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Bahr-Feier

September 1913

In allen Bahr-Feuilletons wird nebst der Versicherung, daß er längst in Erfurt gewesen sei, wenn man ihn noch in Weimar glaubte, dem Herrn aus Linz nachgerühmt, daß er immer Wien beschworen habe, »sich auf sich selbst zu besinnen«. Das hat es bekanntlich bis zur Selbstvergessenheit getan und allerorten stinkt’s durch die Zeiten. Und in allen Redaktionen sitzen Schmierer und schmieren durch, von und für Bahr. Die Zuckerkandl, das kunstgewerblich reifste Produkt der wienerischen Selbstbesinnung, hat, gesteht sie, ihm ursprünglich bloß einen Strauß gelber Nelken schicken wollen statt eines Geburtstagsfeuilletons, aber leider hat sie doch, wie das so kommt, das Feuilleton geschickt. Ihr Chefredakteur — der leibliche Bruder — habe darauf bestanden. Sie mußte. »Denn es gibt im Zeitungsgetriebe Gewißheiten, die nur mit den unfehlbaren Berechnungen der Planetenbahnen vergleichbar sind«. Es mußte sein. Und zwar so: Bahr liebt die gelbe Nelke und steckt sie aus, um anderen Menschen zu begegnen, die auch die gelbe Nelke lieben. Daran will er sie erkennen: sie »müssen aus derselben Gegend sein wie seine Seele ist«, also aus der Gegend zwischen Linz und Kolomea. »Ich könnte ihnen ja nichts sagen, weil die Seelen nicht reden, aber wir würden uns verneigen und uns die Nelken reichen.« Darum sind damals, als Bahr diese Worte schrieb, »wir, die ein großes gemeinsames Erleben verband, alle eine Zeitlang im Zeichen der gelben Nelke gestanden«, und haben uns programmgemäß vor einander verneigt. Das große gemeinsame Erleben, das die Zuckerkandl und den Bahr verband, war hauptsächlich das Glück, gleichzeitig auf Olbrichschen Stühlen sitzen zu können, das heißt, es nicht nur zu können, sondern auch zu vermögen. Ferner die Kolo Mosersche Quadratur des böhmischen Kulturzirkels zu erleben und vor der Hoffmannschen Apollokerzen-Auslage stehen zu dürfen. Diese Möglichkeiten verdankt die Zuckerkandl der »größten, wunderbarsten Lebenserneuerung«, deren Vorbereiter eben Bahr war. Darum verbindet sie mit ihm nicht nur ein Erleben, sondern auch ein Erinnern, und sie preist ihn als einen Erwecker und Erlöser, wie es ihres Erinnerns keinen zuvor gegeben hat. Dem Mann, der so lange in unerlaubten kritischen Beziehungen zur Volkstheaterkasse stand, gebühre das Verdienst, den Begriff »Kunst« von dem Begriff »Markt« getrennt und »es zum erstenmale ausgesprochen zu haben, daß es vor allem nur sittliche Probleme gebe«. Er war »der Prophet höherer Lebenssehnsucht«. Ver sacrum. »Wenn es auch keiner idealen Erhebung jemals gegönnt ist, in Reinheit zu bestehen« — so muß doch zugegeben werden, daß noch nie ein schmutzigerer Frühling ins Land gekommen ist, als der, dem Herr Bahr auf die Beine geholfen hat, noch nie eine verkommenere Jugend sich breitgemacht und nie eine Revolution flinker sich zu Geschäften bekehrt hat. Der Erlöser badet heute mit Librettisten am Lido; die sprachverbrecherische Ambition der unverbrauchten Kommis bricht in alle Spalten ein; der kunstgewerbliche Flecktyphus grassiert in allen Häusern; und die Zuckerkandl fragt: »Wieso dem Publikum erklären, daß die Maler, Bildhauer, Architekten jetzt Sessel, Kästen, Lampen, Stoffe, Gläser machen wollten?« »Dieses Problem zu lösen, hielt Bahr für das wichtigste und für das schwerste.« Es ist ihm gelungen. Mit Hilfe der Zuckerkandl. »Sie müssen mir helfen. Ich? Ja! Sie haben einen Salon .... Denn es muß etwas geschehen, sonst geht alles wieder verloren, was wir errungen haben.« So ist es gekommen, daß in den Wiener Kaffeehäusern die Messer, die die Leute nicht mehr in den Mund stecken, in die Taschen gesteckt werden. Bahr hatte nämlich erklärt, er brauche einen Schreibtisch, welcher zum Kahlenberg passe, auf den er von seinem Fenster die Aussicht habe. »So hat er damals die Stil-Affinitäten erfühlt, welche zwischen der ersten Bürgerkunst der dreißiger Jahre und dem sich entwickelten Stil des zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich vorhanden sind.« Darum grüßt — »im Zeichen der gelben Nelke« — die Zuckerkandl »den mitschöpferischen Erwecker der Edelkunst, die in diesem Jahrhundert, von Österreich ausstrahlend, den Weltgedanken zu erobern im Begriffe ist«, vergißt aber, daß die Olbrich-Villa in St. Veit derzeit auch unter dem Selbstkostenpreis nicht anzubringen wäre. Da im Zusammenhang mit Herrn Bahr so viel von der »Sehnsucht unserer Tage« die Rede ist und unter den Genossen einer Zeit, die außer der Sehnsucht nach Versorgung, Ausverkauf, Verbindungen und Mezzie überhaupt keine Sehnsucht kennt, oder höchstens eine, die so dürftig ist, daß man ihr mit dem Plural Sehnsuchten beispringen muß — so ist es offenbar, daß die großen Worte jetzt am liebsten als Entschädigung für die kleinen Werte mitgenommen werden. Die jungen Reporter, denen ein ungeheurer Schatz von Adjektiven in den Schoß fiel, spielen auf Teilung und es kommt keinem dieser Glückspilze einer sprachlichen Gründerepoche darauf an, von Herrn Bahr, ihrer aller Agenten, auszusagen, was ehedem für Mozart zu viel gewesen wäre. Ihm seien, versichert einer, »köstlich helle, heitere Rhythmen, hold gaukelnde Gebilde, Klänge göttlich leichten Lachens« zugeströmt. Er sei übrigens »durch und durch ein Deutscher aus dem Holze der Luther, Schiller, Wagner«. Er »hätte ein Zentrum für die Deutschen werden können, wie es Tolstoi den Russen war; eine Repräsentation der Nation, eine Art von Herold und Priester zugleich«. Der Unterschied zwischen Tolstoi und Bahr dürfte nun vor allem darin zu suchen sein, daß die Russen sich nie dafür interessiert haben, wie Tolstoi rasiert ausgesehen hätte. In Bahrs Romanen aber »singt die Natur in brausenden Klängen« und »recken sich Gram und Wunsch zu den Sternen«. Was die Lustspiele betrifft, steht man »ergriffen und beseligt vor diesem Reichtum an Aufrichtigkeit, Seelenadel, Weisheit, Treffsicherheit, vor dieser Parade von Glanz des Geistes und Genie des Gefühls«. So rede er unter anderm auch »von Briefen, die nicht befördert werden, von Hofräten, die krank werden, weil eine Tür quietscht, die niemand schmieren will, von österreichischem Leid und von europäischer Sehnsucht«. Es bleibt grammatisch unentschieden, ob Bahr von der quietschenden Tür oder von den kranken Hofräten bemängelt, daß sie niemand schmieren will. Immerhin, dereinst wird man »in diesen glühenden, wilden und weisen Büchern blättern und wird von einem großen Staunen ergriffen sein«. Nämlich darüber, daß im Jahre 1913 ein talentierter, aber skrupelloser Plauderer, der schlechte Nachtreferate in Bücher gestopft hat, ein Umwerter aller Unwerte und Pfadfinder aller Mittelmäßigkeit, von den nachstrebenden Schmöcken der »Wegweiser und Wahrsager kommender Welten« genannt werden konnte, ohne daß die Kühe aufhörten Milch zu geben und ohne daß den Redaktionen die Fenster eingeschlagen wurden. Vor allem aber wird es ein Staunen sein, daß man damals den Trebitsch so wenig gewürdigt hat, eines jener Talente, denen Bahr den Weg gewiesen hatte, indem er frühzeitig erkannte, daß, auch abgesehen von Shaw, Deutsch von Siegfried Trebitsch sein Geld wert sei. Trebitsch kann nicht umhin, dafür öffentlich zu danken und Bahr eine Erscheinung zu nennen, die »sich zur Persönlichkeit gerundet hat«. Hätten wir ihn nicht, wären wir »an Güter verarmt«. Denn er sei ein »durch Temperament und wahrer Beziehung zur Kunst Verpflichteter« und habe auf Hofmannsthal, Roller und Reinhardt »alle die Augen gelenkt, die helfen können, wenn sie nur erst sehen«. Aber schließlich durch der Grammatik allein wird man nicht glücklich. Wichtiger sind eine gesunde Verdauung und gute Verbindungen. Der Wegweiser hat sie. Der »Concordia«, die ihn Meister nannte, dankt er erschüttert und schreibt: »Aber eins dürfen Sie mir glauben: An unserer ›Concordia‹ hänge ich, unserer ›Concordia‹ will ich immer die Treue bewahren .... Ich stehe für Sie stets bereit und Sie können mir keine größere Freude machen, als wenn Sie sich meiner Bereitschaft bedienen ... Ich erinnere mich gern der Zeit, wo ich in Ihrer Verwaltung saß ...« Und ich mich noch lieber der Zeit, da der Erlöser, sich der Schauspieler erbarmend, die Worte schrieb: »Sie brauchen Kleider, Handschuhe und Hüte, und sollen auf den Concordiaball, sonst werden sie schlecht rezensiert.« (2. Februar 1895.) Er hat es, ehe er fünfzig wurde, vorgezogen, die Schauspieler — jene, die es von Berufs wegen sind — preiszugeben, um sich bei den Leuten, die er als Erpresser erkannte, eine gute Rezension zu sichern.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 381/382/383, XV. Jahr
Wien, 19. September 1913.