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Der kleine Pan stinkt noch

Juli 1911

Herr Alfred Kerr hat am 1. Juli das Folgende erscheinen lassen:

Vive la bagatelle!

Swift

CAPRICHOS

I.

Herr Kraus (Wien) sucht fortgesetzt aus unsren Angelegenheiten Beachtung für sich herauszuschlagen. Mehrere suchten, die Schmierigkeit aus ihm herauszuschlagen. Erfolglos. Ich stellte neulich anheim, Kraus nicht mehr zu ohrfeigen. Es lag darin kein Werturteil über Unberechtigung der früheren Backpfeifen; nur über die Unberechtigung des Aufwands. Ein wandelndes Museum für Tachteln. Seit ihm zugesichert wurde, daß er ausnahmsweise jetzt keine kriegt, beunruhigt ihn die Gewohnheitsstörung: es fehlt ihm was.

Ohrfeigen sind aber kein Argument. Selbst dann sind sie es nicht, wenn einer so oft, von Männern wie von Frauen abwechselnd welche bekam, daß auf der Wange die Inschrift »Hier blühen Rosen« stehn kann — und die Sitzgelegenheit, gewissermaßen, ein Bertillonsches Archiv geworden ist.

Selbst für kleine Verleumder sind Ohrfeigen kein Argument. Darum sollen seine Backen Ferien haben: mag ihn schon der fremde Zustand — ohne Entziehungskur — aufregen. Ecco.

(Er bekam die einleitende seiner Ohrfeigen, als er Privatsachen, die reine Privatsachen waren, ohne jedes Recht besabberte.)

II.

Dem kleinen Kraus (welcher kein Polemiker ist, sondern eine Klette) soll im übrigen gelassen werden, was er nicht hat. Blieb ihm die Gabe des Schreibens auch verwehrt (caccatum non est dictum), so weiß er doch, Reportermeldungen auf der fünften Seite des Wochenblatts für Leitomischl und Umgegend mit vernichtender Schärfe zu beleuchten.

Er hat sich aber, infolge des Hinweises auf seine tatsächlich vorhandene Dummheit, zur Niederschrift von Afforismen bewegen lassen (weniger einem Drange des Intellekts folgend, als um die Abwesenheit seines Intellektmangels darzutun), — Kitsch, mit der Hand gefertigt, dessen Arglosigkeit sich in mechanischer Umdrehung äußert, in mechanischer Gegensätzelei, in Geistesschwäche mit »scharfsinniger« Haltung oder »menschenfeindlicher« Haltung; etwan: »Ich bleibe gebannt stehen, weil die Sonne blutrot untergeht wie noch nie, und einer bittet mich um Feuer.« Nietzscherl. Mehr sag ich nicht.

»Ich verfolge einen Gedanken, der soeben um die Straßenecke gebogen ist, und hinter mir ruft’s: ›Fia-ker!‹« Tja, die einsamen Seelen. Das san halt dö Plag’n vun an Denker.

Falls nun die Plage der Selbstverachtung hinzutritt? (Er äußert: »Mir sind alle Menschen gleich, überall gibt’s Schafsköpfe und für alle habe ich die gleiche Verachtung.«)

Nett, wenn er das Publikum betriebsam auf seinen abseitigen Weltekel aufmerksam macht. Oder wenn er (in belästigender Weise) die Leute fortwährend anruft, er wolle nicht von ihnen beachtet werden.

Grundcharakter: Talmi plus Talmud. Sein St... Sti.. Stil besteht aus zwei getrennten Nachahmungen: er verdünnt seinen Landsmann Spitzer und äfft Harden; Herr Kraus leidet an doppelter Epigonorrhöe. Er fälscht gewiß nicht — er geht nur in Irrungen ziemlich weit, so daß der alte berliner Scherz »Karlchen hat wieder mal gelogen« und zwar in der dümmsten schlichtesten spaßlosesten Weise glatt gelogen, erfunden, geschwindelt um einen Augenblickshalt zu haben, weil er sich auf die Großmut und Gleichgültigkeit seiner Gegner verläßt ... dieser Satz kommt nie zu Ende; wollte sagen: so daß der alte berliner Scherz »Karlchen hat wieder mal gelogen« gewiß nicht ohne weiteres für ihn zur Beleuchtung dient ... Was Epimenides über Kreta äußert, paßt nicht, weil Kraus von der Insel Mikrokephalonia stammt.

III.

»Die Art, wie sich die Leute gegen mich wehren ...« Saphirle. Komm mal ran ...

IV.

Ganz wie ein Tuchreisender, der weiß, was er der Gegenwart nietzschig-kitschig schuldet, in der Abwehr gegen Demokratismus. Ein Einsamer und ein emsiger Menschenfeind wird doch nicht ...

Daß man demokratische Freiheit nicht in der Welt für das Höchste zu halten braucht, Knirps, aber jetzt für etwas Wichtiges in Deutschland; daß hierfür zu fechten ein Opfer ist (wie es eine Lust ist): das wirst Du nicht begreifen, — schale Haut.

Deine Sektion ergibt zwei Kleingehirne. Was Du kannst, schale Haut, ist einen Reporter lustig beschämen; den Schnatterstil des Herrn Harden glänzend nachtäuschen (später auch bewußt, mit einer Kennerschaft, die ulkig, aber peinlich ist); Du kannst für freie Geschlechtsübung Banalheiten äußern — und bist ein dummes Luder, das nie mit sich allein war. Oft ein amüsanter Spaßbold —: aber ein entsetzlich dummes Luder.

Nun lauf’ — und präge Dir ein leichtes Capricho-Lied hinter die oft strapazierten Ohren:

V.

Krätzerich; in Blättern lebend,
   Nistend, mistend, »ausschlag«-gebend.
Armer Möchtegern! Er schreit:
   »Bin ich ä Perseenlichkeit ...!«

Wie der Sabber stinkt und stiebt,
   Wie sich’s Kruppzeug Mühe gibt!
Reißen Damen aus und Herrn,
   Glotzt der arme Möchtegern.

Vor dem Duft reißt mancher aus,
   Tachtel-Kraus. Tachtel-Kraus,
Armes Kruppzeug — glotzt und schreit:
   »Bin ich ä Perseenlichkeit ...!«

ALFRED KERR

Es ist das Stärkste, was ich bisher gegen den Kerr unternommen habe. Gewiß, die drei Aufsätze haben einige Beachtung gefunden. Was aber bedeutet aller Aufwand von Kraft und Kunst gegen die spielerische Technik des Selbstmords? Gewiß, ich habe ihn in die Verzweiflung getrieben; aber er, er hat vollendet. Ich habe ihn gewürgt, aber er hat sich erdrosselt. Mit der wohlfeilsten Rebschnur, deren er habhaft werden konnte. Es ist mein Verhängnis, daß mir die Leute, die ich umbringen will, unter der Hand sterben. Das macht, ich setze sie so unter ihren Schein, daß sie mir in der Vernichtung ihrer Persönlichkeit zuvorkommen. Von mir geschwächt, beginnen sie mit sich zu raufen und ziehen den Kürzern. So einer zerreißt aus Gram sein Kleid, von dem die Andern geglaubt haben, es sei etwas dahinter. Einer, zu dem man sprechen möchte: du bist wie eine Blume, versetzt sich einen so vehementen Rippenstoß, daß es aus ist und geschehen. Nicht wiederzuerkennen. Was hat dieser Kerr nur gegen sich? Wie geht das zu, daß einer, der noch wenige Wochen, bevor ich ihn tadelte, mich gerühmt hat, plötzlich einen epileptischen Anfall auf mich verübt? Ich fürchte, er war kein Charakter, es muß ihm irgendwie die geistige Beharrlichkeit vor Gemütseindrücken gefehlt haben, er war am Ende nicht das, was man im Tiergartenviertel eine Perseenlichkeit nennt. Ich glaube, daß ein kleines Schreibtalent — ich bin gegen ihn viel gerechter als er gegen mich — völlig aus der Fassung gerät, wenn ihm etwas passiert ist. Es sagt nicht nur dummes Zeug, sondern sagt es auch schlecht. Wie geht das nur zu, daß einer, der ehedem doch bis zu einem gewissen Grad und speziell in Königsberg ein ganz geschickter, manchmal recht zierlicher Feuilletonist war, in dem Augenblick, wo ich seinen Geist aufgebe, mich sofort darin bestärkt? Er stirbt mit einer Lüge auf den Lippen. Er glaubte kein Wort von dem, was er gegen mich sagen mußte. Er schätzte mich hoch, hat sich über mich nicht nur öffentlich anerkennend geäußert — das würde nichts beweisen —, nein, auch hinter meinem Rücken, enthusiastisch — das würde nichts beweisen —, nein, mit einigem Verständnis von mir gesprochen. Aber es widerfuhr ihm, nicht den Glauben an mich, sondern den an sich zu verlieren, und ich bin nur das Opfer seiner Verzweiflung. Immer ist das so. Kein Wort von dem, was sie gegen mich sagen, glauben jene stillen Verehrer, die ich plötzlich laut anspreche, oder die vielen Literaturgeliebten, die sich vernachlässigt fühlen. Feuilletonschlampen mit mehr oder weniger Talent reagieren immer so. La donna è mobile. Ecco. Ich bin auf einmal ganz klein, ekelhaft und kann nicht schreiben, weil ihnen alles gefallen hat bis dorthin, wo ich gegen sie geschrieben habe. Wurde so ein zwar überschätzter, aber zweifellos befähigter Leser wie dieser Kerr über mich gefragt, so sagte er Kluges. Und hatte er’s nicht von sich, so war er doch belesen und informiert genug, um zu wissen, daß er sich blamieren würde, wenn er mich für einen so unbedeutenden Schriftsteller hielte, wie ich ihn. Er wußte ganz gut, daß das nicht geht, daß das heute in Deutschland keiner der andern Männer tut, an die man glauben muß, und daß es lächerlich ist, jenes Klischee der Geringschätzung gegen mich zu werfen, dessen sich heute selbst der Reporter schämt. Ich brauche keine Enquete, um mir das versichern zu lassen, schon ist das Urteil zum Urteil über den geworden, der’s spricht. Sollte man diesen Kerr nach dem Spruch beurteilen, ich fürchte, er käme nicht auf die Nachwelt, wenn ihn je sein kurzer Atem so weit getragen hätte. Er kann’s nur mehr durch mich erreichen. Ich habe schon so viele arme Teufel als Zeitübel perspektivisch genommen — Kerr tut nur so, als ob er das nicht verstünde —, daß es mir auf einen mehr oder weniger nicht ankommt. Ich fürchte, er kommt auf die Nachwelt! Gänzlich unvorbereitet, wie er ist, mit Haut und Haaren. Er muß sogar schon dort sein, denn ich sehe ihn nicht mehr. Unheimlich rasch gehen diese Verwandlungen vor sich. Gestern hat er noch Barrikaden gebaut, heute sitzt er mir schon als Fliege auf der Nase. Ich töte keine Fliege, es könnte in ihr die Seele eines Ästheten sein und dann wäre es eine Herzensroheit. Was bleibt mir übrig gegen ihn zu tun als ihn zu beklagen? Soll ich einen, der, wofern er lebt, sich kärglich als Desperado durchbringen muß, vor Gericht schleppen? Weil es einmal möglich wäre, feststellen zu lassen, daß ich nie den Mist des Privatlebens gekerrt habe — man sieht auch im schäbigen Kalauer bin ich ein Epigone —, sondern: daß einer, der Karriere machen wollte, mich vor fünfzehn Jahren für eine Verspottung seines schlechten Deutsch überfiel, dafür abgestraft wurde und später mit bewußter Mißdeutung eines völlig harmlosen Satzes verbreitet hat, er, der Kommis, habe sich einer Ritterpflicht entledigt. Zwei weitere Gerichtsurteile würden die Neugier der Feuilletonbagage befriedigen: über zwei Attacken, denen ich in den zwölf Jahren der Fackel ausgesetzt war: von einem Instrument der Concordiarache, das später in Reue vor mir erstarb, und von einem Rowdy, dem das Bezirksgericht einen Monat Arrest gab, die höhere Instanz mit Berücksichtigung der Volltrunkenheit eine hohe Geldstrafe. Soll ich wirklich einen vierten Prozeß — zwei strengte der Staatsanwalt für mich an — herbeiführen, um einem toten Reklamehelden Gelegenheit zu geben, für eine Woche aufzuerstehen und eine zu sitzen? Soll ich mir die maßlose Distanz zwischen meinem Leben und dem Niveau, auf dem man »in Ehren« besteht — größer als die Distanz zwischen diesem Niveau und der Fratze, die der Kerr aus mir macht —, amtlich bestätigen lassen? Es ist überflüssig; und was liegt solchem Pack an einer Verurteilung, wenn nur von der ihm blutsverwandten Tagespresse meine drei Überfälle in fetten Titeln annonciert würden! Es ist lästig; und wiewohl es nichts gibt, was ich zu verbergen habe, räume ich doch nur mir das Recht ein, darüber zu sprechen. Auch bin ich lieber Angeklagter. Und sage darum diesem Kerr, daß nur ein so revolutionärer Feigling wie er, nur ein so ganz mißratener Demokrat wie er, nur ein so von allen guten Geistern des Takts und des Geschmacks verratener Angeber eines Polizisten wie er auf den Einfall geraten konnte, mir die Feigheit derer zum Vorwurf zu machen, die sich an mir vergriffen haben. Daß aber auch nur ein so vollkommener Ästhet, dem der Backenbart schon den Blick für das Leben überwachsen hat (und der bereits auf das Motiv der Rosen zu meinen Gunsten verzichtet), nicht merken kann, daß dreihundert Überfälle nichts gegen meine Ehre beweisen würden, dreihundert Gewalttaten nichts gegen mein Recht, dreihundert Kopfwunden nichts gegen meinen Kopf. Und alle zusammen nichts gegen meinen Mut. Die Überrumpelung eines Kurzsichtigen spricht nicht einmal gegen seine Muskelkraft — er wäre zur Not imstande, einen Ästheten zu ohrfeigen —: sollte sie sein Werk herabsetzen können? Hätte der Kerr Unrecht gegen Herrn Sudermann, wenn dieser anstatt über die Verrohung der Kritik zu klagen, einen Roheitsakt an ihm vollzogen hätte? Hat der Kerr Recht gegen Herrn v. Jagow, weil dieser ihn nicht geprügelt hat? Und ist es erhört, daß einer, der bisher wenigstens in einem Theaterparkett geduldet wurde, seine Wehrlosigkeit vor dem geistigen Angriff in die Infamie rettet, die brachiale Überlegenheit anderer anzurufen? Man wird Mühe haben, eine hochgradige Gemütserschütterung als mildernden Umstand auszulegen, um zu sagen, dieser Kerr sei im Grunde besser als die Kreuzung von einem Schulbuben und einem Schandjournalisten, zu der er sich jetzt verurteilt hat. Er darf nicht wissen, daß er das Häßlichste niedergeschrieben hat, was die Meinung der von mir gepeitschten Mittelmäßigkeit auf Lager hält, er muß sich seine völlige Unverantwortlichkeit ärztlich bestätigen lassen — sonst ist es ausgeschlossen, daß er die Hand, die diese Feder geführt hat, jemals noch reuelos betrachtet. Gegen den Wert meiner Leistung kann sie nichts ausrichten. Daß er mich unterschätzt, beweise ich durch jeden Satz, den ich über ihn schreibe. Aber wenn’s mir selbst nicht gelänge, wenn ich wirklich das dümmste Luder wäre, welches je mit fremder Eigenart Aufsehen machen wollte: daß ich ihn nicht unterschätze, beweist er durch jeden Satz, den er über mich schreibt. Und weil er dies besser beweist als ich, drum habe ich ihn abgedruckt. Weil sich nichts Vernichtenderes gegen diesen Kerr unternehmen läßt, als wenn man ihm das Wort erteilt! Man lese. Man vergleiche. Nach meinen Aufsätzen lobte man mich, konnte aber immer noch glauben, irgendetwas müsse auch an dem Kerr, von dem man doch so viel schon gehört hat, zu finden sein. Nun sieht man, daß er die Räude hat. Daß nur dieser Zustand ihn befähigen konnte, das Lied vom »Krätzerich« zu dichten. Daß er eine völlig unsaubere Angelegenheit ist. Nun versteht man nicht, wie dieser parasitische Humor, dessen Sprecher im Verein reisender Kaufleute vor die Tür gesetzt würde, für Königsberg lesbare Feuilletons zustandebringen konnte. Ich verstehe es. Ich habe im Leben viel mit Minderwertigen zu tun gehabt. Ich weiß, wie ein Floh tanzt und wie eine Motte am Licht kaputt wird. Ich weiß, wie Sinnesverwirrung einen sonst leidlichen Plauderer entstellen kann, und daß es eben vorher gefehlt war, an solche Individuen den Maßstab der Perseenlichkeit anzulegen. Dieser Kerr übernahm sich, als er glaubte, seine Leere könne politisch gestopft werden, und als er seine Temperamentlosigkeit an der Glut eines Polizeipräsidenten explodieren ließ. Er bekam dafür Schläge, die schmerzhafter waren, als wenn mir die in zwölf Jahren angesammelte Wut einer Millionenstadt sämtliche Knochen zersprügelt hätte. Anstatt nun zu schweigen und ruhig an seiner Entwicklung und für Königsberg zu arbeiten, ließ er sich hinreißen. Nun ist er hin. Und ließ mir nichts übrig, als ihn aufzubahren. Vielleicht hält er sich noch den Nachruf. Ich druck ihn ab. Man kann nicht lebendiger dastehen, als wenn man diesem Alfred Kerr das letzte Wort läßt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 326/327/328, XIII. Jahr
Wien, 8. Juli 1911.