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Ein notgedrungenes Kapitel

September 1911

Genies, so klagt Herr Karl Busse in einem »notgedrungenen Kapitel«, das ihm die Neue Freie Presse abdruckt, Genies »entmutigen, erdrücken und vernichten« jede andere dichterische Individualität, die sich ihnen hingibt. Herr Busse scheint in den letzten zwanzig Jahren einem Genie begegnet zu sein: nur entmutigt ist er noch nicht. Aber man kann wohl sagen, daß kaum ein zweiter deutscher Autor in so kurzer Zeit so unbekannt geworden ist wie Herr Karl Busse. Er hat einst zu der Sorte Literaturstudenten gehört, die einander die Begeisterung wie den Plumpsack zuwarfen, um bald als Literaturphilister zwischen Roman- und Feuilletongeschäft zur Ruhe zu kommen und zwischen Velhagen und Klasing sichs gut sein zu lassen. Keiner hat so vom Jungsein gelebt wie der junge Busse. Und selbst der in Jugendstimmungen völlernde Halbe und selbst O. J. Bierbaum, bei dem sich wie zum erstenmal Seichtheit auf Leichtheit gereimt hat und der doch gewiß das war, was man damals einen »Prachtkerl« nannte, waren nicht so geschwind erledigt, so schnell fertig mit dem Wort, nein mit der Jugend selbst wie der lenzeliche Busse, der aus dem Liliencronwalzer ein paar jugendtolle küssevolle kleine Baronessen in die Gartenlaube verführt hat und, noch immer munter, auf die Musik, die er nicht konnte, zu pfeifen begann. Darum aber, weil er wie kaum ein Zeitgenosse weiß, wie das Jungsein in der Literatur schmeckt, ist er auch wie kein anderer berufen, über Heine, das große Sinnbild aller verrauchten Jugendlieben, schützend ein Feuilleton zu breiten. Die Heine-Gegnerschaft erklärt Herr Busse ebenso tief wie einfach: »Wer Wind gesät hat, muß auf Sturm gefaßt sein, und Heine kann ja am Ende einige Stürme vertragen«. Gewiß, guter Busse: wer Wind gemacht hat, muß auf Sturm gefaßt sein: darin sind wir einig. Aber die Heine-Gegnerschaft ist ihm ein Symptom der »Unwahrhaftigkeit und Verschnörklung des gesamten Lebens«. In dem Punkt bin ich gerade der entgegengesetzten Meinung. Herr Busse sehnt sich nach dem »Sturm« (das ist wieder ein anderer Sturm), »der die Atmosphäre reinigt und die Gespenster vertreibt, nach dem Rebellen, der in den Treibhäusern die Scheiben zerschlägt und in erfrischten Lüften uns allen wieder ein freieres Atmen gestattet. Es ist Zeit, daß wieder Autoritäten gestürzt werden«. Der Rebell wird vermutlich ein Feuilletonredakteur sein. Er wird den Autoritäten mit allen Phrasen, die sie überliefert haben, zu Leibe rücken. Er wird wie Heine sein müssen, der nach Herrn Busse sehr viel auf einmal geleistet hat, zum Beispiel: er hat nicht scheu aus dem Winkel zugesehen, sondern sein Herz, sein rotes Dichterherz ins Getümmel geworfen, er hat in der Zeit gekämpft und geirrt; andere haben nur schöne Gedichte gemacht, aber er war ein Kerl; denn es gibt Epochen, in denen, und es gibt Stunden, wo (der Dichter an die Spitze seines Volkes gehört oder dergleichen). Heine kann nicht nur, sondern hat auch alles. »Er hat das kleine lyrische Lied, das wie ein Hauch vorüberzieht (durch mein Gemüt), und die mächtige Ballade, er hat die Schlichtheit der deutschen Volksweise ebenso wie das feierlich erhabene Pathos der Bibel und den komplizierten Ausdruck des modernen Kunstdichters, er hat das anmutige Idyll und die bitter aufpeitschende Satire, er hat die Stille und den Sturm, die Liebe und den Haß, die zarte Lyrik des Herzens und die grollende soziale Anklagelyrik.« Gewiß, guter Busse, alles das hat er, aber Wertheim hat noch mehr, und wenn Sie erst wüßten, was heute alles Wertheimer hat! Gewiß, die Heine’sche Form ist wie eine Toledoklinge. Und was eine solche alles kann, weiß man: »sie erreicht wie spielend den höchsten Wohlklang und stürzt sich wie mutwillig in die Dissonanz; sie kost und kichert, raunt und flüstert, verführt und schmeichelt, sie tanzt spinnwebfein mit den Elfen im Mondlicht und macht mit Lachen und Weinen, mit süßem Geigenstrich und weichstem Flötenton den Mädchen die Herzen heiß, aber sie trommelt auch Reveille und schreckt die Männer aus dem Schlaf, sie braust mit der wilden Jagd in Hallo und Hussa dahin, sie kann dröhnen wie Marschtritt der Heere, klirren wie Schwerter, pfeifen wie eine Klinge, klatschen wie eine Geißel«. Oder gar wie ein Feuilleton, Donnerwetter noch mal. Kurzum, Heine ist doch ein anderer Kerl als Mörike, für den sich vor zwanzig Jahren auch Herr Busse, wie er gern zugibt, gegen Heine begeistert hat. Nur irrt Herr Busse, wenn er glaubt, es gehe um die Entscheidung zwischen Heine und Mörike. Es geht um die Entscheidung zwischen Heine und der Kunst. Freilich wenn man nicht wüßte, daß Mörike bessere Verse als Heine gedichtet hat, man erführe es aus der Anklage des Herrn Busse: »Er, der lebensschwache Träumer, der nicht umsonst in Cleversulzbach und Mergentheim versteckt blieb, um den sich in seiner Zeit kaum eine Katze kümmerte und der Kinkerlitzchen ins Ausgabenbuch zeichnete, während draußen um die Freiheit gekämpft ward..!« Soll man gegen den Herrn Busse wirklich ausführlich werden? Mörike gehört nicht der Welt, weil er in seiner Fliederlaube saß und »die Kreuzer für Milch und Wecken in sein Haushaltungsbuch eintrug«! »Nicht umsonst« blieb er in Cleversulzbach, während draußen u.s.w. und während Heine »nicht umsonst nach Paris strebte, in dem das Herz der Welt damals wirklich schlug«. Effektiv schlug. Was Herr Busse alles nicht umsonst tut, das kommt nicht in die Literaturgeschichte. Mörike zeichnete Kinkerlitzchen ins Ausgabenbuch: Heine korrespondierte inzwischen mit seinem Bruder darüber, wie man am wirksamsten einen widerspenstigen Geldmann bedrohen könnte. Um Mörike braucht sich keine Katze zu kümmern, weil dies schon zu seinen Lebzeiten keine getan hat. »Man möchte hohnlachen, wenn man nicht vor Zorn weinen möchte!«, ruft Herr Busse und spricht also eines jener erlösenden Worte, die in einem Durchfallsstück das geduldige Auditorium endlich losbrechen lassen. Ich werde Herrn Busse, der sich von den Genies gedrückt und vernichtet fühlt, auch noch entmutigen. Er wird es sich künftig vergehen lassen, Wiener Börseanern den Mörike schlecht zu machen. Vor zwanzig Jahren war er auch für ihn, aber seit damals hat sich manches geändert und sind vor allem die lebenden Literaturhoffnungen schäbig geworden. Heine aber ist, je mehr sie sich verschmiert haben, ein umso größerer Könner geworden. Er ist nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Kerl, nicht nur ein Singvogel, sondern auch ein Raubvogel, nicht nur eine Hauslampe, sondern auch — man höre — »ein Leucht- und Blinkfeuer, das die auf dem dunklen Meere der Zeit ringenden Schiff er aller Nationen grüßte, das Weg weisende Lichtblitze in die finstere Zukunft warf und dessen Ruhm verbreitet ward bei allen Kulturvölkern«. Herr Busse aber, der scheinbar nur ein Schwätzer ist, muß auch etwas von all den Vorzügen haben. Denn es ist meine tiefste Überzeugung, daß die Phrase und die Sache eins sind. Über wen all das gesagt werden kann, der stinkt von der Phrase. Und wer all das sagen kann, steht an innerem Wert nicht weit hinter ihm zurück. Goethe — das vergißt so ein Schwätzer — war auch kein unberühmtes Leucht- und Blinkfeuer und ist dennoch »nicht umsonst« versteckt geblieben, in Epochen in denen, und in Stunden wo, und während draußen; und hat zugunsten der Nachwelt darauf verzichtet, sein rotes Herz ins Getümmel zu werfen, Reveille zu trommeln und der Kerl mit der kichernden Toledoklinge zu sein. Herr Busse aber ahnt gar nicht, wie bescheiden er ist, wenn er sich nicht selbst alle diese Fähigkeiten zuerkennt. Er scheint wirklich auch schon entmutigt zu sein. Freilich noch nicht genug, um das Geschwätz über Lyrik, mit der er doch wahrlich nichts mehr zu schaffen hat, einzustellen und sich endgültig dem reinen Geschäft zuzuwenden. Nur auf einen Nebenumstand sei er aufmerksam gemacht. Er fühlt sich verpflichtet, Detlev von Liliencron den »fabelhaft ursprünglichen Holsten« zu nennen, »der von Anmut zu Kraft emporsteigt und allen voranstehen würde, hätten seine sinnlich-poetischen Fähigkeiten sich mit gleich großen geistigen verbunden«. Das soll Herr Busse nicht mehr tun. Er soll es ja nicht mehr tun! Denn sonst könnte ihm, von einem, der Bescheid weiß und dessen Gedächtnis auch gerade zwanzig Literaturjahre zurückreicht — gesagt werden: Detlev von Liliencron war zwar schon damals anmutig, als Herr Busse noch kraftvoll war; aber zu den geistigen Fähigkeiten gehört die Urteilskraft, und wenn es auch wahr ist, daß dieser sein großes Dichterherz scheinbar ins Getümmel der Literaten geworfen und Anerkennung und Begeisterung nur so verschwendet hat, so hat er doch auch im rechten Augenblick die Distanz erkannt. Detlev von Liliencron, der sich für die Anfänge des Herrn Karl Busse mit Recht verantwortlich fühlte, hat bald gespürt, welches werdende Literaturgeschäft seine Sonne bescheinen sollte, und aus seinem Zweifel an der fabelhaften Ursprünglichkeit des Herrn Busse nicht das geringste Hehl gemacht. Wenn Herr Busse es künftig nicht lieber vermeiden möchte, den Namen Liliencron mit herabsetzender Anerkennung zu nennen, dann richte er es so ein, daß mir das Feuilleton nicht unter die Augen kommt! Ich bin etwas nervös und könnte mich hinreißen lassen, die geistigen Fähigkeiten Liliencrons am Fall Busse nachzuweisen.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 331/332, XIII. Jahr
Wien, 30. September 1911.