Zum Hauptinhalt springen

Seine Antwort

Juni 1908

Herr K. hat mich, seit ich ihn als einen Mitarbeiter der ›Wage‹ kennen lernte, mit überschwänglicher Liebe, Bewunderung, Anbetung verfolgt, das hat mich gerührt und ich habe den talentvollen jungen Menschen, weil ich ihn für sauber hielt, leider nicht weggestoßen. Wenn ich nach Wien kam, holte er mich vom Bahnhof ab, und ließ mich nicht los, bis ich wieder im Zuge saß. Da er von fast allen, die mir in Wien bekannt und interessant sind, verachtet wurde und wird, verzichtete ich, aus Mitleid mit dem armen Teufel, auf das Vergnügen, diese Menschen zu sehen. Wenn er nach Berlin kam, war er bei mir wie Kind im Hause, saß, ohne Rücksicht auf meine knappe Zeit, stundenlang, halbe Tage lang bei mir. Ungefähr jede Gefälligkeit, die man erweisen kann, habe ich ihm erwiesen. So habe ich ihm fürs erste oder fürs zweite Heft seiner ›Fackel‹ (deren ganzen Plan, innere und äußere Gestaltung ich auf sein Bitten mit ihm durchsprach) einen Artikel geschrieben, nicht nur umsonst, sondern auch in dem sicheren Vorgefühl, welchen Haß ich mir dadurch in Wien zuziehen würde. Das geschah auch noch, ich war verfemt und die ›N.F.P.‹ lehnte einen Aufsatz Björnsons über mich ab. Für seinen Prozeß mit Bahr habe ich, trotzdem ich Bahr sehr schätze und immer für einen unbestechlichen Menschen hielt, ihm ein Gutachten geschrieben. U.s.w. Seine Bilder, Briefe, Karten strotzen von »Bewunderung« und Liebe. Er nennt mich nach einem Wiener Aufenthalt den Unvergeßlichen usw. Daß mir seine Tätigkeit mehr und mehr mißfiel, mußte er merken. Seine ewige Bitte: Ihn und seine ›Fackel‹ in der ›Zukunft‹ zu erwähnen, konnte ich nicht erfüllen, zweimal mußte ich ihm Artikel ablehnen. Daß ich sein Vorgehen gegen Bahr, seine Campagne für die widrig fand, verhehlte ich nicht. Zu einer Kritik erdreistete er sich zum ersten Male, als ich über die ...., die das Berliner Bühnenleben mit ihrer Geldmacht vergiftet hatte, einige unfreundliche Worte schrieb. (Er hatte gemeinen Privatklatsch über die ...... breitgetreten, war seit seinem grotesken Roman mit der ...... aber empfindlich in diesem Punkt geworden.) Ich antwortete schroff und ließ ihn bei seiner nächsten Anwesenheit nicht mehr zu mir kommen. Seitdem schimpft er ... Ich bin der Selbe geblieben, der ich in der Zeit seiner Verhimmelung war, habe nur gearbeitet. Sein Blatt habe ich seit zwei Jahren nicht mehr geöffnet, er schickt es mir und es bleibt in dem Umschlag liegen. Ekelhaft war mir’s längst, bevor er mich angriff. Jetzt steht er mit ›N.F.P.‹ und ›N.W.T.‹ in Reihe und Glied gegen mich. Habeat.

Maximilian Harden
(7. Juni 1908)

Ich bin ein alter Leser der ›Zukunft‹. Ein alter und treuloser Leser. Mein Vorurteil gegen Herrn Maximilian Harden ist gewiß unter allen Antipathien, die er sich seit der Gründung seiner Zeitschrift erworben hat, die beachtenswerteste, weil er mir persönlich so gar keinen Grund zu ihr gegeben hat. Das belastet in Wien, der Stadt der Verbindungen und Beziehungen, die sich die Niederlassung des Herrn Harden redlich verdient hätte, mein Schuldkonto. In der Reihe verlorener Freundschaften, die dem Lebensweg des Herrn Maximilian Harden unberechtigter Weise das ehrenvolle Dunkel der Einsamkeit verliehen haben, bedeutet mein schroffer Abfall die bitterste Enttäuschung. Bei allen anderen Verlusten konnte er die literarische Verfeindung auf die persönliche reduzieren. Meine Untreue nahm den anderen Weg. Ich habe Herrn Maximilian Harden aus blauem Himmel angegriffen. Welch’ tief unbegründete Abkehr! Wie bereute ich es, daß sie notwendig war, wie schämte sich mein Verrat des früheren Glaubens! Ich erkannte damals, daß der Altersunterschied zwischen uns sich umsomehr verengte, als ich mir erlaubte, die Kriegsjahre des Herrn Harden nur einfach zu zählen. Der Fünfundzwanzigjährige hatte neben dem Fünfunddreißig jährigen den Nachteil, aber zehn Jahre später den Vorteil der Jugend. Zuerst konnte er nicht sehen, und dann sah er einen Blinden. Die Jugend sollte sich nur von abschreckenden Beispielen erziehen lassen und sich die Vorbilder für die Zeit der Reife aufheben. Was ihr im weiten Umkreis deutscher Kultur sich bietet, ist ein so sicherer und tief fundierter Schwindel, daß selbst die Originale Surrogate sind. Nur die Phantasie wird mit ihnen fertig, zieht sie dem Leben vor. Wie sah der große Einzelkämpfer aus, dessen Meinung gegen jenen Strom schwamm, zu dem sich alle journalistischen Schlammgewässer vereinigen? Er sah aus, wie ich mir ihn schuf, und Herr Maximilian Harden lieferte für meine Erfindung die Gebärde. Ich sah seine Blitze zucken, und hörte seine Donner krachen; denn in mir war Elektrizität. Ich war ein Theatermeister, den das Gewitter, das er erzeugt, erzittern macht. Welchen Respekt hatte ich vor Herrn Maximilian Harden, weil seine Leere meinem Ergänzungstrieb entgegenkam. Solches Entgegenkommen wird zum Erlebnis, bleibt aber nur so lange das Verdienst des Andern, als man für die Werte, die man zu vergeben hat, nicht in sich selbst einen besseren Platz findet. Dann wohnt in den öden Fensterhöhlen das Grauen.

Karl Kraus
(31. Oktober 1907)

Seit längerer Zeit werden in den Kreisen, die sich für literarische Personalien interessieren, Wetten abgeschlossen: Wird er antworten oder wird er nicht? Ich entmutigte die Hoffenden. Er wird nicht, sagte ich allen, die mich fragten und die mit Recht annahmen, daß ich über die Hemmungen des Herrn Maximilian Harden besser informiert bin als er über die Triebe des Grafen Moltke. Er wird nicht. Denn er ist vornehm. Er hält’s auch hierin mit der Religion der ›Neuen Freien Presse‹, welche die Abtrünnigen mit dem dumpf grollenden Fluch dreimal spaltet: Nicht genannt soll er sein! Und er ist noch viel vornehmer. Denn wer die Betten der Fürstlichkeiten zu lüften gewohnt ist und grundsätzlich nur die Kübel der feinsten Herrschaften hinausträgt, wird nicht zu Leuten hinabsteigen, die weder für die literarischen Aufgaben eines Domestiken Verständnis noch Achtung vor dem Journalisten haben, der seinen Beruf so wenig verfehlt hat. Jeden Morgen beim Aufräumen des Schlafzimmers der Frau Gräfin den Lassalle zitieren, aussprechen, »was ist«, und der Nachbarschaft erzählen, daß der Herr Graf sich wieder einmal gänzlich abgeneigt gezeigt hat, mein Gott im Himmel, wer eine solche Leistung gering schätzt, versteht wirklich nichts von den Angelegenheiten der großen Welt. Wer es ferner nicht begreift, daß ein Nachkomme der Jesaias und Hütten das Recht haben muß, dem Richter, der ihm pariert, »eines Holbein Haltung und Haupt« nachzurühmen, und dem Richter, der ihn verurteilt, die Zuckerkrankheit vorzuwerfen, dem ist nicht zu helfen. Ich, in meiner publizistischen Weltabgeschiedenheit, sage: In die Lücke des deutschen Gesetzes, das dem privatesten Leben des Staatsbürgers den Schutz versagt hat, trete man ihn, daß er darin ersticke, den Kerl, der uns jetzt, nach monatelanger Qual, noch von der »schlimmen Krankheit« erzählt, die jener Graf »in die Ehe mitbrachte«. Indem ich aber so spreche, beweise ich nur, daß ich ein armer Teufel bin, dessen enger Horizont die großen Aufgaben der Politik nicht zu fassen vermag. Es wäre müßig, sich mit mir in eine Polemik einzulassen. Ich spüre ja doch nur den Gestank, den einer über das Vaterland verbreitet, und merke nicht, daß er fürs Vaterland stinkt. Ich entsetze mich über die kulturelle Scheußlichkeit, nein, über die geistige Minderwertigkeit einer Wahrheitsforschung, die mit Enthüllergebärden die deutsche Moral Justiz antreibt, in zwei Wochen nachzuholen, was sie in fünfundzwanzig Jahren versäumt hat, und die es endlich dahin bringt, daß ein Henkerparagraph verschärft und ein friedlicher Gebirgssee von Untersuchungsrichtern ausgemessen wird. Ich gedenke eines der markantesten Worte Maximilian Hardens: Lieber ein Schweinehund sein als ein Dummkopf! und beklage es tief, daß ihm die Entwicklung der politischen Dinge die Wahl schwerer gemacht hat, als er sich ursprünglich vorgestellt hatte. Denn wer der Freiheit des Geschlechtslebens eine Schlinge legt und sich in ihr verfängt, der ist wahrlich zu bedauern, er überschlägt sich, weiß nicht mehr aus noch ein, und schreibt schließlich Artikel, die zwar von weitem nach erpresserischer Gesinnung riechen, aber in der Nähe sich bloß als die Hilferufe eines ungeschickten Angebers erweisen, den die Konsequenz einer einmal begangenen Lumperei um den Verstand gebracht hat. Er glaubt noch ein Denunziant zu sein, und er ist schon längst der geistige Bundesgenosse des Milchmeiers Riedel, und mitleidig wiederholt der Leser die bekannte Frage: »Was ging’s dich an, Tropf, damischer?« Er sehnt sich nach den alten Zeiten, da ihm eine anonyme Schmähkarte an die Redaktion des ›Vorwärts‹ nachgewiesen wurde, durch die er Otto Erich Hartleben aus seinem Kritikeramte drängen wollte, und da er durch das Wort vom Schweinehund die peinliche Situation zur allgemeinen Zufriedenheit klärte. Jetzt zieht er aus Verzweiflung gegen die Schweinehunde vom Leder, weist ihnen täglich irgend eine erotische Beziehung zu den Fischerknechten nach, doch, ach, längst ist ihm selbst die geistige Mutualität mit dieser Sorte nachgewiesen. Er muß so tun, als ob er eine innere Befriedigung spürte, so oft ein bayrischer Hiesl unter dem auf ihn einstürmenden Bernstein endlich zugibt, der Fürst habe ihn »die Gaudi, die Lumperei« gelehrt. Und will es das Unglück, daß der Abreißkalender gerade Huttens Geburtstag anzeigt, so ersteht dem deutschen Volk aus diesem Chaos von Wahrhaftigkeit und Ekelhaftigkeit der Anblick einer Bruderschaft, bei der man nicht mehr weiß, ob Bismarck oder dem Riedel die Einigung Deutschlands zu danken und ob unter dem »aufrechten Milchmann« nicht vielleicht doch Lassalle zu verstehen ist.

Er kann nicht mehr zurück. Sein Tagwerk beginnt mit einer gefährlichen Drohung und endet mit einer Enthüllung. Kein deutscher Mann, der sich heute als Ehegatte schlafen legt, kann wissen, ob er nicht morgen als »Kinäde« aufsteht, bei der Nacht kommt alles an den Tag, und auf die Gefahr hin, offene Hosentüren einzurennen, verkündet der Retter des Vaterlands: »Pardon, ihr Tüchtigen, wird nicht mehr gegeben!« Mindestens soll mit allen abgerechnet werden, die sich der Wahrheit auf ihrem Marsche aus München nach Berlin entgegengestellt haben. Ob unter den Bedrohten auch ich gemeint sei — denn auch »die im schwarzen Schreiberrock« sind in Aussicht genommen —, darum geht seit langem in literarischen Kreisen die Wette. Er wird nicht! sagte ich. Zwar habe ich Schlimmeres getan als die Mitglieder jenes »Grüppchens« von Berliner »Preßpäderasten«, auf das der Normenwächter nicht ohne tiefere Absicht hinweist. Sie begnügten sich, zu sagen, daß es verfehlt sei, die vermeintliche Gefahr eines politischen Einflusses durch Anspielungen auf die genitalen Irrtümer einiger alten Herren bannen zu wollen. Ich habe diese Taktik als eine politische Tat gelten lassen, und dann erst gezeigt, wie sie der Menschheit ins Gesicht schlägt. Ich sagte: Der Kerl ist vielleicht ein Patriot, ein Kulturmensch ist er gewiß nicht. Und ich habe noch Schlimmeres gewagt. An einem Stil, der hier wirklich den Mann bedeutet, die große Unbedeutung dieses literarischen Charakters nachgewiesen. Das war eine Enthüllung, die sich vor die Enthüllungen des Herrn Maximilian Harden stellt; von der er spürt, daß sie ihm die gedankenlose Anerkennung seiner Zeitgenossen gestört hat, und von der ich weiß, daß sie ihn unsterblich machen wird. Anstatt mir nun dankbar zu sein, weil seine literarische Eigenart wenigstens in meiner Kommentierung auf die Nachwelt kommt, hegt er unauslöschlichen Groll gegen mich und sagt jedem, der es hören will, ich sei treulosen Gemütes, rachsüchtig und handle bloß aus verletzter Eitelkeit. Seitdem ich mit besorgter Miene die Schrecken der Elephantiasis an seinen Satzgliedern nachgewiesen habe, hat sich sein Leiden nicht gebessert. Wie sollte man glauben, daß er in diesem Zustand sich erheben und mir antworten könnte, er leide nicht? Ich habe in meiner Sünden Maienblüte bei ihm zu Mittag gegessen, ich war »wie Kind im Hause«, und jetzt greife ich ihn an. Beides ist sozusagen erweislich wahr, die Tat wie die Reue. Aber was sind alle Leiden der »kranken Physis« gegen den Alpdruck einer hochgestiegenen literarischen Jugend, die man einst bewirtet hat und die einem jetzt in die Suppe spuckt? In solchem Zustand rafft man sich zu keiner Polemik auf. Er wird nicht! Mit jedem Satz, den er gegen mich schriebe, würde er meine Feindseligkeit gegen seinen Stil rechtfertigen. Er, der immer gelitten hat, keinen seiner Briefe je ohne das Postskriptum ließ, daß er unsäglich leide, die Fatierung eines Einkommens von 52.000 Mark nie ohne vollständige Gebrochenheit vollzogen hat, in der Festung Weichselmünde mehr als Dreyfus litt und in Danzig sogar Champagner trinken mußte, um die Leiden der Festung ertragen zu können, er leidet jetzt mehr denn je. Seinen Körper hat Herr Schweninger behandelt, sein Geist leidet unter meiner Massage. Wie sollte sich der Unglückliche zu einer Abwehr aufraffen, der kürzlich einen Leitartikel mit diesem Satz begann: »Vor hundertzwanzig Jahren, als der dicke, pomphaft thronende, aus unkriegerischem Festlärm gern in seichte Salonmystik schweifende Sohn August Wilhelms just seine Eitelkeit mit dem nährkraftlosen Erfolg im holländischen Wilhelminenhandel gefüttert hatte, wurde eine Druckschrift bekannt, die, unter dem Titel ›Considérations sur l’état present du corps politique de l’Europe‹, schon fünfzig Jahre vorher entstanden war«. Wer so schreibt, sollte mir anworten können? Er wird nicht! Er weiß, daß ich ihn für ein literarisches Deutschland, das die Größe des Sprechers nicht nach der Länge seiner Stelzen beurteilt, erledigt habe. Er hat meinen Nachruf gehört und er ahnt, er könnte, wenn er nur im geringsten Miene macht, sich für scheintot auszugeben, eine Schändung seines literarischen Grabes erleben, die das Maß meiner gewohnten Pietätlosigkeit weit übersteigt. Er wird sanft ruhen und sich nicht mit mir in einen Wortwechsel einlassen. Tut er aber doch so, als ob er lebte, so reicht in der Besinnungslosigkeit des Schlachtens, das er sich in Deutschland erlauben darf, seine Klugheit auch heute noch so weit, die Grenzen seiner polemischen Möglichkeit richtig abzuschätzen. Nach siechen Fürsten, die ihre Feder höchstens in einem gefühlvollen Briefwechsel versucht haben und heute in der Charité liegen, langt sein publizistischer Mut. Mich kennt er. Er hat noch vor einem Jahre vor Frank Wedekind, der sich später nach Kräften um eine Versöhnung unvereinbarer Gegensätze bemühte, seine höchste Achtung meines literarischen Wesens bekundet. Die Versöhnung mußte leider an der Ungleichheit der gegenseitigen Schätzung scheitern. Wer aber fühlte so tief wie er die Lächerlichkeit des Versuchs, mich zu einer persönlichen Polemik herauszufordern? Nein, aus dem erhofften Hahnenkampf kann infolge Unpäßlichkeit des Gegners nichts werden. Er wird krähen, wenn er auf den Mist seiner Affären steigt. Er wird möglicherweise auch vom »feindlichen Federvölkchen« sprechen und selig im Stolz einer Unfähigkeit sein, die zu Diminutiven ihre Zuflucht nimmt. Er wird von einem Bürschchen sprechen, das einst aus seinem Schüsselchen gegessen hat. Vielleicht in einem Wiener Montagsblättchen, wenn zufällig ein Revolvermännchen auf die gute Idee kommt, ihn zu fragen, was er gern sagt. Beileibe nicht in der ›Zukunft‹. Das könnte die Aufmerksamkeit erregen und Moritz und Rina zur Bestellung der ›Fackel‹ verleiten.

Und so geschah es. Immerhin ist es die Antwort des Herrn Harden auf meine Angriffe, wenn sie auch bloß die Antwort auf die Frage eines Montags Journalisten ist. Er macht seinen Feinden mit Vorliebe außerhalb Preußens den Prozeß. Nur unterscheidet sich mein Fall von dem des Fürsten Eulenburg dadurch, daß ich der Gerichtsverhandlung beiwohnen und dem Zeugen Harden sofort auf die Schwurfinger schlagen kann. Für einen Augenblick wird das Niveau meines Hasses gedrückt. Mein Kampf gegen die Verpestung Deutschlands, meine Enthüllung des Mißverhältnisses zwischen einer literarischen Winzigkeit und ihrem Geräusch, mein ganzes öffentliches Bemühen soll zu einer Privataffäre erniedrigt werden, zu einem Wettkampf mit Herrn Harden, den jeder unbefangene Zuschauer für einen Akt der Feigheit halten könnte. Ich muß aus Humanität darauf verzichten, einen mit hundert Kilo Bildung beladenen, auf Stelzen daherkommenden Ritter mit dem Rapier anzugehen. Um es ihm leichter zu machen, soll ich ihm auf das mir fremde Gebiet privater Tatsächlichkeit folgen. Ich bin dazu zu haben, aber man wird mir den Widerwillen glauben müssen, erweisliche Unwahrheiten, die ich längst verdaut habe, zu korrigieren. Immerhin mußte ich darauf gefaßt sein, daß er mir ein paar Zitate an den Kopf wirft, wenn nicht aus den Korintherbriefen, so doch wenigstens aus meinen eigenen. Er kann nachweisen, daß ich ihn einst bewundert habe. Es nützt nichts, daß ich es nicht leugne, nie geleugnet habe und ihm feierlich verspreche, daß ich es nie leugnen werde. Für alle Fälle ist es gut, daß ich die Beweise der gegenseitigen Zuneigung nicht vernichtet habe, und daß auch ich die Ausdauer besitze, aus dem Chaos meines Archivs zu holen, was ich brauche. Ich gebe zu, daß ich im Kampf der Dokumente den kürzern ziehen muß und daß meine Zuneigung zu Herrn Harden kompromittierender ist als die seine zu mir. Aber anderseits muß ich doch wieder betonen, daß sein Urteil, das er als reifer Mann über mich gefällt hat, rechtsverbindlicher ist als das Vorurteil eines schwärmerischen Neulings, und es besteht für Herrn Harden immerhin die Gefahr, daß die literarische Forschung von ihm das Lob meines Schaffens beziehen könnte, während sie sicherlich meine Begeisterung für seine Werke als die Meinung eines unreifen Jungen verwerfen wird. Der künstlerische Vorzug, den er vor mir voraus hat: daß er seine Briefschaften besser ordnet und registriert und jedem Gegner durch einen Handgriff beweisen kann, daß man ihm vor zehn Jahren mit vorzüglicher Hochachtung geschrieben hat, wird ihm dabei nicht das geringste nützen. Ich möchte ihm nicht nur den Handgriff ersparen, sondern sogar versichern, daß die Hochachtung meiner Briefe mehr als eine Formalität war. Aber ich leide unter der Zudringlichkeit eines Menschen, der nach Jahren auf der alten Bewunderung besteht, die ich ihm nach reiflicher Überlegung entzogen habe. Nicht genug, daß Herr Harden in Bekanntenkreisen über die Veränderung, die mit mir vorgegangen ist (daß sie in mir vorgegangen ist, hält seinesgleichen für ausgeschlossen), sich bitter beklagt oder wie er sagen würde, »stöhnt«; daß er seinen Besuchern die »persönlichen Motive« auftischt, die er meinen Angriffen zugrundelügt — jetzt flüchtet er mit seinen Beschwerden noch in die Öffentlichkeit. Ich will ihm entgegenkommen und die Publizität seiner Anklage vergrößern. Schon um die Erfahrung zu verdichten, daß ein Denunziant und Moralphilister sich in keiner Lebenslage verleugnet. Die Antwort des Herrn Harden, im schmutzigsten Winkel des Wiener Preßpfuhls deponiert, liegt vor, und siehe, sie ist ganz im Geschmack der Aktionen, denen meine Angriffe gegolten haben. Er hat »nur gearbeitet«; aber während ich am Schreibtisch saß, ist er unter mein Bett gekrochen. Ich will ihn von der Stelle jagen! Wenn er unfähig ist, meinem öffentlichen Wirken Wunden zu schlagen, so wird er sichs künftig überlegen, Wunden meines privaten Fühlens aufzureißen. Doch wahrlich, man braucht nicht bis zu der Stelle zu gelangen, wo ich sterblich bin und er niedrig wird, um eine Nase voll von diesem Charakter mitzunehmen und von diesem Geiste.

Zunächst möchte ich auf den Dummkopf größeren Wert legen als auf den Schweinehund. Jener hilft sich, so gut er kann. Er sagt, daß ich, Karl Kraus, einen Brudermord begangen habe. An einem Bruder, den ich einst liebte. Da ich nun weder die Liebe noch den Mord leugne und jene sogar bereue, so sagt er, der Mord habe ein »persönliches Motiv«: Mein Bruder hat mir einmal einen Apfel, den ich haben wollte, nicht geschenkt. Ich habe also aus Rachsucht gehandelt. Ich empfinde es nun als eine Zumutung von unbeschreiblicher Ledernheit, die Legende, die der ermordete Bruder in die Welt setzt, zu entkräften und dokumentarisch zu beweisen, daß ich den Apfel bekommen habe. Ich könnte getrost zugeben, daß ich ihn nicht bekommen habe, und die Geistesschwäche dieses Motivs für einen Brudermord zur Diskussion stellen. Aber nicht einmal solcher Mühe müßte ich mich unterziehen. Denn der Gegner selbst scheint den Apfel für faul zu halten und läßt durchblicken, daß viel mehr noch als meine Rachsucht meine Undankbarkeit zu beklagen sei. Ich habe also den Apfel eigentlich doch bekommen. Da er mir verweigert wurde, beging ich den Mord aus Rache, und wiewohl er mir gegeben wurde, aus Undank. Nun scheint es freilich notwendig, sich endlich einmal für das eine oder für das andere Motiv zu entscheiden. Beide zusammen, so sollte man meinen, sind nicht gut verwendbar. Beide Argumentationen, jede für sich und ihre Verbindung, sind leichtfertiger auf die Dummheit des Lesers basiert, als es erlaubt sein sollte. Aber es glückt trotzdem. Denn wenn ich einen des Taschendiebstahls beschuldigen will und vor versammeltem Volke den Verdacht damit begründe, daß der Mann schielt, so wird vielen die Erweislichkeit des Körperfehlers so sehr imponieren, daß sie auch den Diebstahl glauben werden. Ich habe nach einem Apfel vergebens gehascht, das ist meinetwegen erweislich wahr, und jeder ruft: Aha! Jetzt verstehen wir! Aber es gehört schon eine Vereinigung besonderer Charakterschäbigkeit und raffinierten Schwachsinns dazu, das Bild der Situation so darzustellen: Ich, H., habe dem K. Unfreundlichkeiten erwiesen, darum greift er mich an, also aus rein persönlichen Gründen; und dies, wiewohl ich ihm Freundlichkeiten erwiesen habe: ich hätte erwarten können, daß er mich aus persönlichen Gründen schonen würde ... Ich könnte mich nun damit begnügen, zu sagen: Aus Dankbarkeit zum Lügner werden, hielte ich für tadelnswerter, als aus Rachsucht die Wahrheit zu sagen. Aber ich werde mich zum Beweise herablassen, daß ich sie aus Undankbarkeit gesagt habe. »Hätt’ Wahrheit ich geschwiegen« oder gesprochen, in jedem Fall geschah es aus rein persönlichen Gründen. Anders verstehts der gesunde Menschenverstand nicht und sein publizistischer Diener mutet ihm nichts zu, was er nicht versteht. Daß es anders gewesen sein könnte, ist unmöglich. Ich gebe die Liebe zu und den Mord. Ich gebe auch zu, daß Herr Maximilian Harden »der Selbe geblieben ist« — meinetwegen sogar in dieser Schreibart —, derselbe, der er in der Zeit meiner Verhimmelung war. Daß ich ein anderer geworden sein könnte, daß ich das Recht hatte, zwischen zwanzig und dreißig ein anderer zu werden, das wird im Reiche der erweislichen Wahrheit nicht anerkannt. Sie muß sich, um zu ihrem Ziel zu kommen, mit erweislichen Lügen behelfen. Meine Entwicklung, die heute — wenn’s niemand hört und sieht — meinen Todfeinden Achtung abnötigt, wird nach wie vor offiziell auf die Verweigerung des Apfels zurückgeführt. Er wurde mir zuerst bekanntlich von der Neuen Freien Presse verweigert und dann von Herrn Harden. Seitdem schimpfe ich ... Aus Juvenal zitieren sie nicht: »Facit indignatio versum« oder »Difficile est satiram non scribere«, um mein Verhältnis zu ihnen dem Publikum klarzumachen, sondern immer nur: »Hinc illae lacrimae!« Habeant. Aber ich muß leider darauf eingehen. Ich muß die Legende der Rachsucht zerstören, damit die Undankbarkeit übrig bleibe. Ich muß immer wieder mit den Engagementsanträgen, die mir die Neue Freie Presse gemacht, und den Gefälligkeiten, die mir Herr Harden erwiesen hat, renommieren, damit auf die dümmste Erklärung für meinen Haß, die der Intelligenz verständlichste, endlich verzichtet werde. Herrn Harden beruhige ich mit der Versicherung, daß ich jetzt auch beim Anblick jener publizistischen Leistungen, durch die er damals mein Entzücken erregt hat, annähernd denselben Brechreiz verspüre, den mir seine heutigen Artikel verursachen. Ich hatte viel nachzuholen. Aber es ging, und für alle Lektüre, die ich damals beschwerdelos vertrug, habe ich nachträglich das Gefühl, als ob mir eine Stelze dieses kühnen Turners in den Rachen gesteckt würde. Wenn ich den Artikel, mit dem er die ›Zukunft‹ eröffnet hat: »Vom Bei zu Babel« mit meinem Eröffnungsartikel »Die Vertreibung aus dem Paradies« — den ich heute Satz für Satz umbauen müßte —, vergleiche, so verstehe ich nicht, wie ich je an Herrn Maximilian Harden etwas anderes als die Fähigkeit bewundern konnte, Temperamentsmangel zu dekorieren, oder höchstens die, beim Schwingen von Riesengewichten aus Papiermache wirklich zu schwitzen. Herr Harden ist der Selbe geblieben. Ich Gottseidank nicht. Aber auch ich »habe gearbeitet«, und mehr als Herr Harden. Besser als Herr Harden. Und ich reinige jetzt meine Arbeit vom Schutt des Tages, und entdecke, daß der Schutt mehr Gehalt hat als seine Edelsteine. Ich fühle meinen Verrat vor dem Forum der Erkenntnis gerechtfertigt als eine tiefere Treue gegen mich selbst, und die Literaturgeschichte wird sagen, er sei eine Rehabilitierung für meine Liebe. Nicht nach »persönlichen« Motiven werden meine Richter forschen; nichts anderes werden sie sich zu fragen haben, als die Frage, ob die »Persönlichkeit« weit genug war, um sich, wenn auch im Alter der geistigen Entwicklung, so ausgreifende Schwankungen des Urteils zu erlauben. Der Tatbestand reicht über Herrn Harden hinaus. Ich denunziere mich. Zwei Dritteile des literarischen Werts meiner Arbeit werfe ich freiwillig hin, ein Dritteil der Meinung. Damit mir meine Gegner nicht immer nur Widersprüche, sondern einmal auch eine Entwicklung nachweisen. Ich darf mich verleugnen, und mit mir selbst vieles, was andere zur ›Fackel‹ beigetragen haben, die heute in meine Lebensanschauung passen wie der Wagner in Fausts Entzückung. Den »ganzen Plan der ›Fackel‹, innere und äußere Gestaltung«, hat Herr Harden mit mir durchgesprochen; trotzdem wurde ich ihm untreu. Aber bin ich dem Plan der ›Fackel‹, ihrer innern und äußern Gestaltung, treu geblieben? Ich bereue keine meiner Taten; ich verlange nur, daß sie im Zusammenhang mit mir selbst beurteilt werden. Ich bereue sogar meine Sympathie für Herrn Maximilian Harden nicht. Aber ich mache ihm den Vorwurf der Undankbarkeit. Denn er hat mich schmählich getäuscht. Er hat untreu an mir gehandelt; denn er hat mir eine Begeisterung zerstört. Ich mußte damals, als sich mein Temperament nur in den schmalen Grenzen sozialer Ethik echauffieren konnte und im Kampf gegen die Korruption die Lebensanschauung eines idealen Staatsbürgertums bejahte, in dem Manne, der um etliche Jahre früher in der Presse ein Übel erkannt hatte, die Ausnahmserscheinung sehen. Die Vorgängerschaft mußte auch dem imponieren, der schon damals die Intensität des Kampfes voraus hatte, wie er jene Erkenntnis der intellektuellen Korruption voraus hatte, die im Journalismus — jenseits volkswirtschaftlicher und politischer Gefährlichkeit — den Todfeind der Kultur sieht. Die glückliche Zufallsstellung, in die Herr Harden gegen die öffentliche Meinung Deutschlands geraten war, mußte an eine junge Phantasie das Bild eines Kämpfers heranbringen und sie etwa auch zum Widerstand gegen eine Raison reizen, die ihr damals gesagt hätte, daß jener Herkules sichs am Scheideweg lange überlegt hat und jener Luther auch anders gekonnt hätte. Die Zeit zur Enttäuschung war noch nicht gekommen; ich wäre jedem an die Gurgel gefahren, der mir damals über meinen Harden ausgesprochen hätte, »was ist«. Daß er ein Philister ist, der es glaubt, oder ein Kujon, der es den Leuten einredet: daß einer um einen Apfel bereit sei, eine Liebe zu verraten; oder ein Antikorruptionist, der es in Ordnung findet: daß einer für ein Mittagessen in der Villa Harden eine eroberte Erkenntnis preisgibt. Was will denn das Pack von mir? Glaubt es wirklich, daß die Gluten meines Hasses aus »Motiven« stammen? Dann wäre meine Entzündbarkeit ein Wert für sich oder meine Tätigkeit ein mechanisches Kuriosum. Wie, dieser ausgepichte Meinungswechsler, der im Alter von vierzig je nach Bedarf die Homosexualität entschuldigt oder bekämpft, den Meineid rechtfertigt oder verfolgt, Kolonialminister in den Himmel hebt und sie beschimpft, wenn sie öffentlich von ihm abrücken — der, gerade der wagt es, mir eine Entwicklung, die sich aus Gefühltem zu Gedachtem hindurchgeschmerzt hat und die in ein inneres Leben führt, von dem sich freilich die Zettelkastenweisheit nichts träumen läßt, als die Rache eines refusierten Besuches auszulegen? Welch ein großzügiger Dummkopf!

Aber, indem er meine Rachsucht zu stark betont, unterschätzt er wahrlich meine Undankbarkeit. Ja, er hat mir für das zweite Heft der ›Fackel‹ einen Artikel geschrieben, und nicht nur »umsonst«, sondern auch vergebens. Umsonst: wie hätte ich ihm ein Honorar anzubieten gewagt, da er eine lobende Einführung der ›Fackel‹ geschrieben hatte? Ich wußte nicht, daß er auf Bezahlung hoffte, als er meinen Witz und meine Kraft pries, und ich stelle das Honorar nachträglich — mit den in neun Jahren aufgelaufenen Zinsen — zu seiner Verfügung. Vergebens: Er hat sich in diesem offenen Briefe der Wiener Journalistik in einer Art angebiedert, die schielend zwischen mir und jener zu vermitteln hoffte. Genützt hat’s ihm nichts, denn die Verbindung mit mir hat zu der von ihm tief beklagten Verstimmung der Neuen Freien Presse geführt. (Ich müßte ihm also gar noch Schadenersatz leisten.) Aber auch bei mir hat es ihm nichts genützt; denn ich bin ihm schon damals — in jenem zweiten Heft — verehrungsvoll über den Mund gefahren. Er lügt aber, wenn er behauptet, daß ich ihm dauernd bei der Neuen Freien Presse geschadet habe. Er lügt, wenn er behauptet, daß ich ihn in Wien durch meine Gesellschaft dermaßen fesselte, daß er zu den interessanten Leuten nicht gelangen konnte. Er hatte immer noch Gelegenheit, sich heimlich zur Neuen Freien Presse zu schleichen, wenngleich ich nicht in Abrede stellen kann, daß er erst nach unserem Bruch zum Sacher ging, um sich an der redaktionellen Tafel zwischen den Herren Bacher und Benedikt fetieren zu lassen. Er spricht die Wahrheit, wenn er sagt, daß ich fast von allen Wiener Leuten, mit denen er gern verkehrt hätte, verachtet wurde und werde. Verachtet werde ich von den Bankräubern, den Gesellschaftsparasiten, den talentlosen Literaten, den Revolver Journalisten, denen Herr Harden jetzt Briefe schreibt, und überhaupt von all den ihm bekannten und interessanten Leuten, von deren Verkehr ich ihn eine Zeitlang abgehalten habe. Nicht immer wäre mirs gelungen und nicht immer tat ich es. Bei seinem ersten Wiener Aufenthalt, vor mehr als zehn Jahren, damals, als er mir fast den ganzen Tag widmete, war ich in der schlechten Gesellschaft noch nicht verachtet, damals war die ›Fackel‹ noch nicht gegründet und Herr Harden hat sich, ohne beiderseits Anstoß zu erregen, getrost zwischen mir und Herrn Benedikt geteilt. Meine Undankbarkeit ist grenzenlos. Denn obschon ich ihn bewundert habe, so kann ich doch nicht leugnen, daß auch er mir volle Anerkennung widerfahren ließ und bei jeder Gelegenheit meiner rühmend gedachte. Und ein ganz so armer Teufel war ich damals nicht mehr. Die »Demolierte Literatur« war erschienen, hatte ziemlich starkes Aufsehen gemacht und mir außer unerbetenen Rezensionen von Fritz Mauthner, Friedrich Uhl, Conrad und anderen die besondere Anerkennung des Herrn Harden eingetragen. Auch in jenem unbezahlten Artikel im zweiten Heft der ›Fackel‹ nannte er sie eine »allerliebste Satire«, sprach darin von meinem »starken Talent und der neidenswerten Frische meines Witzes«, freute sich »meines Mutes und meiner jungen, frischen Kraft, die sich im ersten Heft der ›Fackel‹ so pantherhaft heftig in Zorn und Spott austobt«. Freilich wäre dieses hohe Lob wertlos, wenn es nur in der Erwartung eines Honorars geschrieben war und die wahre Meinung des Herrn Harden über den armen Teufel, der damals nichts gezahlt hat, erst jetzt an den Tag kommt. Ich lebte in dem Glauben an eine gegenseitige Anerkennung, wenn auch die meine, die des um zehn Jahre jüngeren und um hundert heftigeren Naturells, füglich den ungestümeren Ausdruck fand. Wenn er nach Wien kam, verständigte er mich rechtzeitig von seiner Ankunft und ließ mich nicht los, »bis er wieder im Zuge saß«. Seine Bilder, Briefe, Karten strotzen von wärmster Anerkennung und Liebe. Seine Bücherwidmungen lassen mir alle Ehre widerfahren und in seinen Conférencen war die Auskunft über mich und meine literarische Rolle nicht wenig schmeichelhaft. Ich kann mir’s nicht denken, daß das herzlichste Mitleid mit einem armen Teufel eine jahrelange Korrespondenz und den Verzicht auf die schöne Beziehung zur Neuen Freien Presse gelohnt hat. Es ist mir peinvoll, mich auf das Niveau eines Tatsachenkampfes herunterzulassen und im Wust meiner Papiere nach Beweisen dafür zu suchen, daß ich Herrn Harden meine Bewunderung nicht wie ein Betteljunge seine Schuhriemen aufdrängte, und daß er mir nicht Mitleid, sondern Freundschaft und hohe Anerkennung gezollt hat. Aber da man solche Wahrheitsucher nur mit Tatsachen abspeisen kann, so ist es geboten, jede einzelne seiner Behauptungen als Lüge zu erweisen. Es wäre mir nicht im Schlafe bei der Lektüre seines Sardanapal-Artikels eingefallen, ihm seine einstige Hochschätzung meines Könnens zum Vorwurf zu machen. Aber weil er mit meinen Jugendsünden großtut und die Mutualität ableugnet, muß ich zu den Dokumenten greifen. Hat er also aus Mitleid sich von einem armen Teufel seine kostbare Zeit stehlen lassen, oder hat er vielleicht gefunden, daß meine Gesellschaft ihn für den Umgang mit den interessanten Leuten entschädige? Von einem gemeinsamen Bekannten, der mich damals noch nicht verachtet hat, heißt es:

30. Nov. 1900

... schrieb mir einen bösen Brief .... Ich hätte mich nur um Sie gekümmert .... Ihnen danke ich noch herzlich für all Ihre liebenswürdige Teilnahme. Ich hoffe, die zwei Tage waren Ihnen nicht unangenehm .... Noch lieblicher als die N.F. Pr. war die Arbeiterztg ... Ach, wie ekelhaft ist das alles. Und wie sehr wünsche ich Ihnen Frohsinn und Kraft! In Prag wird die Fackel viel gelesen. Und ich sagte, wie gern ich Sie habe ... Bitte, grüßen Sie Adler (Anm.: Prof. Dr. Karl Adler), Altenberg, Loos und sagen Sie allen Dreien, daß ich mich freuen würde, wenn sie mir Beiträge schickten.

26. August 1903

... Schade, wir hätten auf Helgoland 3-4 schöne Tage verlebt ... Vor 15. September braucht die ›Fackel‹ nicht zu leuchten. Dann umso heller ...

30. August 1903

... Vielleicht geht’s, daß wir später mal auf ein zehntägiges Billet zusammen Paris sehen? Das wäre herrlich ...

Nun ja, aus Mitleid mit einem armen Teufel nimmt man ihn schon gelegentlich nach Helgoland oder Paris mit. Aber in Berlin, wo man zu tun hat, wird man doch nur belästigt. Stundenlang, halbe Tage lang saß ich ihm, ohne Rücksicht auf seine knappe Zeit, im Hause. Zwar, eine Depesche nach Wien lud mich, wenn ich die Absicht kundgegeben hatte, nach Berlin zu kommen, »für ein Uhr zum Mittagbrot«. Aber dann war ich nicht fortzubringen:

7. März 1900

... Ich freue mich sehr, wenn Sie kommen, sehr sogar. Wie wäre es, wenn wir hier (1. April) den Geburtstag der ›Fackel‹ feierten? Dann kämen Sie am 28. März. Los von Wien!

Herzliche Grüße von Emil, Helene, Max

Hotel Kaiserhof, 17. April 1903

Tournée des dupes. Der Mann unten sagt auf wiederholte Frage: Herr K. ist zu Haus. Als ich keuchend vor Nr. 223 stehe, ist die Tür verschlossen. Schade ...

17. April 1903

Ich ließ 9 Uhr früh bei Ihnen antelephonieren und sagen, daß ich Sie um 12 erwarte, zu Mittag zu bleiben bitte, da ich nachmittags in die Stadt müsse. Es wurde, mit m. Namen und Telephonnr., aufgeschrieben und teleph. wiederholt, von 12-12¾ wartete ich, dann ging ich Ihnen entgegen bis ½2. Schade. Wir wären von 12-4 zusammengewesen. Nun ist alles umgeworfen und ich komme um das Vergnügen, Sie noch einmal zu sehen. Sie hätten hier Schweninger für Ihren Finger konsultieren können ....

Eben. Während er noch suchte, war Kind schon im Hause und nicht fortzubringen.

15. Oktober 1903

... Die Aussicht, Sie bald einmal hier zu sehen, freut mich sehr. Und nicht minder die Damen. Alles Gute! Ihr alter H.

29. Oktober 1903

... ich habe sehr bedauert, daß ich Sie (Anm.: im Hotel) verfehlte und nachher nicht mehr erreichen konnte. Sonst hätte ich den Tag frei gehabt.

Wer hat die Freundschaft verraten? Der sie ablegte, da er sich ihr entwachsen fühlte, aber zugibt, daß er sie einst trug? Oder der später höhnt, sie sei ein Narrenkleid gewesen? Er beschimpft die Freundschaft; ich bereue sie nicht einmal. Ich sage, daß ich mit Herrn Harden befreundet war, bis ichs nicht mehr sein konnte. Er sagt, daß er aus Mitleid mich ertrug, bis er Undank erlebte. Aber der arme Teufel, der sich ihm aufdrängte, hat außer den gedruckten Versicherungen höchster Bewunderung wiederholt briefliche Beweise der Achtung und Anerkennung empfangen. Ich finde nur ein paar, vielleicht nicht einmal die stärksten.

30. März 1899

Liebster Kraus, ... eben, 2 Uhr, kommt die ›Fackel‹. Tausend gute Wünsche! Ich lese sie sofort und schreibe Ihnen.

1. April 1899

... Meinen und Bertholds Glückwunsch zum trefflichen ersten Heft. Excelsior! ... Ich mache Notiz über Sie, sobald Notizbuch erscheint. Herzlichen Ostergruß.

9. April 1899

... Sie haben Recht, ich auch — und so soll’s in guten Dramen sein. Herzlichen Dank für Ihren Brief und besten Glückwunsch zum großen Erfolg. Qu. felix faustumque sit.

5. Mai 1900

Die Speidel-Feier war toll .... Sehr freute ich mich über Ihre Enthüllung der Münchener Sonnenthalaffäre. Eine niedliche Bande. Daß sich das Publikum das gefallen läßt, ist das einzig Traurige ... Schade, daß Sie nicht hier jetzt Ihre Schmöcke an der Arbeit sehen können. Daß Franz Joseph ein »großer und weiser Kaiser« ist (W. II. Trinkspruch), wird Sie interessiert haben. Schonen Sie Ihre Kraft!

12. Mai 1900

(Verteidigt sich gegen die Beschuldigung der ›Zeit‹, er unterhalte »gute Beziehungen zur ›Neuen Freien Presse‹«) ... Das ist Alles. Oder noch die Visitenkarte an Speidel: »sendet dem starken deutschen Stilmeister herzl. Glückwünsche«. Und das tat ich, weil Sie gesagt hatten, er spreche gut über Sie. Daß mein Ehrgeiz dahin geht, ihr Korrespondent zu werden, ist herrlich .... Herzlich grüßt Sie, lieber Karl, Ihr H.

13. Mai 1900

... Ihre Abwehr kontra ›Arbeiterzeitung‹ scheint mir recht wirksam. Und sehr gut sind die Theatersachen ...

2. Juni 1900

... »Wien bleibt Wien«. Das mit dem »Privatbrief« habe ich gar nicht verstanden. Ich habe das ja nie getan. Denn bei Mamroth handelt es sich um Provokation u. nicht um e. Sache, die »privat« war. Aber das Alles ist so ekelhaft. ›Arbeiterzeitung‹ gegen Sie bübisch gemein .... Freue mich, daß wir über »Pauline« einig sind.

6. Juni 1900

Herzlichen Dank, lieber Don Karl, für den Ruf vom Semmering. Daß Sie nach der Büberei gleich den Beitrag von Liebknecht hatten, war ein famoser Trumpf, den ich gern in Ihrer Hand sah. Ich bin neugierig, zu hören, was Sie über die Wahlen sagen werden ...

24. Dezember 1900

Herzlich danke ich Ihnen für das liebenswürdige Weihnachttelegramm, das eben kam, als ich Ihnen einen Gruß senden wollte. Wie mag es Ihnen gehen? Ist die Depression gewichen? Ich glaube es, denn Ihr »Goethe« ist frisch und allerliebst. Von Herzen wünsche ich, das neue Jahr möge Ihnen Befreiung von Sorgen und frohe Arbeitskraft bringen. Sie sind jung, haben in ganz kurzer Zeit Außerordentliches erreicht — und werden nicht eingesperrt .... Es würde mich, uns sehr freuen, wenn Sie vor meiner Abschiebung nochmal herkämen. Herzlichen Händedruck und: Prosit Neujahr! Grüßen Sie Peter den Größeren. Ihr alter H.

9. Jänner 1901

... Ich freue mich auf die wiener Wahl-Fackel ...

28. November 1902

... Altersunterschied, mein Herr. J’ai passé par là; deshalb dünkt der leise Groll, den ich in Ihren Worten spüre, mich nicht gerecht .... Also ich hoffe, Sie bald hier zu sehen. Und zu hören, daß Sie nicht ganz so wütend auf mich sind, wie mirs scheint. Glauben Sie mirs: ich bin arg zerbrochen und wünsche Ihnen vom Herzen, diese Erlebnisse möchten Ihnen erspart bleiben.

Bismarcktag 1903

Herzlichen Dank für Ihren liebenswürdigen Zuruf. Rara avis. Ich glaubte schon an völlige Ungnade. Sprach neulich mit Berger, der 5½ Stunden bei mir war, viel über Sie ...

Ostern 1903

... und freuen uns darauf, Sie bald wieder einmal im Grunewaldhäuschen zu sehen. Lassen Sie sichs in der Festzeit gut gehen. Maxa war ganz stolz und gerührt; drei Karten: Schweninger, Kraus, Mauthner. Für vier Lebensjahre Alles Mögliche.

1. Mai 1903

... Siegfried J. (Jacobsohn), der sehr entzückt über Ihr Beisammensein schrieb, war bis 1.5. bei der ›Zeit‹ ... Ich denke ernstlich an die ›Fackel‹ (Anm.: wegen eines versprochenen Beitrags) ... Bald mehr. Wir 3 grüßen Sie herzlich. Guten Mai!

8. Mai 1903

... Dank auch für boy-goi .... Ich habe eine üble Nervenerkrankung. Aber Sie haben mir ja oft hier gesagt, ich »jammerte immer«. Wenn ich im Narrenhaus sitze, wirds Ihnen leid tun. Behandelt haben Sie mich ja neulich ganz human, wofür ich dankbar bin. Übrigens war dieser Absatz der F. besonders gut geschrieben. Aufrichtig wünsche ich Ihnen gute Tage; und Nächte.

10. Dezember 1903

... Die Waiß-Sache (?) freilich stark; aber soll man Sachen nach 28 Jahren ausgraben? ... Die ›Fackel‹ zeigt, daß Sie frisch und munter sind. Das freut mich aufrichtig. Herzlich Ihr Moriturus.

19. Dezember 1903

Lieber Herr K., Ihre Notiz über Weinberger ist das Allerliebsteste, was ich lange von Ihnen las. Ganz reizend. Neulich war Berger bei mir. Wir sprachen von Ihnen ... Eine Aufforderung Concordia, zur Damenspende beizusteuern. Das ist Unsterblichkeit .... Ihr alter H.

Daß ihm meine Tätigkeit mehr und mehr mißfiel, mußte ich demnach merken. Nicht minder, daß er sich durch die Verbindung mit mir bei der Concordia unmöglich gemacht hatte. Meine ewige Bitte, mich und die ›Fackel‹ in der ›Zukunft‹ zu erwähnen, konnte er nicht erfüllen .... Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn darum gebeten habe. Er sehe in meinen Briefen nach. Die seinen ignorieren meine Zudringlichkeit ganz und gar. Möglich ist es, daß ich ihn an eine Zusage, es zu tun, erinnert habe. Diese Zusage war freiwillig gemacht. Das scheint wohl aus dem Briefe, den er am Tage der ersten Ausgabe der ›Fackel‹ schrieb — 1. April 1899 —, hervorzugehen: »Ich mache Notiz, sobald u.s.w.« Doch warum sollte es mir damals nicht erwünscht gewesen sein? Wenn er es nicht tat, so muß er gefürchtet haben, was ich hoffen mochte: daß der ›Fackel‹ Eingang in Deutschland verschafft werde. Und wenn er es im Jahre 1899 nicht tat — warum sollte ich ihn erst 1904 dafür angegriffen haben? Ich glaube nicht, daß ich je später auf sein Versprechen oder auf meinen Wunsch zurückkam. Tat ich’s, welchem Esel würde die Versagung einer Notiz bei fortgesetzter persönlicher Beziehung meine späteren Angriffe plausibel machen? Höchstens, daß das Motiv der Versagung — um auf ein »starkes Talent« das deutsche Publikum nicht aufmerksam zu machen — zu meiner Erkenntnis von dem Wesen des Mannes beigetragen hätte. Aber auch hier läßt sich eine Gegenseitigkeit nicht in Abrede stellen. Ich weiß nicht, ob ich Herrn Harden mit der Bitte, die ›Fackel‹ zu nennen, zudringlich wurde. Vielleicht hatte ich einmal wirklich Anspruch darauf: eine wichtige Äußerung Liebknechts in der ›Fackel‹ hatte er ohne Quellenangabe zitiert. Aber ich bin in der angenehmen Lage, zu zeigen, wie schwer es Herr Harden trug, in einer ihm wichtigen Sache — gleichfalls Liebknecht betreffend — in der ›Fackel‹ nicht genannt zu werden.

31. Dezember 1899

Lieber Herr Kraus, ich wünsche Ihnen ein gutes Jahr. Und, daß Keiner komme und sage: Siehe, in Sachen Liebknecht, den er allwöchentlich als Finder neuer Weisheit preist, hat auch er, der stets über »Totschweigen« redet, totgeschwiegen. Bleiben Sie gesund und freuen Sie sich Ihres Lebens. Einen Gruß von H.

Ich ahnte, daß er sein Monopol als Antidreyfusard durch Liebknechts ›Fackel‹-Publikation gefährdet sah. Aber Liebknecht braucht nicht gegen den in einem bittern Brief erhobenen Vorwurf geschützt zu werden:

5. Jänner 1900

Lieber Herr Kraus, mir ist’s nur spaßhaft. Seit Jahren führe ich diesen Kampf, habe dabei Abonnenten (und Freunde, wie Björnson) verloren und Beschimpfungen gewonnen. Da gibt mein früherer Freund Dr. Berthold dem alten Liebknecht meine Artikel (Zolas Fall u.s.w.). Il s’emballe, wiederholt alle meine Argumente, fügt einiges hinzu, was mir töricht scheint, und wird nun in der ›Fackel‹ stets als Einer hingestellt, der den Mut gehabt habe, der Katze die Schelle umzuhängen, und der deshalb »totgeschwiegen« werde. Im Grunde ist’s gleich. Aber durfte ich es Ihnen gegenüber nicht scherzend erwähnen? Hier hat man viel darüber gelacht, meinen Todfeind L. in meiner Garderobe zu sehen ....

In der ›Fackel‹ war bloß von der Verlegenheit der sozialdemokratischen Presse die Rede gewesen, die Liebknechts Artikel totschwieg. Natürlich hat dieser nie die Informationen des Herrn Harden gebraucht, ihm war es eine Angelegenheit des Temperaments. Die Garderobe des Herrn Harden hätte ihn gewiß lächerlich gemacht — ungefähr: Ein Ritter im Ballerinenkleid. Aber Herr Harden legte auf die Anführung seines Verdienstes in der ›Fackel‹ großen Wert. Aus einer Unterlassung solcher Art leitet er Todfeindschaften ab. Darum mag er glauben, daß ich die angebliche Ablehnung zweier Beiträge aus meiner Feder nicht verschmerzen konnte. Ich erinnere mich nur an einen, gebe aber grundsätzlich zwanzig zu. Die Verteidigung wäre hier abgeschmackter als der Vorwurf. Wenn Herr Harden mir Manuskripte ablehnte, so konnte mir dies höchstens wieder seinen inneren Widerstand gegen die Förderung eines von ihm anerkannten »starken Talents« deutlich machen, also einen beruflichen Zug von Mißgunst, den man kaum an irgend einem deutschen Publizisten vermissen, ihm kaum übelnehmen wird. Aber soll es eine Abkehr so vehementer Art wie die meine begründen? Meinen Ehrgeiz, an der ›Zukunft‹ mitzuarbeiten, hatte er durch wiederholte Aufforderung zu befriedigen gesucht, aber jener scheint nicht so brennend gewesen zu sein, da ich dieser nie entsprochen habe. Ich weiß nur, daß ich ein einzigesmal ihm einige Aphorismen sandte, um die er mich bestimmt nicht gebeten hatte und von denen ich voraus wußte, daß sie für seine Leserschaft zu starke Kost bedeuten würden. Es machte mir damals schon Spaß, Herrn Harden mit ein paar Unmöglichkeiten erotischer Psychologie zu versuchen. Aber ich wollte auch seinen wiederholt geäußerten Wunsch erfüllen und schrieb etwa, wenn er sie nicht mehr in die nächste Nummer nehmen könne, erbäte ich sofortige Rücksendung. Er antwortete — gewiß wär’s nur höfliche Ausflucht —, es sei zu spät gewesen. Wir blieben trotzdem in freundschaftlichem Verkehr. Aber es nagte, wie ich jetzt erfahre, an meinem Herzen. Wenn’s mir um die Mitarbeit an der ›Zukunft‹ gegangen wäre, hätte ich in fünfjähriger Beziehung wohl öfter die mir dargebotene Gelegenheit ergriffen, dort anzukommen. Herr Harden »mußte« mir etwas ablehnen. Einen Schriftsteller, dem er Geist, Humor, Kraft, Grazie mündlich, brieflich und auf Druckpapier nachrühmte, soll er für unwürdig gehalten haben, neben den Beiträgen seiner lyrischen Advokaten Platz zu finden! Das glaubt er selbst nicht. Ich habe seit zwölf Jahren keiner deutschen Zeitschrift unaufgefordert einen Beitrag geschickt. Wenn ich je für ein anderes Blatt neben der ›Fackel‹ schrieb, so geschah es auf Grund ehrenden Anerbietens. Ich glaube nicht, daß selbst noch im Jahre 1903 meine Zumutung, mitzuarbeiten, irgend ein deutsches Blatt unglücklich gemacht hätte. Und kein Vollsinniger wird glauben, daß die Ablehnung eines Beitrags den Brudermord verursacht hat. Herr Harden überschätzt durchaus meine Rachsucht auf Kosten meiner Undankbarkeit. Er hielt schon fünf Jahre vor diesem Ereignis so außerordentlich viel von mir, daß er spontan an Herrn Benedikt eine Visitkarte schrieb, auf der er mich als den einzig Berufenen empfahl, das Erbe des Satirikers Daniel Spitzer in der Neuen Freien Presse anzutreten. Herr Benedikt machte mir bald darauf den Antrag. Ich gründete die ›Fackel‹, habe also auch gegen ihn undankbar gehandelt. So treulos war ich gegen Herrn Harden, der mich empfahl, und gegen die Neue Freie Presse, die mich wollte, daß ich es vorzog, mir über beide klar zu werden. Als mir die Tätigkeit des Herrn Harden mehr und mehr zu mißfallen anfing, sprach ich es aus. Er seinerseits, der mit mir in derselben Lage gewesen sein will, sprach es nicht aus. Aber er meint, ich müsse es doch gemerkt haben. So hat er zum Beispiel mein Vorgehen gegen Bahr »widrig« gefunden. Er lieferte mir zwar ein Gutachten gegen ihn, aber er gab mir doch deutlich zu verstehen, daß er mein Vorgehen widrig finde. Zum Beispiel:

14. Februar 1901

L.K. ... Gern, offen gestanden, mische ich mich nicht hinein. Und anders könnte ichs nicht. Will Ihr Anwalt den Brief so, wie er ist, in toto benützen, dann ists mir recht ... Aber Sie brauchen mehr Gutachten. Lammasch! U.s.w. Die Mausefallen in m. Brief werden Sie nicht übersehen. Kann Hofmannsthal nicht auch seine Ansicht sagen? Müller-G.! Der wird auch was von Laube wissen. Ihr Anwalt wird doch versuchen, Bukovics unter den Zeugeneid zu kriegen. Da wäre über die »Zumutungen« (Anm.: Zumutungen des Kritikers an den Theaterdirektor) wohl manches herauszupressen. Nachdem ich mit Bahr eben freundschaftl. Briefe gewechselt, muß ich mich anständiger Weise persönlich zurückhalten. Das kann auch Ihrer Sache nur nützen ... Ein »H.Y.-St.« heute im ›Tag‹ gegen Sie, ohne Namen, perfid, à la Ganz .... »Pattai als Zeuge«: ich meine: es wäre gut, wenn unter irgend e. geschickten Vorwande solche, angesehene, den Geschwornen sympathische Leute als Zeugen über diese Art von Preßherrschaft vernommen werden könnten, Geht’s nicht — schade. Steht in Bahrs alten Büchern nichts gegen ähnliche Korruption? Über Speidel u. Kainz steht was di in. Vielleicht auch in d. Artikel über mich (»Antisemitismus«) Lob meiner Preßkämpfe? Von Brahm weiß ich nichts. Blumenthal polemisiert ja immer gegen B. Am Ende? Schreiben Sie doch an ihn (Tiergartenstraße), er habe doch Kritikeramt, trotz Erfolgen, aufgegeben, ob er nicht Inkompatibilität finde. Weidmannsheil, nochmals!

Herr Harden hat also meine Kampagne gegen die Vereinigung des Kritiker- und Autorenberufs widrig gefunden. Er lügt. In Wahrheit nahm er Herrn Bahr bloß gegen den Vorwurf in Schutz, daß er nicht immer Originales drucken lasse. (Ein oben ausgelassener Satz lautet: »Bahr ist doch viel begabter als Bracco. Wie sollte er den plagiieren!«) Daß Herr Harden die Aktion selbst gut, heilsam und notwendig fand, ist wohl erwiesen. Aber ich mußte »merken«, daß er sie mißbillige; und darum griff ich ihn vier Jahre später an. Er wiederum merkt, daß ich ihm mein Blatt noch heute schicke. Er lügt natürlich. Meinen ersten Angriffen hat er mit einer Einstellung des Tauschexemplars der ›Zukunft‹ geantwortet. Ich habe die Komik dieses Schrittes damals festgestellt. Darum mußte ich es verschmähen, meiner Expedition den Auftrag zu gleicher Kinderei zu erteilen. Als ich im folgenden Jahre einmal die Liste der Personen durchsah, die die ›Fackel‹ kostenlos bekommen, ließ ich natürlich die Karte, auf der sein Name stand, ablegen. Er bekommt die ›Fackel‹ seit Jahren nicht. Wenn er sie trotzdem im Umschlag liegen läßt, kann ich nichts dafür. Wenn er sie aber lesen sollte, so möchte ich ihn für die Widrigkeiten, die ihm jetzt aufstoßen, nicht um Entschuldigung bitten. Und die früheren habe ich nicht gemerkt. Doch, eine: er fand meine Kampagne für die widrig. Gemeint ist der Fall Hervay. Nach meinem ersten Artikel schrieb er mir mit einem Kompliment seine Ansicht, daß die Dame, die er kannte, anders sei, als ich sie darstelle, gar nicht fein und mondain, sondern so, daß sie die unflätigsten Beschimpfungen auf offener Karte verdient hatte. Ich antwortete, daß dies nichts an meiner Auffassung des Falles ändern könne. Es komme darauf an, wie die Frau auf den österreichischen Bezirkshauptmann gewirkt habe, der sie sein »Märchen« nannte. Je unbegründeter eine solche Bezeichnung sei, um so mehr sei meine Auffassung am Platz. Nicht über die Frau, sondern zur Psychologie des Mannes hätte ich geschrieben und über die Wirkung, der die Welt Mürzzuschlags erlag. »Und schließlich — vielleicht hatte sie doch bessere Unterwäsche als die Mürzzuschlagerinnen.« Das war meine letzte Korrespondenz mit Herrn Harden, Sommer 1904. Mir ging’s um eine Erkenntnis, ihm um eine Information. Es war die erste publizistische Äußerung, die mir auch die Gegner gewann. Jede Post brachte Anerkennungen. »Ein Leser, der nicht sehr oft Ihr Anhänger sein kann, beglückwünscht Sie zu der Einsicht, zu dem Mute und zur Fähigkeit, im Kleinen das Große zu erkennen, die Ihr Artikel über Hervay kundgibt«, schrieb mir Professor Freud, den ich nicht kannte. Eine tatsächliche Richtigstellung schrieb mir Herr Harden, den ich erkannte. Sein eigener Artikel über die Sache, den ich heftig angriff, war damals noch nicht erschienen. Jener freundschaftlichen Auseinandersetzung folgte nur noch — nach Karlsbad — eine Karte mit dem Bilde seines Töchterchens:

20. Juli 1904

Guten Tag wiener Onkel! Es grüßt Deine Grunewaldnichte Maximiliane Harden.

Das war — abgesehen vom väterlichen Stileinfluß — ein durchaus erfreulicher Gruß. Seitdem habe ich nichts gehört. Herr Harden spricht von einer »schroffen Antwort«, die sein letztes Zeichen gewesen sei. Jene Karte kann er nicht meinen, wiewohl sie sein letztes Zeichen war. Er meint also ein anderes, das ich nicht empfangen habe. »Zu einer Kritik erdreistete er sich zum ersten Male, als ich über die .... einige unfreundliche Worte schrieb«. Gemeint ist mein Ausfall gegen ihn wegen seines Artikels über die eben verstorbene Schauspielerin Jenny Groß. Diese Kritik, die zugleich seine Haltung im Fall Coburg betraf, erschien Anfang Oktober 1904. Herr Harden »antwortete schroff und ließ mich bei meiner nächsten Anwesenheit nicht mehr zu sich kommen«. Seitdem schimpfe ich. Herr Harden lügt. Es ist die letzte in der Reihe der erweislichen Unwahrheiten, durch die er meine Abkehr praktisch zu motivieren sucht. Eine einfache, glatte Lüge. Der schroffe Brief ist verloren gegangen. Wenn Herr Harden eine Abschrift haben sollte, möge er sie vorweisen. Aber der Brief ging mit Recht verloren. Welchen Sinn hätte er gehabt? Hätte ich ihn erhalten, wie sollte er meinen späteren Angriff begründen, da er doch die Folge eines früheren Angriffs sein soll? Ich schimpfte, er antwortete schroff, seitdem schimpfe ich. Das ist dümmer, als nötig wäre. Wie kann schroffe Ablehnung meines Verkehrs die Ursache meiner Angriffe sein, wenn sie die Antwort auf meine dreiste Kritik bedeutet? Meine Dreistigkeit hatte zugegebenermaßen einen Vorsprung. Und wer wird mir zutrauen, daß ich nach einem heftigen Ausfall gegen Herrn Harden und nach einer schroffen Antwort von seiner Seite noch den Versuch gemacht habe, in den Grunewald einzudringen und Herrn Harden die Nachmittage wegzunehmen? Er »ließ mich nicht mehr zu sich kommen«. Eine Lüge, wenn es besagen soll, daß ich kommen wollte, aber eine Wahrheit insofern, als er mich ja auch jetzt nicht »zu sich kommen läßt« — jedenfalls eine Zweideutigkeit. Ich soll nach meiner publizistischen Abweisung seines Verhaltens im Fall der toten Jenny Groß noch auf den Verkehr in seinem Hause aspiriert haben? Ich hatte ihm ungefähr vorgeworfen, daß er vom Leichnam einer Frau Profit ziehe, indem er sie der Verwertung ihres Leibes bezichtige! Ich habe seit dem Sommer, der meinem Angriff vorherging, weder von ihm, noch hat er von mir eine Zeile, ein Lebenszeichen erhalten, weder aus Wien noch während einer späteren Anwesenheit in Berlin. Ich erdreistete mich der Kritik in den Fällen Groß und Coburg, ich erdreistete mich anderer Kritik in spontaner Undankbarkeit. Wer mich für irrsinnig hält, wird glauben, daß ich dazwischen den Versuch machte, zu Herrn Harden zu gelangen. Auf diesen Versuch wäre eine schroffe Antwort glaubhaft. Besitzt Herr Harden ein Dokument von meiner Hand, das ihm nach meinem Eintreten in der Sache Groß meinen Wunsch, ihn zu besuchen, kundgab, durch das ich ihm etwa meine Anwesenheit in Berlin anzeigte? Dann möge er es produzieren. Tut er’s, so beeide ich, daß es gefälscht ist. Sieht man nicht die klägliche Motivenkleisterung für den unerklärlichen Sprung der Freundschaft? Der Gedankengang ist: ich habe geschimpft, folglich läßt er mich nicht zu sich kommen, folglich schimpfe ich. Aber so einfach ist die Sache nicht und mein Rückzug aus dem Grunewald hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Hinauswurf aus dem Sachsenwald. Ich habe dort zwar manchmal »Vanilleneis« bekommen, mir aber nie durch einen Vertrauensmißbrauch den Zorn des Hausherrn zugezogen, und kein Graf Finckenstein, Mitglied des preußischen Herrenhauses, lebt, der behaupten könnte, daß mir infolge einer nicht genehmigten publizistischen Aktion das Haus verboten worden sei. Ich will Herrn Harden verraten, was mir schon vor meinem öffentlichen Auftreten gegen die Sexualschnüffelei, die mir inzwischen »ekelhaft« geworden war, den Entschluß nahegelegt hat, den Grunewald nicht mehr aufzusuchen. Es hängt wohl mit einem Vertrauensmißbrauch zusammen, aber mit einem, den der Hausherr auf dem Gewissen hatte. Als ich das letzte Mal über seine dringende Bitte ohne Rücksicht auf seine knappe Zeit bei ihm weilte, sprach ich mit ihm über den dürftigen belletristischen Teil der ›Zukunft‹ und fragte, warum seiner angesehenen Revue nicht bessere. Beiträge zukämen. Inder letzten Nummer war nämlich eine besonders schwache Skizze eines Wiener Autors und liebenswürdigen Menschen (der inzwischen gestorben ist) erschienen. Herr Harden erwiderte: »Sehen Sie, und der Mann beklagt sich noch, daß ich ihm zu wenig Honorar geschickt habe!« Fragte mich, indem er mir einen grausam niedrigen Betrag nannte, ob das nach meiner Ansicht denn nicht genug sei. Vor der peinlichen Alternative, meinem Gastgeber den notorischen Geiz des reichen Besitzers der ›Zukunft‹ zu bestätigen, oder über das wirtschaftliche Interesse eines Bekannten zu entscheiden, sagte ich: Den Beitrag halte ich für wertlos, nimmt man aber auf den Namen des Autors Rücksicht, so scheint mir die Rekrimination berechtigt. Als ich einige Tage später in Wien den Be kannten traf, grüßte er unfreundlich. Auf meine dringende Frage nach der Ursache seiner Veränderung wies er mir eine lange Abhandlung des Herrn Harden vor, in der dieser mit einer Emsigkeit, als ob es die Anlegung einer homosexuellen Zeugenliste gälte, seinen Honorarsatz verteidigte und sich auf mich als Sachverständigen berief, der gleichfalls gemeint habe, der Betrag sei entsprechend. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich Herrn Harden einen Vorwurf daraus gemacht habe, glaube es aber. Vielleicht schrieb ich jene »schroffe Antwort«, auf die kein Besuch mehr gefolgt ist. Jedenfalls begann sich damals meine Gesinnung mit meinem Magen um zudrehen. Sie zögerte noch mit dem Ausbruch, und im Sommer wurden ein paar Grüße gewechselt. Im Oktober erfolgte mein erster Angriff. Inzwischen hatte sich die Kluft zwischen seinem mehr auf nationalökonomische Fragen und meinem mehr auf Dinge des inneren Lebens gerichteten Interesse geöffnet. Der Anstoß, auszusprechen, was ist, waren die Fälle Coburg und Groß. Ich hab’s gewagt; wiewohl ich selbst ein unreines Gewissen »in diesem Punkt« hatte. Ich habe nämlich »gemeinen Privatklatsch über die breitgetreten«. Was soll das heißen? Wen meint der Herr? Wann habe ich dergleichen getan? Ich zerbreche mir den Kopf und erinnere mich, daß ich einmal ein Feuilleton, das Frau Odilon geschrieben oder einem Berliner Journalisten in die Feder diktiert hatte, in der ›Fackel‹ berührt habe. Natürlich so, daß ich das Privatleben der Schauspielerin aus der publizistischen Sphäre hinausstieß, nicht selbst der Sensation preisgab. Damals hatte ich nur den Standpunkt gegenüber der journalistischen Gefahr bezogen, mich noch nicht zur Bejahung eines solchen Privatlebens an und für sich durchgerungen. Später habe ich das Dasein von Freudenspenderinnen, auch von solchen, die nicht aus der Fülle einer Natur schöpfen, auch von jener Toten, gegen die sich Herr Harden verging, für wertvoller gehalten, als die Tätigkeit eines Leitartikelschreibers. Verunglimpft hätte ich eine solche Frau nie, auch im Leben nicht. Was Herr Harden breitgetretenen Privatklatsch nennt, kann sich nur auf die gegen das Schmocktum gerichtete Zitierung einiger Sätze aus dem Feuilleton der Frau Odilon beziehen. Und wem — rate man — verdankte ich die Kenntnis des Feuilletons? Herrn Harden, der es mir, dicht besät mit hämisch kommentierenden Bleistiftnotizen zugeschickt hatte, mit Beweisen einer Orientiertheit über die Herkunft und den Wert von Realitäten, die auch in späteren Briefen wiederkehrte und ein Material an mich zu vergeuden schien, für das Herr Lippowitz dankbar gewesen wäre. Von dem Verkehr mit diesem, der gewiß zu den interessanten Wiener Leuten gehört, die mich verachten, habe ich Herrn Harden abgehalten. Ich bedaure es und kann nur zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich ihn bald freigegeben habe. Er wurde ein Intimus des Korrespondenten, den Herr Lippowitz in Berlin hat, und geht heute mit ihm und den Polizeihunden Edith und Ruß gemeinsam auf die Jagd nach Sittlichkeitsverbrechern. Ich habe ihm den Schaden, den er durch seine Verbindung mit der ›Fackel‹ erlitten hat, durch meinen Verrat reichlich vergütet. Ich gebe zu, daß ich damals sein Lob meines Witzes nicht honoriert habe, ich bedaure auch, daß ich ihn um ein Lob des nach Dreyfus wieder versöhnten Björnson (welches aber vielleicht sogar der Neuen Freien Presse zu schwachsinnig war), gebracht habe. Gewiß, ich habe seine Beziehungen zu den Wiener Preßleuten eine Zeitlang lahmgelegt. Aber heute ist längst alles wieder gut und die Meinung, Neue Freie Presse und Neues Wiener Tagblatt hielten es mit mir gegen ihn, ist gewiß nur ein Wahn des Verängstigten, der sich noch verfolgt glaubt, da längst schon die schmierigsten Hände hilfreich sich ihm entgegenstrecken und sogar ein Montagsrevolver bereit ist, es mit ihm gegen mich zu halten.

Einer hat eine Wahrheit gesagt; aber das tat er nur, weil man seinen Gruß nicht erwidert hat. Die Enthüllung enthüllt den Enthüller. Wer die Wahrheit erlitten hat, beweise, daß sie unwahr ist oder er schweige, ehe er zu so jammervoller Motivierung ausholt! Und wenn einer von der Hetzjagd auf das Privatleben deutscher Staatsmänner noch so kaput ist, so trostlose Beweise geistiger Ermüdung dürfte er nicht von sich geben. Aber wenn er, um doch in Ehren zu bestehen, sich von der mißglückten Motivensuche in mein Privatleben zurückzieht, weil er glaubt, daß der gewohnte Weg zum Ziel führen könnte, dann, sage ich, hat er mich überhaupt nie gekannt. Ob ich aus dem oder jenem ihm seelisch naheliegenden Motiv so oder so schreibe, das mag er prüfen, und er mag, solange ich mich nicht auf einen lästigen Dokumentenbeweis einlasse, mit meiner Entlarvung dem gesunden Menschenverstand, der sich’s längst gedacht hatte, imponieren. Geht er aber weiter, zieht er zur Erklärung meines kritischen Erdreistens auch meinen »grotesken Roman mit der .......« heran — seit welchem ich empfindlich in diesem Punkt geworden sei — so hört für mich die Geneigtheit zu einer literarischen Erledigung auf! Denn hier ist der Punkt, wo ich noch heute empfindlich bin. Und ich sage Herrn Harden: Die ganze Lächerlichkeit seiner Erwiderung hat ihren Spaß für mich verloren. Doch um dieses einen Satzes willen lasse ich ihn nicht mehr los. Hier ist er in der Bahn, auf der er heute in Deutschland mit vollem Dampf fährt — aber durch meine Reiche kommt er nicht unbeschädigt. Hier ist die Gemeinheit am Ende. Und sie zeigt noch einmal, was sie kann. Jetzt erst fühle ich ihre Möglichkeiten, jetzt erst begreife ich den Plan, der ihren Vorstößen gegen das privateste Erleben zugrundeliegt: Die Unfähigkeit, vor dem Geist zu bestehen, vergreift sich am Geschlecht. Mein grotesker Roman lag Herrn Harden nicht als Rezensionsexemplar vor, aber er wußte von ihm, weil ich ihn besuchte, wenn ich auf meinen Reisen zu einem Sterbebett in Berlin Station machte. Für die groteske Art dieses Romans leben Zeugen wie Alfred v. Berger, mit dem er so viel über mich gesprochen hat, und Detlev v. Liliencron. Deutschlands großer Dichter weiß, wo der Roman beendet liegt, und hat das Grab in seinen Schutz genommen. Herr Harden in seinen Schmutz. Ich aber sage ihm: Ein Roman, den der andere grotesk findet, kann mehr Macht haben, eine Persönlichkeit auszubilden, als selbst das Erlebnis, von einem Bismarck geladen, von einem Bismarck hinausgeworfen zu sein. Aus den Erkenntnissen dieses grotesken Romans erwuchs mir die Fähigkeit, einen Moralpatron zu verabscheuen, ehe er mir den grotesken Roman beschmutzte. Was weiß er denn von diesen Dingen! Von ihm hätte ich nicht gelernt, die unauslöschliche Schmach dieses Zeitalters zu fühlen, dessen Männer Iris-Beete verunreinigen. Bei dem Gedanken zu erbleichen, welcher Art von Menschheit Frauenschönheit als Freudengabe in den Schoß gefallen ist! Herr Harden ist tot — der groteske Roman lebt. Er hat die Kraft, immer wieder aufzuleben, und ich glaube, ich verdanke ihm mein Bestes. Wenn ich gegen dieses Heroengezücht losziehe, so ist’s mir, als ob mir der Geist noch heute aus leuchtenden Augen zuströmte. Ich tauche meine Feder nicht in das Spülwasser aristokratischer Wirtschaften. Wäre ich einer von jenen, die jetzt in Deutschland unter einem ungerufenen Domestiken leiden, ich würfe die Feder hin und forderte diesen vor meine Klinge, aber ohne ihm meine Zeugen zu schicken und ohne ihm Zeit zu lassen, im Lexikon nachzuschlagen, wie sich die Duellregeln historisch entwickelt haben. So aber gelobe ich ihm dieses: Für seine Kritik meines grotesken Romans wird er mir Rede stehen. Nicht in seinem Blatte. Denn dies könnte meine Gegenrede bewirken, und er ist von meiner Unerschöpflichkeit überzeugt. Er wird nicht. Aber jetzt ist der Augenblick gekommen, wo sich dem Motiv des Undanks wirklich das der Rachsucht gesellt. Die vertrete ich nicht publizistisch. Doch verspreche ich ihm: Wenn er wieder einmal nach Wien kommen sollte und Frauenvereine durch das Feuerwerk seiner Belesenheit aufregen wird, wenn er sich am Schlüsse des Vortrags mit Fragezetteln bewerfen und seine Herzensabwesenheit als Geistesgegenwart bewundern läßt, dann wird ihm diese Frage gestellt werden: Glauben Sie, daß einer schon darum kein Dummkopf ist, weil er es vorzieht, ein Schweinehund zu sein? Halten Sie nicht den für einen Schuften, der ohne Nötigung an das privateste Fühlen eines Anderen greift, und ohne das Bedenken, selbst ein Grab zu beschmutzen? Und verdient nach Ihrer Ansicht der, der solches tut, nicht rechts und links Ohrfeigen? Sollte Herr Maximilian Harden dann noch gestimmt sein, auszusprechen, was ist, so werden sie ihm bei Gott und in Gegenwart des Frauenvereines appliziert werden. Er ahnt gar nicht, und niemand ahnt es, welcher Gesetzesübertretungen ich fähig bin, wenn es gilt, einen grotesken Roman gegen einen nichtswürdigen Rezensenten zu schützen!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 27-585, X. Jahr
Wien, 19. Juni 1908.