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Die Staackmänner

April 1914

Eine Sorte von Literatur gibt es, vor der es die Sau des Teufels grausen müßte, wenn sie gewohnt wäre, auf deutschen Eisenbahnen zu reisen. Unter dem Abgesang: »Belegte Brötchen — Bierjefällig!« oder »Zeitungen, Reiselektüre, Lustige fliegende Blätta!« wird noch schnell Geist einwaggoniert, Geist vierter Klasse, der aber in Deutschland erster und zweiter fährt. Dieser Geist wird vom Verlag Staackmann, Leipzig, ediert und man kann nicht anders, man muß zugeben, daß sich unter seinen Fahnen eine Schar gesunder Burschen versammelt hat. Es ist jene von mir schon manchmal berufene Literatur, die einen einzigen blondbärtigen Herrn zum Verfasser haben könnte, den ich Hans Heinz Hinz Greinz Kunz Kienzl nenne oder so ähnlich und den ich mir als ein Individuum vorstelle, das dem Moment der Stammesbrüderschaft durch einen Smoking mit Lederhosen nebst an einer Schnur befestigtem Kneifer auf geheimnisvolle Weise Rechnung trägt, mit einem Wort als einen Dichter, der sich noch die Ideale bewahrt hat und den Humor und sonstigen Mottenfraß. Eine gründliche anatomische Untersuchung würde ergeben, daß die meisten in diese Kategorie fallenden Patienten infolge Schwindens der Schilddrüse Romanschriftsteller geworden sind, weil’s zu Tramwaykondukteuren nicht mehr gelangt hätte. Bei den intelligenteren versteht man wiederum nicht, warum sie das Schreiben, dessen dunkler Schändlichkeit sie sich doch bewußt werden, nicht aufgeben, und kann als Grund hiefür höchstens die Erfahrung gelten lassen, daß es Geld einbringt. In Deutschland gibt es nämlich notorischer Weise unter den unzähligen Leuten, die gelegentlich oder ständig Reisende sind, sogenannte »Bücherfreunde«. Dem Bedürfnis dieser Bücherfreunde hat der Verlag Staackmann — ein Name, in dem das aa dem ck so hinderlich im Wege steht und der trotzdem populär geworden ist — hat er also durch ein »Taschenbuch für Bücherfreunde 1913« Rechnung getragen, in welchem er ihnen ihre Lieblinge in Wort und Bild vorführt. Aber das Wort verschmähe ich und lasse nur das Bild auf mich wirken. Denn der Romanliteratur gegenüber beziehe ich den sichern Port des Analphabeten, weil ich nicht nur die Fähigkeit habe, Romane nicht schreiben zu können, sondern auch die Gelegenheit benütze, sie nicht zu lesen. Ich weiß, daß ich da seit zwanzig Jahren sehr viel versäumt habe, und wenn ich einmal sterbe, so wird eine unendliche Literatur zurückbleiben, die nicht zurückbleiben wird, und ich werde mit dem Trost sterben, daß ihr Geist nicht länger lebte als mein Fleisch, und nicht gezwungen sein, erst als Toter ihrer Beerdigung beizuwohnen. Dagegen glaube ich, daß von den zeitgenössischen Dichtern, vor allem von den im Verlag Staackmann erscheinenden, ihre Photographien auf die Nachwelt kommen werden. Ich will das meinige dazu tun; denn sie verdienen es. Die Späteren sollen wissen, wie die Heutigen ausgesehen haben. Alle kann ich freilich nicht überliefern, denn die Klischees sind teurer als die Zitate, deren vielgeschmähter Meister ich bin, aber vielleicht gelingt es, durch eine ausgesuchte Physiognomie auch die anderen zu beglaubigen. Wenn nicht, will ich meinem Wort zutrauen, ihr Bild nachzuzeichnen. Alle sind in einer kreuz-fidelen Stimmung festgehalten, wie sie als ständige Atmosphäre eben nur die Autoren des Verlags Staackmann, fürwahr ein fröhliches Völkchen, zu umgeben scheint. Da sehen wir denn einen, der in burschikoser Haltung dasitzt, mitten im Grünen, und darunter ist zu lesen: »Karl Hans Strobl, beinahe ›mit Weinlaub im Haar‹«. Aber er stirbt nicht in Schönheit, sondern lebt in Brunn. Wie »Franz Karl Ginzkey und Frau bei einem Spaziergang im Murtal« aussehen, ist direkt lohnend. Es wird sich zeigen, daß alle Herren, die mit Staackmann in Verbindung sind, auch mit der Natur sehr gut stehen. Sie schreiben auf der Scholle und ackern auf dem Schreibtisch. Selten genug, daß man einen beim Schreiben trifft; und auch dann liest er. »Rudolf Hans Bartsch in seinem Wiener Arbeitszimmer« drückt durch Bartlosigkeit aus, daß er jetzt wirklich ein anderer geworden ist. Trotzdem kennt man sich bei ihm nie aus und das, was man schließlich einmal von ihm definitiv wissen wird, wird sein: daß er die Juden zum Fressen gern hatte. Ich habe oft, aber vergebens darüber nachgedacht, warum die meisten Dichter Staackmanns zwei Vornamen haben. Es ist praktisch. Aber sie sollten sie nicht zu gleicher Zeit tragen, sondern wechseln. So wie man ja auch nicht zwei Jacken oder zwei Gesinnungen zugleich abnützt, sondern eine nach der andern. Ich vermisse in dieser Kollektion den Hanns Heinz Ewers, der mir so oft schon das Grauen beigebracht hat. Aber ich besinne mich, daß er bei aller Forschheit doch nicht lebfrisch genug ist für Staackmann und seine Beziehungen zum Schattenreich Georg Müller in München zur Verfügung gestellt hat. Zwar sieht er aus, als ob er uns zu Henkell Trocken überreden wollte, aber sein Inneres ist verschlossen und er hält es mit Poe, E.T.A. Hoffmann und Almquist. Pah, Grillen! Da sind die Staackmänner anders. »Emil Ertl nach Vollendung seines neuen Romans mit seiner Tochter Hilde, die die Maschinenschrift hergestellt hat, einen Freudentanz tanzend.« Muß das ein Glücksgefühl sein! Einen neuen Roman fertig zu haben bedeutet für solche Leute annähernd so viel wie für mich, einen neuen Roman nicht gelesen zu haben. Hätte ich eine Tochter, ich würde mit ihr jedesmal wenn’s mir gelungen ist einen Freudentanz tanzen. Aber ahnt man denn, was für Orgien ich in meinem Zimmer feiere? Oh da geht’s hoch her, wenn ein neuer Ertl erschienen ist! ... Ja, was ist denn das? »Rudolf Heubner in Gedanken an neue Probleme.« Ich kenne seine alten noch nicht, und schon hat er wieder neue, der Tausendsassa? Er steht an einen Baum gelehnt und schaut sinnend in die Landschaft. Gleich werden sie da sein, die Probleme. Ein Einsamer. Aber auch das Familienleben hat seine Vorzüge. »Rudolf Greinz mit Frau und Tochter in seiner Sommerfrische Zell am Ziller.« Vor diesem Idyll erkenne ich so recht die Wahrheit des Wortes, daß es im Sommer am schönsten in Wien ist. Besonders wenn es regnet, was im Sommer häufig vorkommt, man denke nur an den letzten verpatzten Sommer, wo die Leute auf dem Land direkt unglücklich waren und massenhaft Beschwerden an die Neue Freie Presse richteten. Daß es da vorsichtig ist, einen Regenschirm mitzuhaben, zeigt gleich das nächste Bild. Ein Dichter, der einen hat, ist: »Hans Hart an einem verregneten Sommertag 1913«. Jetzt weiß man, wie das aussieht, und ist gewarnt. Er steht da wie einer, dem nix g’schehn kann. Aber wenn auch die Großstadt unstreitig ihre Vorzüge hat, gemütliche Kaffeehäuser und dergleichen, so ist doch die Geselligkeit nicht jedermanns Sache. Darum zeigt schon das nächste Bild den: »Anton Wildgans auf der Flucht in die Einsamkeit«. Eben hat ihn der Photograph aufgehalten, um noch schnell dem im Stich gelassenen Menschenschwarm zu zeigen, wie Wildgans aussieht, wenn er eine Ruh haben will. Das nächste Bild zeigt die Vorzüge des Landlebens im hellsten Licht. »Friedrich von Gagern bei der Dressur seines Lieblingshundes.« Das muß noch schwerer sein als einen Roman schreiben. Der Hund will nicht, der Leser immer. Bald aber kommt wieder die Zeit, wo die Frage aktuell wird, wohin man im Sommer geht. Manche gibt es, die das Wasser dem Gebirge vorziehen. So hält »Horst Schöttler Siesta am Gardasee«. Wer Horst Schöttler ist, weiß ich nicht, aber die Siesta scheint ihm wohl zu tun, er streckt sich und sonnt sich, und da das Taschenbuch für Bücherfreunde erwähnt, er sei der Mann, der über »Weib, Wahn, Wahrheit« nachgedacht hat, so besteht Hoffnung, daß mit dem ausruhenden Körper — Gott wer hat nicht Erholung nötig — auch der Geist neue Kraft gewinnen mag. Was tun die Dichter sonst, wenn sie Zeit haben und ihre Bücher an Staackmann abgeliefert sind? »A. de Nora läßt sich von Rudolf Hesse porträtieren.« Volenti non fit injuria. Man sieht de Nora, de Noras Porträt und den Hesse, der malt. Der bessere Hesse, der schreibt, erscheint nicht bei Staackmann, wiewohl er das ganze Jahr in Lederhosen herumgeht. Das Bild der Gesundheit, das er geboten hätte, ersetzt uns annähernd: »Alfred Huggenberger bei der Ernte«. Ja, wenn alle Dichter sich so nützlich machen wollten wie die Schweizer! Ernst Zahn zum Beispiel ist Bahnhofsrestaurateur; er hat’s gut, er kann sich unaufhörlich selbst von der Beliebtheit seiner Werke überzeugen. Leider erscheint auch er nicht bei Staackmann, dessen Dichter überhaupt keinen bürgerlichen Beruf, sondern das schönste Leben haben. Sie sind aber auch nicht echte Landleute, sondern tun nur so. Es sind keine Jahresparteien, aber Sommerfrischler. Wieder einer: »Georg von der Gabelentz in der Sommerfrische«. Drücken alle diese Bilder mehr oder minder die den Staackmännern eigentümliche Beziehung zur Natur aus — Georg von der Gabelentz zeigt, daß es auch geraten ist, einen Überzieher mitzunehmen —, so spricht ein nächstes für die Vielfältigkeit der Pflichten, die ihnen obliegen: »Paul Schreckenbach auf einer seiner geschichtlichen Forschungsreisen (Rudelsburg)«. Diese geschichtlichen Forschungsreisen haben sich als notwendig herausgestellt, da Schreckenbach, wie das Geleitwort erwähnt, einen Roman »Die letzten Rudelsburger« geschrieben hat, dessen historischen Hintergrund die erbitterte Fehde zwischen den letzten hochgemuten Herren der Rudelsburg und der Stadt Naumburg und ihrem Bischof bildet, auf dem — dem Hintergrund, nicht dem Bischof — sich die Liebe zwischen einem fahrenden Gesellen und der adelsstolzen Tochter des ritterlichen Geschlechtes der Kurtefrunde auf der Rudelsburg aufbaut. Das wird für die Geschäftsreisenden sehr spannend sein, aber es war wegen der entsprechenden Vorbereitungen nötig, daß Schreckenbach mit zwei Begleitern, die jeder ein Bierkrügel in der Hand halten, auf den Stufen der Ruine der Rudelsburg Aufstellung nahmen und sich zur Erinnerung an die erbitterte Fehde, die sich daselbst zugetragen hat, photographieren ließen. So geht alles gut aus, und damit ja kein bitteres Gefühl zurückbleibe, zeigt das letzte Bild: »Ein frohes Kollegium. Von links nach rechts: Emil Ertl, F.K. Ginzkey, R.H. Bartsch, Prof. Gregori, Alfred Staackmann.« Dieses Bild bringt Überraschungen. Wie Ertl, Ginzkey und Bartsch aussehen, wußte man schon. Aber der Mann, dem wir das alles zu verdanken haben und auf dessen körperliche Beschaffenheit wir schon längst neugierig waren, stellt sich uns endlich auch selbst vor, wie eine Draufgabe, auf die wir nicht gefaßt waren, wie eine Belohnung für brave Kinder, die seit Jahren Eisenbahnlektüre kaufen. Und nun gar das Konterfei des Prof. Gregori, an den man wohl noch manchmal in Mannheim und Wien denkt, aber keineswegs zwischen Mannheim und Wien. Wie geschenkt mutet uns dieses Bildchen an und wir sind in Verlegenheit, wie wir Staackmann danken sollen. Es war eine gute Idee, Gregori, der zwar selbst keinen Roman schreibt, aber als Preisrichter viel mit den Dichtern zu tun hat, in die Gruppe aufzunehmen. Er macht ein freundliches Gesicht, als wollte er sagen: wir wern’s schon machen; er lächelt, als ob er sich dächte: mundus vult Romane lesen, wir Preisrichter haben’s gut, wir haben »Des Feldherrn Traum« von Trebitsch nicht gelesen. Dieser fehlt auf dem Bilde, denn er gehört nicht Staackmann sondern S. Fischer. Dennoch ist es ein frohes Kollegium. Freuen wir uns, daß wir fünf solche Kerle haben. Alle sind pumperlgesund. Und am gesündesten unter ihnen allen einer, dessen Bild ich, als das beste mir zum Andenken aufgehoben habe. Es ist jenes, das vor allen andern auf die Nachwelt kommen wird. Denn wie kein anderes zeigt es, wie die deutsche Literatur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ausgesehen hat. Natürlich war sie auch diesmal in der Sommerfrische, aber sie zog das Wasser dem Gebirge vor. Alles Wasser, das es in der Welt gibt, ist auf dem Bilde, und der Humor pritschelt nur so. Er trägt Jackett und hat die Hosen nebst Gatjen hinaufgestreift. Das Spazierstöckl dient nicht zur Stütze, sondern wird fesch über der Schulter gehalten. Dagegen ist der Kneifer mit einer Schnur befestigt; denn in Sylt weht ein scharfer Wind. Die Beine dieses deutschen Dichters sind so, wie man sich sie vorgestellt hat. Das Gesicht ist mit einem Knebelbart versehen, der ihm gleichwohl nichts von seinem Ausdruck nimmt. Aber die unteren Extremitäten müssen nackt sein, weil man ohnehin immer geglaubt hat, dieser Dichter schreibe mit der Haxe, und weil einem die Vorstellung, daß man selbst einmal in Sylt baden könnte, dadurch ungleich appetitlicher wird. Der Verein für Fremdenverkehr wird gut tun, dieses Bild zu verbreiten. Die Literaturgeschichte wird es ausschneiden. Die Kulturforschung wird daran nicht vorüber gehen können. Zwar, gäbe es auch ein Taschentuch für Bücherfreunde, ich hätte es damit verhüllt. Aus dem Taschenbuch reiß’ ich es und setze es hierher. Ich, der Sammler aller freundlichen Bilder, die die Natur stellt; abgesagter Feind jeder, auch der künstlerischesten Karikatur. Denn der Photograph ist doch noch ein anderer Kerl als der Th. Th. Heine. Ausschneiden, was ist — das ist meine Devise! Ich nahm das Strandleben vom Lido: ich nehme das von Sylt. Rechts und links in dem Text, in den die Photographie eingelegt ist, finde ich die Worte »allerlei Menschliches« zitiert. Und lese den Satz: »Leidenschaftslos sollte der Mensch imstande sein, alle auch seiner Person widerstrebenden Richtungen zu studieren und zu beurteilen, dann würde er hochgesinnt und gerecht sein können.« Ich bin gerecht. Und: »er würde einsehen, daß jeder in seiner Art ein bißchen recht hat.« Ich sehe es ein. Ich lasse jeden nach seiner Fasson selig werden. Zum Beispiel so:

Otto Ernst als Strandläufer von Sylt

Vgl.: Die Fackel, Nr. 398, XVI. Jahr
Wien, 21. April 1914.