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Dichterfeier

Bei dieser Gelegenheit soll nicht ungesagt bleiben, daß die Neue Wiener Bühne, in deren Räumen sich das Ereignis abspielte, Dichter-Matineen veranstaltet. Da werden sie denn alle gefeiert. Zum Beispiel Rilke, der ja das Wiener Theaterpublikum besonders interessiert. Jede Persönlichkeit findet ihren Conferencier. Zu Nietzsche gehört Ewald, auch ein Abgründiger. Zu allen aber paßt Friedell, Vertreter jenes Antiphilisteriums, das aus einer heute schon recht populären Aversion gegen den »Ernst des Lebens« Beethoven anulken könnte, weil er schwerhörig ist, und Homer Maikäfer ins Bett legt, weil er zuweilen schläft. Sein an Stammtischen wirksamer Humor, dessen Niederschrift sich doch schwieriger anläßt, als man ursprünglich geglaubt hatte, könnte viel zur Veredlung der Kneipzeitungen eines philologischen Seminars helfen, strebt aber vom Kolleg zum Kabarett empor und ist die beste Kreuzung einer guten Laune, die in Alt-Heidelberg Moos angesetzt hat, und einer Geschicklichkeit, die dem Wiener Nachtgeschäft zustatten kommt. Der Mann dürfte bei Professor Marcell Salzer belegt und in Kuno Fischers Singspielhalle gearbeitet haben. Ein durchaus schätzenswerter literarischer Habitus. In öffentlichen Lokalen etwas polternd, aber gewiß kein Spielverderber. Bei solchen Übergängen von Gedankentiefe zur Ausgelassenheit, an solchen Stationen zwischen dem Ethischen des Bernard Shaw und dem Dionysischen des Rössler verweilt die renovierte Wiener Gemütlichkeit am liebsten und der neue Dreh, der dem alten Drahrertum zu Hilfe kam, schafft neue Lieblinge. Wenn dann noch die Zuckerkandl ihren kulturellen Segen gibt und, eine Spinne der Fremdworte, einen ausgewachsenen Humoristen in ihre Netze fängt, indem sie ihn durch seine Konferenzen Intellektualität heranzüchten und sich aus der Schule der Nervendressur Elemente holen läßt, welche seiner Kunst, den Geisteswillen dieser Zeit mit aphoristischer Schärfe zu projizieren, etwas Abruptes geben, wobei seine Ausführungen sich gleichsam organisch aus den philosophischen Werten eines Weltganzen in ihrer logischen Kontinuität entwickeln und er einen Extrakt von sich gibt, der den Chok der Empfindsamkeiten und gleichzeitig die Erkenntnis der auseinanderliegendsten Zusammenhänge verdichtet, und wenn die Dame dann noch die Geistesgegenwart hat, den schlichten Satz zu schreiben: »Im Anfang war Friedell« — so ist alles in schönster Ordnung. Die Zuckerkandl nennt es: das »Alles ist da-Lächeln«, wenn Friedell auftritt. Sie hat Recht, und es muß alles, was da ist, zugegeben werden. Neidlos und unerbittlich. Ohne Rücksicht darauf, daß es ein Herzenswunsch des Humoristen ist, mich zu erzürnen, und eben deshalb. Denn unter der scherzhaften Vorspiegelung, sich durch einen »Angriff in der Fackel« bei der Presse nützen zu wollen, wollen solche Lustigmacher tatsächlich nichts anderes, sie sind Streber unter dem Vorwand es zu sein, und es ist deshalb notwendig, dem Typus, dem heute nichts ernst ist als hinter der Tarnkappe des Nichternstgenommenseinwollens der Erfolg, justament den Gefallen zu erweisen. Das Glück, eine fremde Karriere zu machen, soll nie gescheut, sondern immer versucht werden; ich stelle jeden dorthin, wohin er gehört, denn es mag erträglich sein, daß Wedekind, wie Herr Friedell meint, nur ein steckengebliebenes Genie ist, aber es wäre unerträglich, wenn auch die Talente stecken blieben. Ehrfurcht haben sie nur vor den Vorteilen, die ihren Talenten gebühren, und da Herr Friedell der intelligenteste Vertreter einer Spielart ist, die ganz genau weiß, wann sie wieder nüchtern zu sein hat, so eignet er sich sehr wohl dazu, daß an ihm ihre Züge agnosziert werden. Den unerwünschten Anlaß aber bietet der Einfall der Neuen Wiener Bühne, Wedekind in einer Matinee zu feiern und ihn durch Herrn Friedell anulken zu lassen. Die Lebensnot, die ihn ehedem gezwungen hat, seine Gedichte in Kabaretts vorzutragen, scheint ihn auf Shakespearisch noch heute zu seltsamen Schlafgesellen zu bringen. Aber kein Spaß, durch den Herr Friedell sich je um die Abende unserer Tage verdient gemacht hat, gibt ihm die Berechtigung, einem Wedekind auf die Schulter zu klopfen, und wenngleich er sicher der lustigste Kommentar ist, den man heute zu einer Weinkarte finden wird, zehnmal besser als der Roda Roda, so ist er doch beiweitem nicht der Mann, der Zufriedenheit das Grauen vor Wedekind auszureden. Wo es zwischen der Gotteswelt und der erotischen eines Dichters nicht stimmt, das zu untersuchen erfordert einen andächtigeren Geist als den des Schalks, der davon lebt, daß man ihm nichts übel nehmen wird, und den die eigene Problematik, die ja in der Humorproduktion einen billigen Ausgleich gefunden hat, darauf anweist, in jedem Größeren einen Zwitter zu erkennen. Mit allem Nachdruck muß aber die Zimmerunreinheit der Idee festgestellt werden, eine Wedekind-Feier mit einer Entwertung eröffnen zu lassen und eine literarhistorische Objektivität zu bewähren, um die man einen Theaterdirektor nicht gebeten hat. Die Entschuldigung, daß Herr Direktor Geyer von der Friedellschen Weltanschauung überrascht wurde, wäre hinfällig. Er hätte den Vorredner unterbrechen, desavouieren und, ein Reformator wie er ist, die Vertreibung des Hanswursts von der Neuen Wiener Bühne besorgen müssen. Wenn anders es ihm wirklich darum zu tun war, die Wirkung der Wedekind-Feier ungetrübt zu lassen, und wenn er schon unterlassen hatte, das Manuskript abzufordern. Die Vielseitigkeit des Friedellschen Könnens und die höchst unziemlichen Bonmots der Schiller-Ehrung hätten ihm zu bedenken geben müssen, daß die Platte nicht zwielichtundurchlässig sei. Der Plan des Herrn Friedell, auf dessen Gelingen er stolz ist: dem Philister Mut gegen Wedekind zu machen, mußte dem Direktor, der sein Podium hergab, in irgendeiner Form ruchbar werden, und nicht zuletzt mußte ihm die Dankbarkeit gegen den Autor des »Erdgeist«, der ihm eben noch das Theater gefüllt hatte, einen würdigeren Festredner empfehlen. Wedekind verfügt ja nicht über allzu viele Theater, die ihm dankbar sein müssen, und er hat die Zensur hauptsächlich als die Ausrede der Direktoren zu fürchten, die ihn nicht annehmen. Sie könnten noch weiter gehen und an seiner Stelle einen Humoristen auftreten lassen, der dem Publikum versichert, es habe nichts verloren. Das fehlte noch zur Ordinärheit des Bühnengeschäfts, daß die Theater, die einen Dramatiker nicht aufführen, dafür die Kritik beistellen und, statt seine Stücke vor die Rezensenten zu bringen, ihn in eigener Regie verreißen. Es gehört ein guter Magen dazu, sich vorzustellen, daß die lustige Person bei offenem Vorhang und zur Einführung in die nun folgende Feier Wedekind einen Knockabout nennt. Wenn das Geschäftstheater des Herrn Weisse den Dichter ins Foyer geladen hat, so hat es wenigstens die Distanz zwischen der verdienenden Schande, die sich am Herd wärmen darf, und der Ehre, die im Vorzimmer eine Bettelsuppe kriegt, ehrlich markiert. Ein Literaturtheater, das einen Dichter in die gute Stube lockt, um ihn anzupöbeln, hat ausgespielt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 370/371, XIV. Jahr
Wien, 5. März 1913.