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Dezember 1909

Prozess Friedjung

Austria in orbe ultima: in einer Welt, die betrogen wird, glaubt Österreich am längsten. Es ist das willigste Opfer der Publizität, indem es nicht nur glaubt, was es gedruckt sieht, sondern auch das Gegenteil davon glaubt, wenn es auch dieses gedruckt sieht. Seine Bevölkerung ist ereignisläufig. Aber sie erlebt das Ereignis nur als Meldung, und darum kann ihr die Journalistik die Ereignisse entwinden, die sie ihr eben erst verschafft hat. Die Welt rings liegt in der Agonie der Dummheit, aber sie weiß immer noch, was sie in der Hand hält. Österreich weiß es nicht. Heute ein Maulaufreißen, daß man glaubt, es tropfe von der Milchstraße herunter, morgen »Ah wos!« mit Achselzucken, übermorgen eine neue Sensation. In keinem Staat der Erde wäre diese Tragfähigkeit der Blamagen denkbar. Wohl, die Menschheit wagt es, sich nach der Nordpolgeschichte noch vor der Tierwelt zu zeigen, als ob nichts geschehn wäre. Aber es gibt eine Empfindlichkeit für die nationale Schande, und jeder Preuße wurde noch Jahre nach Köpenick schamrot. Österreich hat kein Gedächtnis. Nichts kann es aus dem Gleichgewicht bringen, weil es in fortwährender Erschütterung ist. Nichts tötet, die Lächerlichkeit macht populär, ein Zeitungsblatt deckt jede Schmach zu. Prozesse um die Privatehre dienen hier dem Beweis der Gefährlichkeit, in einen Krater eine brennende Zigarette zu werfen. Es ist alles Wurst: der Grundsatz einer ordinären Genußphilosophie, die den Falstaff übertrumpft, indem sie der Ehre die Ehre erweist, sie zu den Viktualien zu zählen. Dieses öffentliche Leben, das auf der Grundlage der allgemeinen, gleichen und direkten Ehrlosigkeit beruht, empfindet manchmal das Bedürfnis, sich zu überzeugen, ob diese Grundlage auch sicher genug ist. Es expektoriert sich zuerst in moralischem Auswurf, und wenn es dann den Schleim vom Boden wieder aufgeleckt hat, ist die Probe gelungen. Aber ihr habt doch gestern noch —? Mit solchem Vorhalt verschone man die stolze österreichische Bewußtlosigkeit, die weiß, was sie tut, wenn sie vergißt, was sie getan hat. Oder man versuche ihr vorzuhalten, wie oft sie in vierzehn Tagen eines politischen Prozesses die Farbe gewechselt hat: sie wird nicht rot werden! Man stelle die Leitartikel zusammen, die am Anfang und die am Ende waren, und man frage sich, ob irgendeine Bevölkerung der Welt den Geduldfaden aufbrächte, der die Extreme verbindet. Ob irgend wo anders binnen vierzehn Tagen die Konsequenz der Lüge so durchbrochen werden dürfte. Ob es nicht zu Fenstereinwürfen, Straßenaufständen, Verprügelung der Schriftgelehrten käme. Hier riefen sie: Österreich ist in Gefahr!, und die Menge sagte: Nein, so was! Dann riefen sie: Aber es war ja gar nicht in Gefahr!, und die Menge sagte: Nein, so was!

Aber sie respektiert nicht nur die Unverletzlichkeit jener Mauschelmajestät, die täglich zweimal als »Wir« zu ihr spricht. Sie jagt auch nicht jene Sitzredakteure des österreichischen Gewissens davon, die ihr erreichbar sind und deren Namen sie kennt. Wäre in irgendeinem Erdenwinkel, wo ein Volk zum Glauben an den politischen Hokuspokus erzogen wurde, eine Enttäuschung, wie die hier erlebte, ungestraft geblieben? Minister fallen, wenn’s einem Lakaien beliebt auf die Hintertreppe eine Orangenschale zu legen. Hier hat man im Gerichtssaal die Worte gehört: »Durch diese Dokumente sollte vor Europa der Beweis erbracht werden, daß Österreich-Ungarn durch illoyale Verbindung Serbiens mit unlauteren Elementen unserer Monarchie genötigt gewesen war, zu den Waffen zu greifen.« Ein mißbrauchter Historiker sprach es, die Dokumente, die den Scharfblick von Mittelschülern nicht täuschen konnten, werden als Fälschung erwiesen, und der Mann, der den guten Glauben eines Historikers, einer Bevölkerung, Europas mißbraucht hat, ohne zu seiner Entschuldigung anführen zu können, daß er selbst nicht mißbraucht wurde, der Staatsmann, der das Opfer eines Operettenfälschers ist, Graf Aehrenthal, der für die Vorbereitungen eines Krieges und für die Beweise von dessen Notwendigkeit unser Geld nicht geschont hat, der unsern Glauben verbraucht hat, um unser Blut zu opfern, er verläßt uns nicht in den Stunden des Zweifels, er geht nicht zu den Eskimos, er, der Verurteilte dieses Prozesses, gibt uns keine Ehrenerklärung, und wir werden die Kosten bezahlen. Denn der Historiker Friedjung, der nur Dokumente von der Regierung nimmt, wird sich die Kosten nicht vom Ministerium zahlen lassen, sondern von der Neuen Freien Presse, die sie vom Ministerium erpressen wird.

Nicht daß die österreichischen Ereignisse keinen Grund haben, aber daß sie keine Konsequenz haben, ist trostlos. Es geschieht so viel, und es geschieht nichts: das ist die österreichische Geschichte, die Herr Friedjung nie zu schreiben imstande wäre, auch wenn ihm echte Dokumente zur Verfügung stünden. Das ist die österreichische Geschichte: daß im Konflikt des Zufalls mit der Dummheit Ereignisse entstehen. Daß Politik nicht gemacht, sondern kompromittiert und geduldet wird. Daß der Schwindel seine Hülle hinwirft und kein Österreicher den Glauben verliert. Die internationale Diplomatie — ein Terrain, auf dem das Fallen eines Blattes ein Erdbeben zur Folge hat: hier kracht die Erde und kein Blatt fällt vom Baum. Die Sache ist interessant, man spricht davon, aber man zieht keine Konsequenz. Man würde sich mit dem Weltuntergang befassen, solange er aktuell wäre, aber man würde keine Konsequenz aus ihm ziehen. Hinausgeworfene tausend Millionen: so haben wir Platz im Sack, um die Faust darin zu ballen.

Nicht die fünfzig serbo-kroatischen Kläger, deren jeder an Kopf, Ehre und Gesittung dem Durchschnitt dessen, was sich in Deutsch-Österreich auftut, überlegen ist; ein ganzes, nicht völlig kulturverlassenes Volk, das durch Jahrzehnte gequält wird und seiner Regierung dennoch den Gefallen nicht tun will, Hochverrat zu begehen, stand vor den Wiener Geschwornen. Wie schwächlich doch die Markierungen sind, deren sich die Justiz bedient, wenn sie einen weltgeschichtlichen Prozeß zu erledigen hat! Auf der Anklagebank sitzt nicht der ministerielle Verführer einer gelehrten Unschuld, dem wahrlich noch immer besser ziemte, den dolus für sich anzusprechen, als einem Mann der Wissenschaft die Entschuldigung des guten Glaubens. Auf der Anklagebank sitzen nicht die Verantwortlichen, die einen kostspieligen Kriegsplan auf teuren Fälschungen aufgebaut haben, sondern der verantwortliche Redaktionsdiener einer Zeitung, der die pflichtgemäße Obsorge vernachlässigt hat. Wenn nicht neben ihm Herr Friedjung das weltgeschichtliche Moment und die Wiener Geschwornen das Weltgericht repräsentierten, es gäbe einen zu grimmigen Kontrast der Verantwortlichkeiten. Auch der Vorsitzende ist bemüht, ihn nach bestem Wissen und Gewissen auszugleichen. Herr Wach hat eine heikle Aufgabe. Denn diesmal handelt es sich nicht darum, einen Raubmörder schuldig zu sprechen, sondern die Serben als Raubmörder zu entlarven. Alle Delikte sollen ihnen nachgewiesen werden, nur nicht, daß sie Dokumentenfälscher sind. Es ist eine schwierige Situation. Wie soll man serbische Zeugen behandeln, die bedroht und eingeschüchtert wurden, ehe sie nach Wien kamen, und die dennoch gekommen sind und nicht einmal einen Meineid leisten? Wenn sie sich dazu hinreißen ließen, die Wahrheit lauter zu sagen, als notwendig ist, so herrscht man sie an: Mäßigen Sie sich!.. Stehen Sie ruhig!.. Wir sind hier in Wien!.. (Wenn sie’s nicht schon gewußt hätten, nun glauben sie’s.) Und im Ton eines Unterlehrers ermahnt man einen Belgrader Zeugen, dessen Lebhaftigkeit der schlechten Sache gefährlich zu werden droht, nicht zu vergessen, daß er Gymnasialprofessor sei. Es ist eine schwierige Situation. Man hilft sich, indem man den Verdacht eines kroatischen Hochverrats unermüdlich durch den Beweis zu erhärten sucht, daß Serbien in Kriegsbereitschaft war. Echte Bomben waren mit falschen Dokumenten gefüllt, immer qualvoller wird die Gewißheit; so sucht man von den falschen Dokumenten auf die echten Bomben abzulenken. Der serbische Sektionschef, dessen schmucklose Aussage dem schönrednerischen Patriotismus eines österreichischen Historikers im Nu alle Vorwände erdrosselt, wird, nachdem er gesagt hat, was er sagen mußte, durch die Fragestellung behutsam an den Rand des Amtsgeheimnisses gebracht, damit die Herren Rauchfangkehrer auf der Geschwornenbank »aha!« sagen und den Eindruck haben, einer wolle nicht sagen, was er nicht sagen muß. Daß Serbien gegen Österreich war, will man wenigstens von ihm noch hören, wenn er schon unseliger Weise beeiden mußte, daß die Dokumente gefälscht waren. Und Aussagen, die im telegraphischen Wege bekunden, daß nie Gelder aus Serbien nach Österreich für Hochverräter, wohl aber aus Österreich nach Serbien für Dokumentenfälscher gekommen seien und daß diese sich für die ausgeworfene Summe die Sache zu leicht gemacht hätten, werden vom Vorsitzenden tonlos abgehaspelt; denn für Geschworne, die die Angeklagten ohnehin wegen offenbaren Patriotismus freisprechen werden, sind derlei Indizien für die Unschuld der Kläger überflüssig. Was sie hören mußten, haben die Volksrichter gehört. Die Posaunentöne des jüngsten Gerichts klingen ihnen noch in den Ohren, mit denen dieser Vorsitzende den Kläger Supilo des Ehrenwortbruchs beschuldigte, als räudiges Schaf aus den Reihen der Kameraden stieß und die Korruption im Dienste des Vaterlands zu einem Beweis für Hochverrat herausarbeitete. Preßbestien, deren Fütterung mehr kostet als die Handvoll Kronen, die dem kroatischen Journalisten ein Wichtigmacher nachgesagt hat, durften aufbrüllen: »Heute wurde im Gerichtssaale das Rückgrat des Abgeordneten Supilo zerbrochen«; und das Neue Wiener Journal, dessen Schere rein ist und das noch nie für Geld einen Artikel gestohlen hat, durfte versichern, daß »der Ekel vor einer solchen Korruption uns eine weitere Beschäftigung mit Herrn Supilo verbietet«. Viele sind in der Wiener Publizistik, denen im Gerichtssaal noch nicht das Rückgrat zerbrochen wurde oder die dieser Gefahr nur dadurch entgehen, daß sie nie eines gehabt haben. Der Vorsitzende kennt sie, nicht von amtswegen: als literarischer Dilettant gewährt er ihnen manchmal seine Mitarbeit. Er ist vielleicht mit der schlechten Journalistik auf zu gutem Fuß, um über die Verhältnisse, in denen Herr Supilo wirkte, ein unbefangenes Urteil abzugeben. Und der Verlauf des Prozesses hat bewiesen, daß Herr Supilo es noch immer nicht nötig hat, sich in die »Concordia« aufnehmen zu lassen. Aber selbst wenn es ihm ad personam gebührte, wenn es damals jenem österreichischen Gschaftlhuber glücklich gelungen wäre, ihn zu korrumpieren — an jüdisch-deutsch-österreichischen Maßen gemessen, scheint die südslawische Preßkorruption noch immer aller Achtung wert. Und solcher Schande wäre sie unfähig, daß sie einer Justiz nach solchen Exzessen der Befangenheit Leitartikelehren erwiese und das Walten der österreichischen Gerechtigkeit als die Lichtseite dieser welthistorischen Blamage besänge.

Aber was hat in einer Schlußstimmung zwischen Gloria in excelsis deo und Gut is gangen, nix is gschehn an Feilheit, Feigheit und Gefühlsschlamperei nicht alles Platz, wenn man noch dazu bedenkt, daß Weihnachten vor der Tür steht und andre Sensationen auch dran kommen wollen? In einer Stimmung, in der die Instanzen und Autoritäten einander vor dem Publikum rekommandieren wie die Kaffeesieder bei einer Geschäftsübernahme; in einer allgemeinen Loyalitätswäsche, bei der selbst die Waschfrau des Landesgerichts schon auf das Sechserl wartet und angenehme Feiertag wünscht. Männer, wie sie unter den Klägern und unter den Zeugen dastanden, wortknappe Anwälte einer verleumdeten Wahrhaftigkeit wie dieser Doktor Popovic, die »Serben in Wien«, die mühelos über den Wiener Intellekt gesiegt haben — sie dürften froh gewesen sein, als sie diesem Charakterbrei den Rücken kehrten, aus dem keine Tat wächst und kein Gedanke. Keine materielle und keine geistige Konsequenz. Der Politik schadet’s nicht, und die Wissenschaft wird von der Presse immer noch als Mitarbeiterin zugelassen werden. Der Sturz der Autoritäten wird im Gedränge nicht bemerkt. Aktuell sein ist alles. Und dennoch war’s ein Krach, den man erst nach hundert Jahren hören wird. Jetzt werden sie weiter miteinander plaudern, wie auf dem Concordiaball, auf dem man die Wissenschaft im Zwiegespräch mit der Politik bemerkt, und nicht wissen, daß sie gestorben sind. Dieses Schönbartspiel des Gelehrtentums, diese Inzucht von Staatsgeschäftigkeit und Wissenschaftlhuberei, diese Bereitschaft, wenn’s sein muß, für das Vaterland mit Phrasen zu kämpfen und »wenn’s zu einem Waffengange mit dem Feind kommen sollte«, in der Neuen Freien Presse die Save zu überschreiten und »dem Serben eine Schlacht zu liefern«, aus wissenschaftlicher Gutgläubigkeit gegenüber einem Blatt, das mit sich reden ließe, wenn der Serbe statt einer Schlacht rechtzeitig etwas anderes geliefert hätte —: das alles gibts ja gar nicht mehr. Dies Bündnis gehört in eben jene Zeit, in der Herr Friedjung noch die Neue Freie Presse bekämpfte und von ihr mit Recht ein »feierlicher Tropf« genannt ward. Heute, wo sie viel vaterlandsfeindlicher und der deutschen Kultur gefährlicher ist als Serbien, heute nennt er es im Gerichtssaal »nur eine Ehre«, ihr Mitarbeiter zu sein, oder was noch schlimmer ist, er muß es sich gefallen lassen, wenn sie den Satz in ihren Gerichtssaalbericht hineingefälscht hat. Wenn’s überhaupt noch eine Empfänglichkeit für Enttäuschungen gäbe, wenn unsere Haut noch eine druckempfindliche Stelle hätte, dann wäre in diesem hochpolitischen Prozeß der schleißige Dreibund von Politik, Presse und Wissenschaft und jede der drei Ohnmächte für sich kaputt gegangen. Wir werden doch nicht von einer Verschwörungsoperette das Gruseln lernen? Wir werden doch endlich von der kulturellen Nichtigkeit einer wissenschaftlichen Bedeutung überzeugt sein, die eine Dienstmannsleistung, die Übernahme von Protokollen, als wissenschaftliche Tat ausruft? Wir werden uns doch nicht länger von einer Gelehrtheit imponieren lassen, weil sie einen Umhängebart und eine Brille trägt, sich einen Hochverrat so gut wie einen Nordpol aufbinden läßt und zwischen Kopenhagen und Belgrad von jedem Kommis beschissen werden kann? Oder geht ein Riß durch das geistige Bild des Herrn Friedjung, weil er sich zufällig in eine so kitschige Katastrophe einließ? Sollte sie uns nicht vielmehr über die echten Werte eines Historikers aufklären? Daß hier zum Sitzfleisch der Wissenschaft noch die Übung des Berichterstatters kam, das brachte den Namen Friedjung in aller Mund. Geschichte ist zumeist die Wissenschaft jener Leute, die nicht imstande sind, einen Leitartikel abzufassen. Herrn Friedjung eignet diese Fähigkeit in hohem Grade, und in der Art der vorigen Generation, die noch die Syntax beherrschte, aber dem Sprachgeist darum nicht näher war als die heutige, die mit Psychologie und Stimmung über ihr Unvermögen täuscht. In Prag dürfte diese Richtung eines schönrednerischen Geistes entsprungen sein, der in der korrekten Phrase sich befriedigt, dem Deutschtum zuliebe kein Komma verschluckt, Sprichwörter wie eine Prise Schnupftabak sich gönnt, »ei siehe da« sagt und selbst die Schlichtheit als Ornament trägt. Diese Sorte, die genau so schreibt wie sie spricht, weil sie so spricht wie sie schreibt, fern vom Schuß des Gedankens und von der Gefahr der erlebten Worte, bezog kühn ihre Blutleere aus dem Kreise kriegerischer oder ritterlicher Vorstellungen. Es waren lauter »Kämpen«, die hier — anonym oder »mit offenem Visier« — in die Federschlacht zogen. Noch heute ist der Ton der Neuen Freien Presse auf diese entfernte Freude am Waffenhandwerk gestimmt, und darin erreicht ihre Berichterstattung über den Prozeß Friedjung geradezu eine künstlerische Höhe, daß sich hier wirklich das Phrasentum der Beschreibung mit dem Phraseninhalt der Handlung deckt. Nicht nur daß das Auditorium jedesmal »mit lebhafter Spannung den fesselnden Ausführungen des Angeklagten folgte« oder daß dieser jedesmal »ein Netz von Fragen über den Zeugen warf« — solche Mittel sind im Kriege erlaubt —, typisch ist das folgende Stimmungsbild: »Zwischen den Parteienvertretern fanden heute schon bei den Verlesungen der Dokumente mitunter kleine Kämpfe statt, in die auch der Angeklagte Dr. Friedjung verwickelt wurde. Die Klingen wurden halb gezogen, es gab kritische Momente, und empfindliche Punkte des Beweisverfahrens wurden berührt. Aber bei aller Schärfe der Intention war doch eine gewisse Zurückhaltung im Ton wahrzunehmen, und auch über die Gereiztheit siegte noch eine Beherrschung, ja eine chevalereske Form.« Das ist Sprache und Lebensstimmung des Dr. Friedjung. Fortiter in re, suaviter in modo; denn allzu scharf würde schartig machen. Warmblütig, jedoch maßvoll. Temperamentvoll, aber temperamentlos. Goldene Worte aus Papier. Wenn er stolz erzählt, daß er noch mehr Dokumente habe und daß er mit dem Plan umging, sie ausgerechnet »während des Vormarsches unserer Truppen« in der Freien Presse zu veröffentlichen, um Europa zu überzeugen, daß »wir« nur infolge von Herausforderungen »zum Schwerte gegriffen hätten«, so kann man überzeugt sein, daß ihm das Anschauen kriegerischer Bilder zwar Vergnügen macht, daß er aber genug Geistesgegenwart besitzt, rechtzeitig zur Feder zu greifen und das Erlebnis den »Tausenden und Abertausenden unserer Brüder und Söhne« zu überlassen. Die daran hätten glauben müssen, weil Herr Friedjung an die Dokumente glaubte, und denen es nur deshalb erspart blieb, weil im letzten Augenblick »der Thronfolger Prinz Georg infolge der Tötung eines Dieners, den er mit den Stiefelabsätzen zertreten hatte, zur Niederlegung seines Rechtes auf die Erbfolge genötigt war«. Immerhin ein humanerer Grund, um einen Krieg zu unterlassen, als die Fälschung von Protokollen, um ihn zu führen.

Aber daß die Papiere, um die sich die Geister einer papiernen Welt geschart, durch einen Druckfehler beinahe Paniere geworden wären, bezeichnet die Gefährlichkeit dieses Handwerks. In den Redaktionen und Ämtern, in denen kein Gedanke zur Tat drängt, entspringen die bedenklichsten Anregungen aus der Phrase. Der Schmock wagt sich nicht vor die Tür, aber das Schmocktum erzeugt jene Räusche, denen der Jammer auf dem Fuß folgt. Wenn Herr Dr. Friedjung dieses Milieu meidet und die Gaben, die ihn in dessen Nähe führten, nur bei der Beschäftigung mit vergangenen Ereignissen verwendet, so wird ihm die Unkontrollierbarkeit der Tatsachen sowohl wie die Flüssigkeit der Darstellung den Ruf eines großen Historikers erhalten. Es wäre eine Unehrlichkeit, wollte ich nicht offen zugeben, daß der »Kampf um die Vorherrschaft« zu jenen berühmten Büchern gehört, die ich nicht gelesen habe. Aber ich lasse mich köpfen, wenn ich nach der Lektüre anders über den Autor urteile; und wenn ein Mann der Wissenschaft darauf besteht, daß man ihm den guten Glauben attestiere, so ziemlich die einzige Qualität, die ihn in seinem Fach entwurzelt, so kann ich verlangen, daß man mir den guten Zweifel an einer Persönlichkeit einräume, von der ich nur ein einziges Dokument kennen muß, um auf die Unechtheit aller übrigen zu schließen. Und der grundsätzliche Zweifel an der Urteilsfähigkeit der heutigen intellektuellen Welt überhebt mich der Mühe, mich zu jedem einzelnen ihrer Ideale herabzulassen. Ich glaube nur das eine: daß die journalistische Geläufigkeit in der Behandlung entlegener Dinge, die sonst der Schwerfälligkeit einer Fachwissenschaft ausgeliefert sind, die meisten täuscht und auch viele, die solche Qualität in der Behandlung aktueller Politik unerträglich finden. Und ich glaube, daß anderseits die zeitliche Entfernung als stoffliches Moment wieder dem Journalisten zugute kommt und aus ihm genau so einen Mann der Wissenschaft macht, wie sie aus ihm einen Novellisten machen könnte. Man ahnt gar nicht, wie sehr die Hilfe stofflicher Distanz, sei es nun die des Ortes oder der Zeit, wirksam ist, um dem Schreibenden das Interesse des Lesers anzunähern. Wer über Bukarest schreibt, ist schon ein Dichter; das Talent beginnt in der Leopoldstadt. Warum sollte nicht, wer über Königgrätz schreibt, ein Historiker sein? Herr Dr. Friedjung hat nur die Unvorsichtigkeit begangen, die ruhige Wirksamkeit des Stoffes, der so viel für ihn getan hat, den Gefahren des Zweifels preiszugeben, indem er sichs einfallen ließ, auch in der stofflichen Welt des Tages, die so leicht überprüfbar ist, literarische Ehren zu suchen. Oder um mich in seiner Sprache auszudrücken: es war verfehlt, vom Piedestal der Wissenschaft in die Arena der politischen Kämpfe hinabzusteigen. Man könnte leicht den guten Glauben an seine historischen Quellen verlieren, wenn man erfährt, wie die der Gegenwart beschaffen sind. Man mag befürchten, daß auch von jenen am Ende nichts übrig bleibt als der gute Glaube des Historikers. Zumal wenn man ihn im Gerichtssaal als einen Beweis seiner Gewissenhaftigkeit anführen hört, daß er die Telegramme zwischen Benedek und dem Kaiser vom früheren Generalstabschef Grafen Beck erhalten habe. Die Dokumente des serbischen Hochverrats nun habe er von Männern erhalten, »die dasselbe Vertrauen verdienen« wie der Graf Beck. Das ist am Ende wahr. Es ist wahr, daß der jetzige Generalstabschef (jener Conrad v. Hötzendorf, dessen Name unbedingt nach einer Schlacht an der Drina zum Gebrauch für Mittelschulen ruft) die Dokumente geprüft hat; es ist wahr, daß sie sich als gefälscht herausgestellt haben; und es ist also zum mindesten gefährlich, die Quelle älterer Dokumente, die schon ihre Schuldigkeit getan haben, noch zu nennen. Freilich behauptet Herr Dr. Friedjung, ein gewisses Vertrauen müsse ein Historiker für sich in Anspruch nehmen können; denn sonst würde niemand glauben, daß Alexander der Große gelebt habe: wir wissen es nur, weil es uns die alten Geschichtsschreiber erzählt haben. »Aber wir glauben und vertrauen ihnen.« Nun, ich würde nach den Ergebnissen des Prozesses Friedjung auch in diesem Punkte zur Vorsicht raten. Und es war um so bedenklicher, an der Glaubwürdigkeit der Quelle, der Herr Dr. Friedjung den Depeschenwechsel von 1866 verdankt, die Verläßlichkeit jener andern, welcher er die serbischen Protokolle verdankt, zu messen, als zum Beispiel ein Gespräch, das der Graf Beck im Jahre 1904 mit dem General Kuropatkin — in Österreich — gehabt und das der Graf Beck dem Herrn Dr. Friedjung in einer Gesellschaft erzählt hat und das Herr Dr. Friedjung in einer vaterländischen Revue veröffentlicht hat, vom General Kuropatkin mit der Behauptung dementiert wurde, er sei im Jahre 1904 gar nicht in Österreich gewesen. Nun ist es ja ebenso möglich, daß der General Kuropatkin die Unwahrheit sagt, wie es sicher ist, daß der Graf Beck ein steinalter Herr ist. Aber wir haben aus dem Prozeß erfahren, wie von einem schlichten Alibi eines Belgrader Professors die ganze Beweiskraft hochverräterischer Dokumente abhängt, die uns vor Europa genötigt hätten, »zum Schwerte zu greifen«. Herr Dr. Friedjung hat sich freilich auch in dieser Angelegenheit als Historiker, der der Wahrheit die Ehre gibt, bewährt. Er war, wie die Zeitungen versicherten, »gewissenhaft« genug, zuzugeben, daß der Professor Markovitsch an jenem 22. Oktober, da er in Belgrad zum Krieg trommelte, in Charlottenburg, Grohlmannstraße 30 sich aufhielt, nachdem dies vom dortigen Polizeipräsidium bestätigt worden war und der Historiker der Beweiskraft eines Meldezettels nicht widerstehen konnte. Er ist — auf dieser Feststellung bestand er beim Ausgleich — »kein Klopffechter«. Niemand darf ihm jene Eigenschaft bestreiten, die er »Rechtschaffenheit« nennen würde. Und daß ein Belgrader Strafrechtsprofessor anstatt Bomben zu werfen gerade am entscheidenden Tag einem Vortrag des Doktor Lilienthal in Berlin beigewohnt hat, das zu wissen oder an eine solche Möglichkeit auch nur zu denken, ist traun nicht Sache eines Historikers. Nein, an dieses Datum mußten sich keine Zweifel heften. Und auf jene sentimentalen Phrasen der Dokumente, von denen Professor Masaryk sagt, sie seien nicht einmal die Sprache eines Gymnasiasten, konnte gerade er hineinfallen, denn er selbst würde sich erforderlichen Falles nicht scheuen, in einem Geheimprotokoll vom »goldenen Prag« zu sprechen. Was er aber als Historiker immerhin zur Grundlage seiner Forschung machen konnte, das waren die zwei Daten: der kroatischen Wahlen und der serbischen Anleihe. Hier war Wink und Möglichkeit zu einer Prüfung. Hier war es dem Historiker erspart, zum Dienstmann zu werden, der einen Auftrag des Herrn v. Aehrenthal in einer Redaktion abgibt, wenn nicht gar zum Polizeimann, der ihn an die zuständige Behörde leitet. Denn daß man die Wissenschaft mit Protokollen so hineinlegen kann wie die Neue Freie Presse mit einem Erdbebenbericht, den sie für echt hält, weil darin von kosmischen und tellurischen Erscheinungen die Rede ist, das hat der Spaßvogel in Belgrad gewiß nicht geahnt. Er hat für das Geld sein Pensum geliefert, aber nicht geglaubt, daß sich sogar die Wissenschaft dafür interessieren werde. Das Versprechen des Herrn Dr. Friedjung, dem man die Fehlerhaftigkeit jener beiden Daten vorhielt: er werde sich informieren, ist die prägnanteste Zusammenfassung der Pflichten eines Historikers. Ich habe keinen Respekt vor dem Handwerk. Nicht vor seiner Wichtigkeit, nicht vor seinem Ernst und nicht vor seiner intellektuellen Höhe. Ich war Hörer. Im Gerichtssaal. Ich war dabei, als die Wissenschaft vor dem logischen Einmaleins versagte, und der Überlegenheit nichts anderes übrig blieb, als sich mit dem stereotypen »Es ist doch merkwürdig —« den Schönbart zu streichen. Und da der Sektionschef Spalajkowitsch, auf dessen Entlarvung durch Herrn Dr. Friedjung alle Welt gespannt war, ja, ja und nein, nein sagte, was drüber ist aber für übel hielt, holte die Wissenschaft zu einer merkwürdigen Frage aus. Der Abgeordnete Masaryk hatte in einer Rede gesagt, daß die Mitglieder der Koalition kein Geld von der serbischen Regierung bekommen haben: wenn der serbische Sektionschef jenen Bericht an seinen Minister, der von der Bestechung handelt, verfaßt haben soll, »dann müßte Herr Spalajkowitsch die 12.000 Franken eingesteckt haben«. Es ist klar, daß der Redner aus der Unmöglichkeit der Unterschlagung auf die Unmöglichkeit des Berichtes schließen wollte. Aus einem logischen Argument wird nun unter den Händen des Historikers ein ethisches Gravamen, und Herr Friedjung glaubt, Masaryk habe aus der Tatsache des Berichts auf die Möglichkeit der Unterschlagung schließen wollen. Der slawische Abgeordnete habe also bloß die Kroaten — sie nahmen kein Geld, weil sie keins bekamen — heraushauen, aber die Serben als Werber des Hochverrats und zugleich Diebe — sie gaben kein Geld, weil sie es nahmen — hinstellen wollen. Masaryk habe »eine Vermutung« ausgesprochen: »darf ich den Herrn Sektionschef bitten, sich über diese Vermutung zu äußern?« Herr Friedjung erklärt, er wolle, wenn der Zeuge ihm den Gefallen erweist, »die Möglichkeit dieser hypothetisch ausgesprochenen Vermutung«, also die Defraudation zuzugeben, den Herren Klägern eine Ehrenerklärung ausstellen. Allgemeines Gelächter und Zwischenrufe, die aber der Vorsitzende nicht mehr mit der Mahnung »Meine Herren, wir sind hier in Wien«, zurückweist, weil diese Formel zu oft schon dem Chor der Kläger als Refrain gedient und weil sie zu offensichtlich sich als eine Bitte um Entschuldigung für Schwachsinn und schlechte Manieren herausgestellt hat. Man wartet mit Ungeduld, bis sich die Antwort des Zeugen durch das Sprachrohr des Dolmetsch an unser Ohr ringt. Sie läßt keinen Zweifel darüber, daß er die Frage nicht als eine Kriegslist des Gegners, sondern als geistiges Armutszeugnis auffaßt. Herr Dr. Friedjung ist zu rechtschaffen, um einen Zeugen mit solchen Manövern bei den Geschwornen herabsetzen zu wollen. Er hat im guten Glauben gehandelt. Es war wirklich eine Enthüllung, jene, die er nicht schuldig bleiben konnte, nachdem er vor dem Eintreffen des Sektionschefs Spalajkowitsch das Versprechen abgegeben hatte: »Während ich meinen Rechtsstreit mit den Klägern, die meine Mitbürger sind, mit Schonung durchführen möchte, werde ich gegen diesen Spalajkowitsch als den Feind meines Vaterlandes schonungslos vorgehen und ihm für seine diplomatische Laufbahn einen Geleitbrief mitgeben, der ihm in Zukunft noch sehr unbequem sein wird!« Und, ei siehe da: er brachte zunächst vor, daß der serbische Sektionschefin Bosnien einen Schwiegervater habe, der kein so großer österreichischer Patriot ist wie der Dr. Friedjung, und daß der Schwiegersohn wahrscheinlich nichts dazu tut, den alten Mann von dieser Verirrung abzubringen. Und da dies nicht wirkte, holte Herr Dr. Friedjung die Vermutung des Professors Masaryk »aus dem Köcher«. Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, und nicht mit der kroatischen Koalition! Herr Friedjung spricht gutes Burgtheaterdeutsch in dritter Besetzung. Sein Organ ist sonor, erinnert an Herrn Schreiner, und die verwaiste Rolle des Ottokar v. Horneck (»Dies Österreich, es ist ein gutes Land«) schreit nach ihm. (»Ottokar von Steiermark, irrtümlich auch O. von Horneck genannt, Geschichtsschreiber aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts. Dienstmann eines Herrn von Liechtenstein. Schrieb eine Reimchronik, die reich ist an ausführlicher Erzählung merkwürdiger Ereignisse, an Schilderung von Turnieren und Schlachten, wofür er reichhaltige Quellen benutzt, auch von Augenzeugen manche Mitteilungen erhalten hat. O. zeigt sich als ein in kirchlichen und politischen Dingen sehr freisinnig denkender Mann, weiß aber Gerücht und Fabel von wirklicher Geschichte nicht zu unterscheiden.«) Und es ist doch merkwürdig —: daß ihm an keiner Stelle seiner Verteidigungsrede das Zitat eingefallen ist »Der Österreicher hat ein Vaterland u.s.w.« Nie hätte er den Gegner durch Tücken und Ränke bei den Geschwornen schlecht gemacht; aber daß ein echtes patriotisches Gefühl, wenn’s nun einmal da ist, die naheliegende Wirkung zu Gunsten seines Besitzers »verschmähen« sollte (mit offenem mäh auszusprechen, Schule Strakosch), das sehe ich fürwahr nicht ein. »Ich stehe hier in einem Kampfe«, rief er, »in dem ich alles zu beweisen habe, was in dem heißumkämpften Artikel der Neuen Freien Presse stand«: gegenüber solchem Unrecht, daß man von gesetzeswegen genötigt ist, den Hochverrat, den man einem vorgeworfen hat, auch zu beweisen, darf man schon seine eigene Vaterlandstreue — wie sagt doch Friedjung — ins Treffen führen. Und wenn man noch dazu von den treuesten Dokumenten im Stich gelassen wird und zum Schluß sich gar die Berliner Polizei dreinmischt, dann beginnt man die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder nebst Bosnien und der Herzegowina ans Herz zu drücken, und wenn man bisher Patriot aus Notwehr war, so wird man nun Patriot aus Überzeugung, und ist »berechtigt, zu erklären«, daß die Dokumente schon deshalb von der Wissenschaft anerkannt werden mußten, weil sie auch höchststehenden Persönlichkeiten vorgelegen waren. Wahrscheinlich hätten die Geschwornen auf diese Eröffnung hin mit dem Freispruch gegen Herrn Dr. Friedjung vorgehen müssen. Wegen lückenlos bewiesener Vaterlandsliebe (sprich Patratismus). Da aber die Wissenschaft diese Ehrenrettung nicht überlebt hätte, zog sie es vor, sich mit den Feinden des Vaterlands auszugleichen. Sie hatten kein leichtes Spiel mit diesem Historiker. So wohlfeilen Kaufes ließ er sie nicht ziehen: sie mußten sich zum Zugeständnis bequemen, daß er ein Patriot sei und ein Mann des guten Glaubens.

»›Noch nicht!‹ ›Es spießt sich!‹ ›Es wird nichts draus!‹ ›Vielleicht doch!‹ ›Gemacht!‹« Es waren bange Stunden, ehe es dazu kam, und die Zeitungen haben uns mit dem ganzen Aufwand der für solche Zwecke vorrätigen Plastik das Kommen und Gehen der Parteien, das Summen und Surren des Auditoriums, das Munkeln und Mogeln der um den Ausgleich bemühten Autoritäten geschildert. Als endlich Herr v. Bärnreither, ein Fachmann für Loyalität, Unverbindlichkeit und Entgegenkommen, den der Präsident ins Beratungszimmer gebeten hatte, mit dem Mot herauskam: »Geduld bringt Rosen, aber auch zerrissene Hosen!«, da war der Bann gebrochen, und man wußte, daß nun bald alle Weihnachtsglocken läuten würden. »Eine Bemerkung, die viel Heiterkeit erregte«, hieß es in den deutschen Blättern. Im andern Lager wurden nachher Bemerkungen laut, die weniger nach der Gemütlichkeit einer politischen Kinderstube rochen, in der die Blamagen an den Christbaum gehängt werden. Der serbische Minister des Äußern zum Beispiel meinte, es habe »immer und überall freiwillige und übereifrige Vaterlandsretter gegeben, die den Gänsen des Kapitols den Rang abzulaufen suchten«. Fragt sich nur, wo die bessern Federn zu finden sind. Und der Präsident des kroatischen Landtags wollte wissen, ob das Vaterland denn nicht zufrieden sei, daß die Südslawen ihm ihr Blut geopfert haben, und ob es wirklich auch den moralischen Tod seiner Söhne fordere. Die Neue Freie Presse aber, der es seitdem die Rede verschlagen hat, hielt das »Vertrauen zur österreichischen Justiz« hoch, in welchem sich jene »nicht getäuscht« hätten, denen man zuerst den Hochverrat bewiesen und dann gnädig erlaubt hat, sich gegen den Verdacht zu wehren.

Die Kroaten und Serben in Österreich haben es vorgezogen, dieses Vertrauen nicht der Belastungsprobe eines Geschwornenurteils auszusetzen. Im Umgang mit jenen »Vertrauten«, die die Regierungen dort unten auf das politische Leben loslassen, haben sie es gelernt, der Verläßlichkeit eines solchen österreichischen Gefühls zu mißtrauen. Eine Staatsweisheit, die »Umtriebe« erzeugt, um sich vor ihnen zu fürchten, und die nur an Bomben glaubt, welche sie mit Akten belegt sieht, hat dafür gesorgt, daß in Kroatien auf jeden Bürger zwei Konfidenten kommen. Man versäuft Staatsgelder, um die weißen Mäuse zu sehen, von denen man so viel schon gehört hat. Von der Vorstellung, daß es Umtriebe gibt, lebt dann die Geschichtsschreibung, und dem Herrn Dr. Friedjung »gebührt das Verdienst, am Vorabend eines Krieges auf sie aufmerksam gemacht zu haben«. Dem Tritt eines serbischen Prinzen verdanken wir, daß es beim Vorabend geblieben ist. Aber vielleicht wäre es nicht einmal dazu gekommen, vielleicht hätte uns der Graf Aehrenthal rund eine Milliarde ersparen können, wenn er sich rechtzeitig die Lust verkniffen hätte, Umtriebe zu sehen oder auf sie durch einen publizistischen Kammerdiener aufmerksam machen zu lassen. Hätte der des Prinzen Georg nicht gezeigt, wie man fürs Vaterland stirbt, die Österreicher hättens lernen müssen, und die Dokumente des Herrn Dr. Friedjung hätten dann jene Männer auf den Richtplatz geführt, die heute aus einem Beleidigungsprozeß ihre Ehre gerettet haben. Sie hätten das Schicksal der »Agramer Hochverräter« geteilt, deren Opferung jetzt den Schlaf der vaterländischen Dokumentenjustiz zu stören beginnt. Denn der Betrieb der vaterländischen Dokumentenfabrik, den Männer wie der Sektionschef Nikolic enthüllt haben, ist schon gestört. »Man soll uns vorhalten, was gegen uns spricht, man soll uns untersuchen vom Scheitel bis zur Zehe, wir werden uns ausziehen vor den Wiener Geschwornen«. Schande genug, daß diese typische Prozedur vor den Augen der Rauchfangkehrermeister und Gemischtwarenverschleißer auch in solchem Falle notwendig war. Diese unerwünschten Zuschauer riefen, soweit sie der Verhandlung folgen konnten, den Klägern zu: »Geben Sie uns Beweise!« Und jene gaben Beweise, wiewohl sie dazu weniger verpflichtet waren als ihr Ankläger. Es war ein fürchterliches Reinemachen vor den Feiertagen. Vor dem österreichischen Justizskandal eines Freispruches blieben wir bewahrt. Der Skandal, der über den politischen, wissenschaftlichen und journalistischen Autoritäten zusammenschlug, wird erst aufstinken. Die Frage, was die Vertreter dieses Staates auf dem Balkan machen, ist aufgebrochen. Man gibt zu, daß das Huren eine schöne Beschäftigung ist, möchte aber einmal wissen, was in den Zwischenpausen geschieht. Denn die k.u.k. Diplomatie ist einem grobschlächtigen Gauner aufgesessen und hat mit dem niedrigsten Betrug den höchsten Stellen im Reich die Notwendigkeit der Annexion, die Dringlichkeit eines Krieges begreiflich gemacht. Die Welt wird betrogen, aber sie weiß, von wem und wofür. Österreich wird noch gläubig sein, wenn es keinen Betrüger mehr geben wird; es wird sich selbst betrügen. Der Cook geht um; aber er hat immerhin entdeckt, daß es einen Nordpol gibt. Wir haben uns einen Hochverrat entdecken lassen, den es überhaupt nicht gibt.

Dabei haben wir jedoch erfahren, in welche entlegenen Winkel dieses Vaterlandes die Kultur sich zitternd verkrochen hat. Sie lebt dort, wo sie in Furcht vor den Konfidenten lebt. Nicht hier, wo die Konfidenten in Furcht vor der Kultur leben. Wir haben erfahren, wo der Balkan ist. Österreich ist das Land, in dem man keine Konsequenzen zieht: es achte darauf, daß sie nicht gegen Österreich gezogen werden! Heurigenmusik, zu der ein Vaterländler getanzt wird, wird die Welt über den wahren Ausgang dieses Prozesses nicht täuschen. »Durch diese Dokumente sollte vor Europa der Beweis erbracht werden ...«: Europa wird zur Kenntnis nehmen, daß es ein Gegenbeweis war. Und die Geschichtsschreibung — soweit sie nicht guten Glaubens ist — wird von diesem Datum Notiz nehmen.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 293, XI. Jahr
Wien, Ende Dezember 1909.