Zum Hauptinhalt springen

Notizen

Die Saalverweigerung

Juli 1911

Im ›Strom‹, einer neuen sozialdemokratischen Zeitschrift, die von einem Volks- und einem Großmann herausgegeben wird, veröffentlicht Herr Hermann Bahr eines jener überflüssigen Tagebücher, die manche »nachdenkliche« Worte enthalten und manche, die mir nachgedacht sind. Eine Notiz handelt auch von mir:

Sankt Veit, 28. April. Aus einer Gerichtsverhandlung erfährt man: Karl Kraus, ein Schriftsteller, der mich nicht mag (ich ihn auch nicht sehr), hat in Wien vorlesen wollen, aber der Saal ist ihm verweigert worden, angeblich aus Angst, weil Kraus unbeliebt sei. Das ist doch eine solche Niedertracht, daß man darüber alles vergißt, womit er einen zuweilen geärgert haben mag. Saalsperre, einem Redner angedroht, weil man nicht seiner Meinung ist! Immer noch die alte pfäffische Methode: einmauern, wenn einer unbequem wird. Und der alte bureaukratische Kniff der kleinen Perfidien. Aber die Freiheit des Wortes? Ich höre doch, daß dafür alle Schriftsteller mannhaft zusammenstehen.

Herr Bahr hat mir offenbar ein Geburtstagsgeschenk machen wollen. Ich lehne dankend ab. Es wäre unanständig von mir, die Genossenschaft des Herrn Bahr anzunehmen, weil er ihre Konsequenzen nicht bedacht hat. Er läßt sich leicht von seinem Temperament fortreißen, selbst an meine Seite, aber umso nötiger ist es, ihn zurückzuhalten. Ich kann auf seine Hilfe und die Hilfe der Schriftsteller, die er ermuntert, mannhaft für die Freiheit des Wortes zusammenzustehen, verzichten. Ich wäre wohl geliefert, wenn ich mit ihnen vereint gegen Saalbesitzer zu kämpfen hätte, und ich werde mit diesen besser allein fertig. Herr Bahr hat in seinem Eifer für die gute Sache, wie einst die paar Cholerafälle in Venedig, auch die Faktoren übersehen, unter deren Hochdruck die Saalbesitzer sich zur Sperre entschlossen haben. Es sind eben dieselben Kreise, von denen Herr Bahr erwartet, daß sie für mich mannhaft zusammenstehen werden. Denn es ist nicht etwa der Staat, nicht die Regierung, nicht die Polizei, nicht die Gesellschaftsordnung und nicht einmal die Kirche, wovor sich die Herren Saalbesitzer fürchten: es ist die Presse. Das wurde in einem andern Saal, der mir noch nicht gesperrt wurde, im Gerichtssaal festgestellt. Und nun denke der Herr Bahr, der allzuleicht entzündet ist und seit jeher eine gewisse Schwäche für mich hat — öffentlich mag er mich nicht sehr, aber heimlich schwärmt er für mich —, nun denke er einmal die Konsequenzen aus. Er ist Heimarbeiter für die Herren Benedikt und Lippowitz, diese sind es, vor welchen sich die Herren Bösendorfer und Umlauft gefürchtet haben: würde er es ernstlich wagen, sich mit seinen Vorwurf en an die richtige Adresse zu wenden? Würde er in der Tagespresse, die ihm zur Verfügung steht, gegen die »Niedertracht« zu protestieren wagen? Und wenn es mutig wäre — wäre es auch anständig, in der Presse die Feigheit anzuklagen, die der Presse geopfert hat? Er hat sich genug damit geschadet, daß er für mich das Wort nahm. Gegen die zu sprechen, die es angeht, dazu wird er sich nicht hinreißen lassen. Sein Liberalismus hat ihm zum Wort »Saalsperre« sofort die Wendungen »pfäffische Methode«, »bureaukratischer Kniff«, »Freiheit des Wortes«, »mannhaft zusammenstehen« assoziiert. Aber er hat vergessen, daß es sich nicht um Staat und Kirche handelt, sondern um Journalismus und Freimaurerei. Seine Kollegen, seine leiblichen Logenbrüder sind es, die zwei schlichte Geschäftsleute zu dem argen Schritt vermocht haben, und der Papst, der den Segen gab, heißt Benedikt. Nehmen wir an, Herr Bahr hätte Autorität genug, um seine freisinnige Phantasie, die sich vergaloppiert hat, in den richtigen Stall zu führen. Wo käme er da hin? Er hat im Neuen Wiener Journal das Tiefste gesagt, was sich über das Postamt 94, das unzuverlässige, sagen läßt. Würde er der Post einen Brief gegen das Neue Wiener Journal anvertrauen? Er spricht, wie wenn es die Aufhebung der Leibeigenschaft gälte. Aber es gilt die Stigmatisierung der Geisteigenen, wie ich die Kollegen des Herrn Bahr schon einmal genannt habe, ein Wort, das dann auch er in einem seiner nachdenklichen Tagebücher gebraucht hat. Diese Stigmatisierung besorge ich schon allein. Er meint’s ja gut und will mir zeigen, daß er’s gut meint. Mannhaft zusammenstehen! Wie vor einem verlornen Sohn bei Kotzebue steht man vor ihm und möchte über ihn die Hände ringen. Mannhaft zusammenstehen! Geh’ er mir, er ist ein Freigeist; sehe er zu, daß er es nicht gegen die Presse sei.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 326/327/328, XIII. Jahr
Wien, 8. Juli 1911.