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Januar 1909

Die Erde will nicht mehr

In Palermo ziehen jetzt die Menschenmassen, Heiligenbilder tragend, durch die Straßen, und in Catania wurde die silberne Büste der heiligen Agathe aus dem Silberschrein geholt Die frommen Sizilianer rufen jetzt den Himmel an, er möge ihnen helfen und sie vor weiterem Unheil bewahren ...

Wir flüchten zur Wissenschaft. Wenn wir nämlich nicht gerade das Pech haben, in Sizilien eine liberale Zeitung herauszugeben.

Schon haben die Männer der Wissenschaft Apparate gebaut, die selbst in einer Entfernung von vielen tausend Meilen die Erdbewegungen verzeichnen ...

Je größer die Entfernung, desto sicherer funktionieren die Apparate. Nur wenn sie sich am Orte des Erdbebens befinden, ist Gefahr vorhanden, daß sie Schaden leiden.

Das, was Eduard Sueß so geistvoll den Pulsschlag des Erdballs genannt hat, wird mit wissenschaftlicher Genauigkeit bekannt sein ...

Das wird aber den Pulsschlag der Erde nicht weiter genieren. Und ihre Bonmots sind überraschender.

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Die frommen Sizilianer werden sich doch einmal darüber aufklären lassen, daß die Priester sie vor Erdbeben nicht bewahren können. Die frommen Redakteure werden dem Glauben, daß die Geologen es imstande seien, nie abschwören.

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Goethe habe geschrieben:

»... In Messina waren alle Gebäude vom Erdboden zusammengerüttelt, aber die Kirche und das Kloster der Jesuiten standen ungerührt, als wären sie gestern gebaut. Es war nicht die Spur an ihnen zu bemerken, daß die Erderschütterung den geringsten Effekt auf sie gehabt.«

»Mit diesen Worten«, beeilt sich der Freisinn hinzuzufügen, »wollte Goethe auf die vorzügliche Bauart der Kirche und des Klosters hinweisen«.

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Generalleutnant Mazza zum Spezialkorrespondenten:

»Fragen Sie nicht zu viel, wir werden tun, was Vernunft und Herz uns eingeben.«

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Ein süßer Trost ist ihm geblieben:

Palmi ist zerstört. Im Schutt seiner Häuser fanden 6000 Menschen ihren wer weiß wie schmerzhaften Tod. Bagnara ist ein Massengrab. Scilla und Cannitelli sind dem Boden gleichgemacht ... Südwestwärts von Bagnara ist das Geleise verschüttet, der Tunnel zwischen San Giovanni und Reggio zerstört ... Die dem Erdbeben nachfolgende Sturmflut hat das Ufergelände, auf welchem die Bahn gebaut ist, zerrissen, zerklüftet und verwüstet. Drei Wegstunden von Reggio liegen seit Tagen dreißig Lastwagen mit Lebensmitteln und können nicht durch. Angesichts dieser Umstände ist es ein Glück, daß der Abgeordnete De Nava sich unser annimmt. Wir fahren mit ihm nach Neapel zurück ...

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»Austria non si muove«, hatte ein italienisches Lügenblatt behauptet. Aber es wird nicht nur Geld gesammelt, sondern der Hotelier vom Semmering hat auch dem Minister Tittoni seine Teilnahme ausgedrückt. Eppur si muove!

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Die Erde will nicht mehr. Es war bloß ein nervöses Zucken — und der Jammer ist unendlich. Wenn ihr aber wirklich einmal die Geduld reißt? Sie macht mobil, seitdem die Menschen die Eroberung der Luft versuchen.

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Es gewährt einige Beruhigung, dies Wüten der Natur gegen die Zivilisation als einen zahmen Protest gegen die Verheerungen zu empfinden, die diese in der Natur angerichtet hat.

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Aus allen Berichten, so sehr sie auch sonst divergieren, scheint mit Sicherheit hervorzugehen, daß sich die Journalisten gerettet haben.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 270-71, X. Jahr
Wien, 19. Jänner 1909.