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Er ist doch ä Jud

Mittwoch, 1. Oktober 1913

Geehrter Herr!

Unter dem Eindruck der gestrigen Vorlesung im Musikvereinssaale, möchte ich mir erlauben, Sie auf Ihren persönlichen Mut zu prüfen.

Bitte — versuchen Sie, in Ihrer Fackel, eine Erklärung dafür zu finden, resp. zu geben, daß Ihr Auditorium, Ihr begeistertes Auditorium, fast durchwegs gerade aus jenen Juden besteht, die Sie so heftig angreifen und kritisieren.

Ich muß gestehen, daß ich sowohl von der Wirkung Ihrer Persönlichkeit als Ihrer lebendigen Vortragsart angenehm überrascht war — trotzdem ich seit Anbeginn der Fackel deren treuer Leser bin; nochmehr überrascht war ich über das Auditorium, welches Ihnen, unter dem Banne Ihrer Vortragskunst, frenetischen Beifall zollt — um schon in der Garderobe auszurufen: »Er ist doch ä Jud’!«

Es würde mich freuen, wenn Sie mir dieses psychologische Rätsel lösen könnten, und wäre Ihnen dankbar, wenn dies unter Wahrung des redaktionellen Geheimnisses geschehen könnte. In Hochachtung — —

Ein treuer Leser der Fackel seit Anbeginn sein und erst im fünfzehnten Jahr neugierig, ob ich Mut habe: das ist kurios. Indes, da ich die Angelegenheit nicht so sehr für ein Problem des Mutes als der ästhetischen Einsicht halte, so kann ich zwar antworten, aber ohne zu wissen, ob nicht in fünfzehn Jahren wieder ein Leser mich fragt, ob ich eigentlich Mut habe. Es ist eine herzige Ansicht, daß ich in der Fackel alles ausdrücken könnte, was mich bewegt, mit Ausnahme jener Realität, der ich es vorlese, oder: daß mich die Erscheinungen in dieser nicht bewegen und daß ich blind sei für ihre erschreckende Ähnlichkeit mit dem Leben, das außerhalb des Vortragssaales von mir gesichtet wird. Man muß nicht seit fünfzehn Jahren, sondern nur seit zwei Jahren die Fackel gelesen haben, um zu wissen, warum ich aus ihr vorlese. Man muß nicht spüren, daß in vielen meiner Arbeiten die Fähigkeit schon enthalten ist, das Geschriebene den Leuten ins Gesicht zu sagen. Aber man muß wissen, daß ich darauf hingewiesen habe; sonst ist man ein so schlechter Leser wie Hörer. Doch selbst einer, der nie eine Zeile gelesen und nur die letzte Vorlesung gehört hat, muß wissen, daß ich mir über die gedankliche Tragweite meines Vortrags keine Illusionen mache und ihr Ende eben dort sehe, wo die Garderobe beginnt. Daß ich unter Hörern wie unter Lesern Hörer und Leser für vorstellbar, möglich und existent halte, die mehr als einen Reiz oder selbst eine Erschütterung durch den Tonfall von etwas, was sie nicht verstehen, mitnehmen, braucht nicht gesagt zu werden. Die Masse kann und soll nicht verstehen. Sie leistet genug, wenn sie sich aus trüben Einzelnen zu jenem Theaterpublikum zusammenschließt, das der unentbehrliche Koeffizient schauspielerischen Wertes ist. Dieses Publikum, wenn es nur richtiges Publikum ist, bewährt sich am wenigsten an solchen geistigen Gestaltungen, deren Stoff ihm geläufig ist, weil es von ihnen kaum mehr als den Humor der stofflichsten Assoziationen, der Nomenklatur (Männergesangverein, Bahr, Concordia, Zifferer, Grubenhund) erfaßt, und bewährt sich am besten dort, wo es von der rhythmischen Wirkung der Pflicht jedes Verständnisses überhoben wird: an den gedanklich schwersten, aber von der dynamischen Welle zu jeder Seele getragenen Stücken, gegen deren Stofflichkeit, deren »Tendenz« die fünfhundert Einzelnen rebellieren müßten. Darum ist es erklärlich, daß die »Chinesische Mauer«, von der kaum ein Wort verstanden wird, den Saal in Aufruhr bringt. Je stärker solche Wirkung auf die empfangende Masse war, desto heftiger ist die Reaktion der sich am Schlüsse wiederfindenden Individuen. Es ist vollkommen gleichgültig, ob das Publikum aus Verehrern oder Feinden, Theosophen oder Monisten, Denkern oder Generalkonsuln, Wienern oder Persern, Christen oder Juden besteht. Von welcher Menschenart es ist, zeigt sich erst im Zwischenakt und in der Garderobe. Das psychologische Rätsel besteht in der Anziehung einer Vielheit, der man doch das Gefühl nachrühmen muß, daß sie hier etwas durchzumachen habe, und in der Verwandlung von fünfhundert Männern und Weibern zu der Einheit Weib, die Publikum heißt. Die Reaktion wird je nach dem Grade der Erziehung mehr oder minder geräuschvoll ausfallen. Leute, die durch den Eintritt in die Vorlesungen eine größere Geschmacklosigkeit beweisen als durch die Art ihres Austrittes, werden am heftigsten gegen die ihnen aufgezwungene Pflicht, Teil einer eindrucksgefügen Einheit zu sein, sich auflehnen. Sie sind die lautesten und bringen deshalb das ganze Publikum in Verdacht, das ja wohl auch Personen aufweist, deren Widerstand Anstand bleibt. »Er ist doch ä Jud!« ist das Urteil, das jene schon in die Vorlesung mitbringen, nur widerwillig für 21/2 Stunden aufgeben und mit dem Überrock wieder in Empfang nehmen. Man bedenke aber, was es heißt, aus Leuten, die »jeden Früh aufkommen« und dann den ganzen Tag wach und intelligent bleiben, am Abend eine willige Einheit zu machen, als Vorleser, ohne Maske, ohne Orchester. Niemand, zu allerletzt der oben steht, kann es ihnen übelnehmen, daß sie sich hinterdrein salvieren und jene Einwände hervorsprudeln, die ihnen bei der Hand waren, ehe sie sich der Reinigung ihrer Leidenschaften unterwarfen. Wenn sie schon baden gehn müssen, so wollen sie doch nachher wieder schmutzig sein. »Er ist doch ä Jud!« haben sie immer, auch hinter der Erscheinung, deren suggestive Wirkung eine Welt umarmt hat, ausgerufen. Das wäre das geringste. Viel unappetitlicher sind Rufe wie die bereits von mir in satirische Dialoge eingepflanzten: »Was er davon hat, fortwährend mit den Angriffen auf die Presse, möcht ich wissen!« »Alle Welt is für Heine — er muß gegen Heine sein!« Nach Anhörung eines jener Dialoge soll einer bemerkt haben: »Jüdeln kann er wie unsereins, aber schimpfen tut er doch!« Ein anderer resümierte schlicht: »Er wär doch froh, wenn er in die Presse hineingekommen war!« »Möcht wissen, was er sagen möcht, wenn ein anderer so über ihn vorlesen möcht«, äußerte eine Mädchenblüte. »Die Presse ist doch das bestgeschriebenste Blatt, und wenn er sich auf den Kopf stellt!«, rief eine Matrone. »Ich bitt Sie, Brotneid!«, enthüllt ein Wissender. Man hat auch schon Sätze gehört wie: »Ich hab dir gesagt, ich geh nur zu Salzer!« »Alles niederreißen — treff ich auch.« »Was ist das gegen früher! Er hat sich ausgeschrieben.« »Auernheimer hat er heut in Ruh gelassen.« »Der Gerasch liest im kleinen Finger besser!« »Nichts für junge Mädchen, das nächste Mal bleibst dumirzuhaus.« »Er wird sich noch Feinde machen.« »Schnupfen hat er auch.« »Die was so stark applaudiert haben, das ist die Clique, die Journalisten!« Das letztemal soll bemerkt worden sein: »Sagen Sie mir um Gotteswillen, was will er nur von den Leuten?« »Siehst du, das ist also Karl Kraus der Gemeine, aber — lesen kann er!« »Nicht einmal ein reines Taschentuch hat er!« Und der ärgste und sicher unwahrste von allen Anwürfen: »Ich kenn ihn doch persönlich!« — Glaubt der Einsender, daß ich unter den Leuten, die so wieder zu sich kommen, sitzen könnte? Über ihnen ist’s leichter. Vermeinte ich, daß die Wirkung, zu der ich sie zusammenschließe, vorhält, dann müßte ich mich, wie ich’s ihnen bei der letzten Vorlesung sagte, wundern, daß nicht entweder die von mir gebrandmarkten Spitzbuben gelyncht werden oder ich. Solche Effekte bleiben aus. Aber daß sich die strafende Wirkung, die auszukosten die einzige Entschädigung für meine Nerven ist, über allen Zerfall und alle Schäbigkeit doch auf unsichtbare Art fortsetzt, ist der Glaube, der mir das Recht auf solchen Genuß und solche Erholung gibt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 384/385, XV. Jahr
Wien, 13. Oktober 1913.