. 16813 von dem Kompromiß, und Wiener Künstlerinnen rufen aus vollem Herzen und aus Franzensbad: Ein besonderes Hoch der Neuen Freien Presse! Tout comprendre c’est tout pardonner! Daß heute ein folgenschwerer Entscheidungskampf ausgefochten wird, prägt sich in den Physiognomien auf dem Wahlgange deutlich aus, und die lautlose Ruhe, mit der sich die Wahlhandlung allenthalben vollzieht, spricht eine deutlichere, vernehmbarere Sprache und gibt ein vollwichtiges Zeugnis für der politischen Reife der Wählerschaft. Man wird aufgefordert, nicht die Kandidaten zu verwechseln. In wirklich vornehmer, gentlemanliker Art hat sich das freisinnige Wien heute seines Sieges gefreut. In der Bechlarngasse wurden plötzlich zwei Polizeibeamte ohne ersichtlichen Grund überfallen und zu Boden geworfen. Als die Sicherheitswache einschritt, wurde sie von der Menge mit Steinen beworfen, acht Personen wurden verletzt. So oft die Christlichsozialen einen Wahlerfolg erreicht haben, wurde er mit großen Spektakeln, Fenstereinwürfen, Raufereien und dergleichen gefeiert. Bei uns hat die allgemeine Freude einen durchaus würdigen Ausdruck gefunden. Im Terrassencafé wurde durch einen Steinwurf von außen eine Spiegelscheibe zertrümmert. Es hat keine Exzesse, keine Beschimpfungen der Gegenpartei auf der Straße gegeben. In Kaisermühlen gab es einen Gasthausexzeß mit mehreren Kontusionen und Arretierungen. Kaum hatte der 24jährige Schlosser Franz Chrumal, Greiseneckergasse 25 wohnhaft, das Gasthaus betreten, als ihm eine Flasche an den Kopf geworfen wurde, wodurch er eine Rißquetschwunde über dem linken Auge erlitt. Noch ist vieles zu tun übrig. Wenn zahlreiche Wähler nicht durch wirtschaftliche Abhängigkeit verschüchtert wären, so wäre der Zusammenbruch der klerikalen Gaukler ein vollständiger. Wir wollen aber die Wiedereroberung à tout prix —« »Wie haben sie sich an Prix versündigt!« »— und man hätte es so machen müssen wie in der Innern Stadt, wo Friedmann mit 150.000 Kronen war im Vorsprung, Im Rathausviertel aber hat sich der freiheitliche Genius mit seinen reinen Grundsätzen phönixgleich aus der Asche erhoben, es war Dr. Wilhelm Neumann, und auf den Schultern begeisterter Parteigenossen hoben sie ihn am Rathaus vorbei. Ein wahres Wunder ist geschehen. Dr. Wilhelm Neumann, der heute von einer jubelnden Volksmenge auf die Schultern gehoben und durch die Rathausstraße zum Parlament getragen wurde, hatte nach dem Ergebnis der Hauptwahl kaum eine ernste Aussicht durchzudringen. Dr. Wilhelm Neumann wurde unter brausenden Hoch-Rufen auf die Schultern gehoben. Als sich Dr. Wilhelm Neumann in das Agitationslokal der Freiheitlichen begab, wurde er von der daselbst versammelten Volksmenge mit stürmischen Hoch-Rufen empfangen und auf die Schultern gehoben. Als um halb 6 Uhr das Wahlresultat verkündet wurde, hoben einige Wähler den Dr. Wilhelm Neumann auf die Schulter, während stürmische Hochrufe erschollen —« »Hör’ schon auf, das hab ich jetzt fünfmal gehört!« »So wahr ich da leb, das wird morgen genau so in der Freien Press stehn. Man kann es ihnen nicht oft genug sagen! Zerschmettert sind sie, sag ich dir —« »Ich bitt dich Leo, steh auf endlich und schreite lautlos zur Urne!« »Der Blitz hat sie getroffen, zu Boden liegen sie, ein zu Boden weilender ungarischer Abonnent schreibt uns —« (Ihn wegdrängend und mit wild auflodernder Begeisterung:) »Kohary, es tagt! Jetzt sag ich dir geh, sonst versäumst du die Wiedergeburt!« (Kohary ab.)

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Und ich tat desgleichen und schrieb an die Neue Freie Presse:

»Jetzt, wo Not an Männern ist und wir Gattinnen freidenkender Bürger mit Aufregung den Stichwahlen entgegensehen, haben die Feinde des freien Gedankens es gewagt, einem Kompromiß zuzustimmen, welches geeignet ist, den erhebenden Gewinn, der kaum errungen, wieder hinzuopfern. Wie gewonnen, so zerronnen! Die Bresche, die wir im Sturmlauf gegen das klerikale Bollwerk geöffnet haben, soll sich wieder schließen? Nein! Wer noch einen freisinnigen Funken in sich spürt, wird am 20. Juni wissen, was er zu tun hat. Wir, die wir nur schlichte Hausfrauen sind, rufen aus voller Brust: Nieder mit den Dunkelmännern! Hoch die ›Neue Freie Presse‹! In Verehrung und mit heißem Dank für die herrlichen Leitartikel, per aspera ad astra! Marianne Bunzl, Grete Rosenberg, Hermine Pospischil, Stephanie Gödel.«

Ein Freund, der wie anno Erdbeben dabei war, meinte: Das wird nicht erscheinen. Ich sagte: Das wird erscheinen! Nicht im morgigen Abendblatt, sondern am Morgen der Stichwahl. Das hebt sie sich für den wichtigsten Tag auf. Es ist ein Partherpfeil, den ich gegen die Christlichsozialen abschieße. Es bedeutet sichere zwanzig Stimmen im Rathausviertel. Mein Freund sagte: Der freisinnige Funke, die Bresche und zumal die volle Brust — wird die Einsenderinnen verraten! Nein, sagte ich, es wird sie begehrenswert machen. Mein Freund sagte: Sie überschätzen die Dummheit der Leute. Ich sagte: Nein. Aber selbst wenn ich sie überschätze, die Zuschrift ist von der Bunzl, und darüber kommt kein Redakteur der Neuen Freien Presse hinweg ... Und sie erschien. Am 20. Juni. Gestrichen war nur der Satz: »Per aspera ad astra«, aus Platzmangel oder weil dieser Gedanke der Neuen Freien Presse bereits ein wenig abgebraucht erscheinen mochte. Sie war aber so gewissenhaft, ausdrücklich zu bemerken, daß die Zuschrift »unter anderem« den zitierten Wortlaut habe. Die Erkenntnis »Wie gewonnen, so zerronnen« schien ihr apart und sie ließ sie stehen. Ich hatte andere Paradoxa unterdrückt, weil mein Zeuge mich bat, durch Übertreibungen nicht das Schicksal der Zuschrift zu gefährden. Ungern gab ich nach und meinte, die anderen Zuschriften, die von echter Freundeshand, würden ja doch stärker sein. Meine Befürchtung sollte sich erfüllen. Ich hätte das Unglaublichste hinschicken können, die Neue Freie Presse hätte es, ohne mit der bekannten Wimper zu zucken, gebracht. Daß nicht etwa blinder Eifer die Drucklegung bewirkt hat, beweist außer der Streichung die sorgfältige Umstellung der Namen. Sie hat, deutschfortschrittlich wie sie ist, des vollständigen Wahlsieges noch ungewiß, die beiden Jüdinnen taktvoll zurückgestellt, die Deutsche voran, die Slawin an zweite Stelle. Am Abend, als sie die Partie gewonnen hatte und Bunzl Atout war, mag es ihr leid getan haben. Dabei habe aber auch ich eine große Genugtuung erlebt. Die Neue Freie Presse hat mich zwar zur Zeit, da ich noch in der Glockengasse wohnte, Zivilingenieur war und unter dem Namen Berdach schrieb, als Geologen ernst genommen, aber sonst von mir nichts wissen wollen. Jetzt unterstützte sie nicht nur meinen Versuch auf dem Gebiete der deutschfortschrittlichen Politik, sondern leitete ihn sogar durch die folgende schmeichelhafte Bemerkung ein:

Von vier Wiener Frauen, Stephanie Gödel, Hermine Pospischil, Marianne Bunzl und Grete Rosenberg, erhalten wir folgende schwungvolle und sympathische Zuschrift, die unter anderm lautet.

Meinen Schwung hat sie schon erlebt. Aber das hätte ich mir nie träumen lassen, daß sie mich einmal sympathisch finden werde. Man lernt nie aus. Aber auch die Neue Freie Presse wird noch eine harte Schule durchmachen müssen. Ich hatte sie gewarnt, und sie, der das Lied von der Glockengasse in den Ohren klingt, und die seit damals selbst das Schillersche Gedicht mit Mißtrauen betrachtet, ob es nicht doch ein Akrostichon gegen die Neue Freie Presse verberge, hätte endlich so weit sein sollen, sich den Zuschriften berauschter Analphabeten zu versagen. Zumal, wenn Weiber zu Hyänen werden, muß das nicht immer von der Begeisterung für Freiheit und Gleichheit kommen, sondern es kann auch darin seinen Grund haben, daß dem Ewigblinden eine Himmelsfackel geliehen wurde. Heißen Dank für die herrlichen Leitartikel — welches Intelligenzblatt der Erde hätte nicht schon daran gemerkt, wie viel es in der Glockengasse geschlagen hat! Wo in allen Weltblättern, außer in diesem stupidesten, hält man es noch für glaubhaft, daß Weiber, und vier auf einmal, an einem Leitartikel heiß werden? Aber der Wahlsieg ist nun einmal ein Erdbeben, und da spürt die Neue Freie Presse meine Stöße nicht. Sie verzeichnet die wenigen »noch hie und da herumschwankenden Säulen«, läßt den kranken, aber fortschrittlich gesinnten Abonnenten zu Wort kommen — wie sollte sie den schwächeren Spott von der stärkeren Lächerlichkeit des Ernstes unterscheiden können? Ihre Wähler sind sehend geworden — sie ist vom Licht der Freiheit geblendet. Sie sieht nichts, merkt nichts, auch den Hohn nicht, wenn ein deutschnationaler Journalist sie mit »Schriftleitung« apostrophiert und sich selbst als Redakteur unterzeichnet, sie sieht nicht nach rechts und nicht nach links, sie sieht nicht einmal in den Wohnungsanzeiger, ob es wirklich vier solche entmenschte Weiber in Wien gibt, die einen solchen Brief zustandebringen. Sie druckt alles. Ich habe sie gewarnt. Wer nicht hören will, muß drucken. Und sie wird nicht eher Ruhe geben, bis ich ihr eines Tages honorarlos das ganze Blatt fülle.

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Noch in den späten Nachtstunden stand heute das Straßenbild Wiens unter dem starken Eindrucke der Wahlergebnisse. Auf der Ringstraße schüttelte ein kräftiger Wind die Kronen der dichtbelaubten Bäume Staunend standen viele der Leser auf der Straße still, gleichsam als wollten sie das Gehörte oder Gelesene nochmals überprüfen, und auch in den Wagen der Straßenbahn, welche die letzten Pratergäste oder Ausflügler in die Stadt zurückbrachte, flogen die Ziffern und Namen der Wahlresultate durch die Luft, und das Studium der Extrablätter schien die meisten Fahrgäste in Spannung und Erregung zu versetzen. Man hörte verschiedene Aussprüche, wie ›So hat es kommen müssen‹, ein anderer Fahrgast derselben Gesellschaft mit blondem Vollbart und Zwicker warf unter dem Beifall der Gesellschaft ein: ›Das ist das Ende der Wiener Agrarpartei‹. — In den Verkehrsstraßen der Innern Stadt hatten sich vor und in den Kaffeehäusern kleinere Gruppen gebildet, welche die Wahlergebnisse besprachen .... Selbst die Kutscher und Chauffeure auf den Standplätzen sind eifrige Politiker geworden und debattierten, die letzten Zeitungen in der Hand haltend, in oft überlauter, erregter Diskussion, bis ein Fahrgast ihre Unterhaltung störte.

Dieser eine Fahrgast war ich. Ich bin der Antipode des Fahrgastes mit blondem Vollbart und Zwicker und störe die Unterhaltung. Ich habe die Gehirnjauche der Sieger, mit der sie die Morgenröte durch drei Wochen bespritzt haben, ich habe den zu Zeitungsdreck erstarrten Unflat aus Jargon und Phrase ausgeschöpft, gesammelt und in seiner ganzen phantastischen Wirklichkeit, in seiner ganzen unsäglichen Wörtlichkeit kommenden Tagen überliefert. Ich bin die Muschel, in der das Geräusch fortsingt. Sie werden hören, was sich in dieser Zeit und in dieser Gegend eine neue, freie Weltanschauung genannt und welche Sorte rabiater Wucherer als deren Hüter aufzutreten sich erfrecht hat. In was für Mäulern das Deutschtum, in was für Händen die Freiheit und in was für Füßen der Fortschritt aufgehoben war! Wenn nicht die Phrase selbst Rache nimmt und lebendig wird, wenn nicht eines Tags Sturmflut und Erdbeben wirklich ihr Werk verrichten, man wird es dereinst nicht verstehen, wie die damalige Vorsehung das alles unter sich ergehen lassen konnte! Nichts verbindet mich mit den Besiegten. Aber wer immer sie wären, und wenn sie mir Brot und Fleisch unerschwinglich gemacht hätten, ich spüre nur den unersättlichen Haß gegen die Visage des Siegers, von dessen Lippen gratis Milch und Honig fließt! Mit solchem Völkerspielzeug, wie es die Politik ist, gebe ich mich nicht ab. Ich weiß, daß man ihnen die Freiheit lassen muß, »es lebe die Freiheit« zu rufen. Aber ich weiß auch, daß es nichts Fürchterlicheres gibt, als wenn die Dummheit zur Besinnung kommt oder wenn ein Universitätsprofessor unter dem Vorsitz eines Friseurs sein Programm entwickelt und sich von einem Selcher empfehlen läßt. Und nichts Widerlicheres, als wenn ein mit allen Geldern geschmierter Journalausbeuter, dem nichts heilig ist als die Politik der offenen Hand, einer Partei vorwirft, daß sie die innere Überzeugung ihrer Leute vergewaltigt habe, und wenn auf diese Phrase ein Journalist kandidiert, der sie im Dienst des liberalen Brotgebers an seinem Leibe erlebt hat. Der Zwang, das Kruzifix zu grüßen, scheint mir noch immer kulturvoller als die Anbetung einer aufklärenden Kanaille, die das ganze Staatsund Privatleben unter ihrer erpresserischen Fuchtel hält und einen volksbildnerischen Verein zwingen kann, einem Mißliebigen den Saal zu sperren. Diese lästigen Hausierer der Freiheit, die, wenn das Volk schon gar nichts kaufen will, mit dem Präservativ der Bildung herausrücken, mögen sich eine Zeitlang des Erfolges ihrer Zudringlichkeit freuen — die Kultur hat es immer noch lieber mit den Hausknechten gehalten! Dieses Gesindel will von Weltanschauung reden, weil es den nationalökonomischen Mist wirklich geschluckt hat, den Herr Bielohlawek verabscheut, und will den Verdacht der silbernen Löffel, die es gestohlen hat, auf Leute abwälzen, die nichts weiter als den Mut verbrochen haben, das Bismarck-Wort zu unterstreichen: »So gottgläubig ich bin, so wenig traue ich den Ärzten«. Ich kenne die idealen Güter nicht, die die Sippe außer der Fleischversorgung und dieser vorgeschriebenen Ration von Phrasen zu verteidigen hat, aber ich will für sie in Versammlungen eintreten, ich will dem Genius der Freiheit zwei Stimmzettel opfern, wenn jemand imstande ist, mich über die Aufklärung aufzuklären, und wenn es einem dieser Phönixe gelingt, mit einem einzigen Gedanken aus der Asche emporzusteigen. Die gräßliche Zeit, wo der Ernst des Lebens zur Urne nicht geht, nicht fährt, nicht läuft, sondern schreitet, und wo die politische Reife gebeten wird, nicht die Kandidaten zu verwechseln, ist nun vorüber. Es wird sich nichts ändern; und es ist nur gut, daß die Leute, die den Staat mit Presse und Börse »effektiv« regiert haben, jetzt auch den Schein der Macht erhalten, der vor ihr warnen könnte. Man soll wünschen, daß der Greuel in der Majorität ist, dann wird der Kehrbesen wieder taugen, der als Szepter versagen mußte. Daß aber die Begeisterung den Wahlsieg überlebt, das glauben die am wenigsten, die den alten Gassenhauer mit ihrem Bollwerkel aufspielen. Oder meint wirklich noch einer, daß ein flammender Protest flammen kann? Wie kommt es denn, daß der liberale Inhalt keine andere Sprache findet als dieses entsetzliche seit Banalitätsäonen millionenmal ausgespuckte Idiom? Wie kommt es, daß man sich den Phönix nur noch als Versicherungsagenten vorstellen kann und den Genius der Freiheit nur noch als schäumenden Börseaner? Wie kommt es, daß man die Parolen eines Wahlkampfes nur zitieren und durcheinandermischen muß, um das klinische Bild einer säkularen Hirnhautentzündung zu erhalten? Aber mein Amt ist es, über dem Kleinen die großen Zusammenhänge zu übersehen. Und so erwarte ich von dem Aufschwung der freisinnigen Weltanschauung die Abschaffung der Trompete des Beiwagenkondukteurs! Die spätere Entwicklung stelle ich mir so vor: Entziehung des Telephons, eventuell des Wahlrechts, im äußersten Fall der Menschenrechte für Herren mit blondem Vollbart und Zwicker, die auf der Straße »So hat es kommen müssen!« ausrufen oder »Das erste wird jetzt sein, daß —«. Einführung des Robots für volkswirtschaftliche Redakteure. Mit den Christlichsozialen habe ich nichts zu schaffen. Sie waren ein Gegengift, das sich selbständig machen wollte. Wie alles Gute, mußten sie in Wien den Weg alles Schlechten gehen. Aber wenn sie die schwarze Pest selbst wären, so wünsche ich sie diesen Lichtbringern an den Hals!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 326/327/328, XIII. Jahr
Wien, 8. Juli 1911.