Zum Hauptinhalt springen

Literatur

März 1909

In einer Zeitungsspalte fällt mein Blick auf die Bemerkung, daß die »zwei ersten« Akte gefallen haben, so daß ich glauben muß, der Rezensent sei gleichzeitig in zwei Theatern gewesen und er stelle nun fest, daß hier und dort der erste Akt gefallen hat. Das ist journalistischer Sprachgebrauch, aber da eine Zeitung auch das Richtige treffen kann, so finde ich schon in der benachbarten Spalte eine Nachricht über die »nächsten zwei« Veranstaltungen eines Vereines. Und hier wieder zeigt sich, wie nichtig alle Form ist, wenn der Inhalt von übel. Denn mein splitterrichterisches Wohlgefallen wurde sogleich erledigt durch die Enthüllung, daß die erste der nächsten zwei Veranstaltungen ein »Servaes-Abend« sei. Um Himmelswillen, was ist das? fragte ich. Was haben die Leute mit uns vor? Servaes-Abend — es kann nicht sein! Gibts denn so etwas? Kann es so etwas geben?

Aber es stand schwarz auf weiß, ein Verein, der den guten Geschmack hat, sich einen Verein für Kultur zu nennen, versprach uns einen Servaes-Abend. Wenn man mir die Frage vorlegte, was denn überhaupt ein Verein sei, so würde ich antworten, ein Verein sei ein Verein gegen die Kultur. Dieser hier aber möchte mich durch die Angabe irreführen, er sei ein Verein für die Kultur. Das gelingt ihm nicht, denn die Rechnung geht schließlich doch glatt auf, indem ein Verein gegen die Kultur für die Kultur sich folgerichtig als ein Verein herausstellt. Da ich nun dem Vereinsleben durchaus fern stehe, da die bloße Vorstellung, daß es einen Männergesang-Verein gibt, mir den Schlaf raubt und noch kein Turnverein zur Erhöhung meines Lebensmutes beigetragen hat, so kann ich darüber nicht urteilen, ob der Verein, um den es sich hier handelt, seinen statutenmäßigen Verpflichtungen betreffs der Kultur gerecht wird. Aber ein boshaftes Luder, wie ich bin, habe ich natürlich keine Anerkennung dafür, daß sich in dieser Wüste allgemeiner Kulturlosigkeit eine Oase des Snobtums gebildet hat, daß sich endlich wenigstens ein paar opfermutige Männer zusammengefunden haben, um die Kultur für eröffnet zu erklären, — vielmehr nähre ich meine teuflische Lust an dem Gedanken, daß alles verruinieret sein müsse. Es ist in der Tat schon nicht mehr mit mir auszuhalten. Jetzt hasse ich die Oasen in der Wüste, weil sie mir meine fata morgana verstellen! Publikum in jeder Form macht mir Verdruß, ich meide die Konzertsäle, und wenn sich in einem solchen wirklich einmal Leute drängen, denen man an der schwergebeugten Nase ansieht, daß sie den Hingang der Kultur betrauern, Männer, deren Bart noch die Linse von vorgestern trägt, deren Gilet aber aus Sammet und Sehnsuchten komponiert ist, Weiber, denen man das Haupt des Jochanaan unter der Bedingung geben möchte, daß sie nicht tanzen, — dann bin ichs auch nicht zufrieden! Ja, ich hasse die Häßlichkeit einer genießenden Menge, die nach dem stickigen Geschäftstag die verschlossenen Jalousien des Gemütes öffnet, um Kunstluft hereinzulassen. Aber der ästhetische Mißwachs, der sich an den Pforten der Kultur drängt, treibt mich in die Flucht. Wird mir schon totenübel, wenn ich um elf Uhr abends durch die Augustinerstraße gehe und die Nachklänge einer Wagneroper aus dem Wigelaweia des Ganges und der Hände einer zum Fraß strömenden Begeisterung heraushöre, was steht mir erst bevor, wenn dereinst Herr Richard Strauß seine Versteher findet? Man glaubt gar nicht, wie viele Häßlichkeit die angestrengte Beschäftigung mit der Schönheit erzeugt! Und ihre Art ist in allen Städten dieselbe. Überall, wo nur ein findiger Impresario einen Tempel der Schönheit errichtet, tauchen jetzt rudelweise diese undefinierbaren Gestalten auf, die man in früheren Zeiten dann und wann im Fiebertraum sah, aber nunmehr bei Reinhardt, in den Münchener Künstlerkneipen und in Wiener Kabaretts. Plötzlich steht ein Kerl neben dir, dem Kravatte und Barttracht zu einem seltsamen Ornament verwoben sind, das Motive aus Altwien und Ninive vereinigt, eine Kreuzung aus Biedermeier und dem echten Kambyses. Er sieht Klänge, weil er sie nicht hören kann, er hört Farben, weil er sie nicht sehen kann, er spricht durch die Nase und riecht aus dem Mund, seine Seele ist ein Kammerspiel und man hat nur den Wunsch, daß ihn so bald als möglich ein Bierbrauer totschlage. Denn vor diesem kann sich die Kunst retten, vor jenem nicht! Das Aufgebot verquollener Scheußlichkeit, das seit Jahren hinter den programmatischen Mißverständnissen her ist, macht ein Entrinnen unmöglich. Was sich da im Berliner Westen unter allen möglichen Marken als neue Gemeinschaft von Assyriern, Griechen, guten Europäern und Schmarotzern schlechtweg zusammengetan hat, dieses Gewimmel von einsamen Gemeinsamen, die Theaterreporter von Beruf und Baalspriester aus Neigung sind, bildet ein so unflätiges Hindernis im Kampf gegen den Philister, daß man das Ende aller Kunst und ein Verbot aller Freiheit ersehnt, um nur reines Terrain zu schaffen. Lieber allgemeine Blindheit als die Herrschaft eines Gesindels, das mit den Ohren blinzeln kann! Ein Wiener Greisler für zehn Berliner Satanisten! Das Udelquartett gegen einen Verein für Kultur! Selbst wenn er uns einen Servaes-Abend bringt.

Denn wir wissen ja nicht einmal, was das für ein Abend ist. Wir in Wien schätzen die Institution der Hopfnertage und der Riedlnächte, aber wir glauben nicht, daß sich die Servaes-Abende einbürgern werden. Was bedeutet das ungebräuchliche Wort Servaes? Ich erinnere mich dunkel, daß es einst ein Merkwort war, wenn man an das drollige Quiproquo eines Kunstkritikers der Neuen Freien Presse erinnern wollte. Da hatte einer in der Beschreibung des Guttenberg-Denkmals eine Buchdruckerpresse mit einem Fauteuil verwechselt oder umgekehrt, — das weiß ich nicht genau, da ich das Denkmal aus Antipathie gegen den dargestellten Mann und weil es eine Prostituiertengasse verschandelt, nie angesehen habe. Aber ich weiß genau, daß der Kunstkritiker, der zur aufmerksamen Betrachtung verpflichtet war, irgend etwas verwechselt hat. Ein anderesmal hat er in der Beschreibung eines ausgestellten Bildes Wüstensand mit Schnee verwechselt, was doch so bald keinem Kamel passieren dürfte. Infolgedessen wurde der Mann nur noch dazu verwendet, Berichte über Wohnungseinrichtungen zu stilisieren, die die Firmen der Administration bezahlten und in denen die Fauteuils genau bezeichnet waren. Da aber, wie erzählt wird, eine Verwechslung zwischen Portois und Fix vorkam, so sei nichts übrig geblieben, als dem Mann die Literaturkritik zu überantworten.

Denn hier kann einer machen, was er will, niemand wird daran Anstoß nehmen. Hier, in der Literatur, ist jede Verwechslung von Wüstensand und Schnee, von Fauteuil und Presse, von Portois und Fix erlaubt. Hier kann ein Mensch, der keine blasse Ahnung von Stil hat, über Werke der Sprache in einem impertinenten Ton aburteilen, für den man ihm in jeder besseren Gesellschaft auf den Mund schlüge. Hier dünkt sich ein Reporter, dem man keinen Gerichtssaalbericht anvertraute, einen Gott. Es soll vorkommen, daß solche Leute an auswärtige Revuen Beiträge schicken und wenn sie ihnen abgelehnt werden, mit den Waffen ihrer kritischen Hausmacht zu spielen beginnen. Daß sie dann in ihrem Gehege sich für alle Zurücksetzungen, die ihrer Talentlosigkeit widerfahren, für alle Enttäuschungen ihres Ehrgeizes, für alle Verbitterung schadlos halten, ist nur zu begreiflich. »Servaes«, das ist die Chiffre, die man überall dort findet, wo sich Mangel an Temperament austoben und Ledernheit sprudeln möchte. Da erscheint zum Beispiel ein Roman, zu dessen Empfehlung ich nicht mehr sagen kann, als daß ich ihn ausgelesen habe: »Sonjas letzter Name«, eine Schelmengeschichte von Otto Stoessl. Aber die besten kritischen Köpfe Deutschlands haben ihn nicht nur gelesen, sondern auch erhoben. Stünde ich der epischen Kunstform nicht wie einem mir Unfaßbaren gegenüber, ich fühlte mich wohl versucht, über die vielerlei seltenen Schönheiten in Sprache und Gestaltung, die ich mir dort angemerkt habe, zu sprechen; über einen ideenvollen Humor, der sich meinem Gefühl nur in den reflektierenden Pausen entrückt, in denen er sich nach sich selbst umsieht; und über jene herzhafte Entdeckung romantischer Gegenden in konventioneller Welt, von der dem kritischen Flegel nur die »Unwahrscheinlichkeit« in Händen bleibt. Darüber würde ich etwas sagen, und nicht verschweigen, daß es ein Mitarbeiter der Fackel ist, dem ich solche Freude verdanke. So aber obliegt mir bloß die traurige Pflicht, zu sagen, daß die Mitarbeit an der Fackel einem Künstler bei der Borniertheit geschadet hat. Es wäre ein beruhigender Gedanke, daß kritischer Unverstand keine Ranküne braucht, um sich lästig zu machen. Einem Autor, der in Deutschland geachtet wird, kann es ohnedies leicht zustoßen, daß ihm in Wien ein Ziegelstein auf den Kopf fällt; denn in Wien ärgern sich die Ziegelsteine darüber, daß die Passanten ihren Weg gehen. Ich bin der einzige, dem es nicht geschehen kann, weil bekanntlich der Dachdecker den Auftrag gegeben hat, mich mit stiller Verachtung zu strafen. Aber es könnte immerhin möglich sein, daß es die Dummheit auf jene abgesehen hat, die mit mir gehen. Und damit der nächste auch nicht stolpere, muß man solch einen Ziegelstein mit einem Fußtritt aus dem Wege räumen. Und wieder habe ich an ihm das Zeichen »Servaes« gefunden. Was soll das bedeuten? Ich komme schließlich dahinter, daß es die Signatur einer Geistlosigkeit ist, die stets verneint. Dafür kann sie im allgemeinen nichts. Daß sie aber im besondern Falle die Schöpfung eines Autors als »Anregung« für die Sudler feilbietet, daß sie einem Schriftsteller, der jenseits der feuilletonistischen Gangbarkeit produziert, seine Werte entwinden möchte und die »leichte Hand« der Literaturdiebe herbeiwinkt, auf daß eine vorrätige Idee nach dem Geschmack des Gesindels zubereitet werde, ist beinahe dolos. Als ob man heutzutage die Diebe rufen müßte! Freilich, um diesem Verleiter zu folgen, dazu werden sie sich zu vornehm dünken. Kein Nachahmer hat es nötig, sich von solchem Geist beraten zu lassen, und ich wette hundert Schelmenromane gegen einen, daß jeder Rudolph Lothar, der auf sich hält, es verschmähen wird, eine Quelle zu benützen, die ihm schon im Voraus nachgewiesen wurde. Immerhin ist diese Art öffentlicher Hehlerei ein Novum in der Literaturkritik, diese Manier, am lichten Sonntag, wo sich die jungen Literaten auf dem Marktplatz drängen, den Ruf auszustoßen: Haltet den Bestohlenen! Solche Gesinnung ist schlimmer als Unverstand, der nur die äußere Stofflichkeit benagt. Diesem kann man das Recht, lästig zu sein, so wenig absprechen wie jedem andern Zufall. Mein Gott, es gibt eben Literaturkritiker, die den Wert eines Kunstwerkes deshalb mit Vorliebe vom stofflichen Gesichtspunkt beurteilen, weil sie nach den harten Zeiten der Tapezierer-Reklame endlich einmal freie Hand haben, die Echtheit von Stoffen anzuzweifeln. Ihre kunstkritische Herkunft verleugnen sie auch in der Literaturkritik nicht: sie prüfen die Leinwand, wenn sie über ein Gemälde urteilen sollen. Aber sie sind nicht einmal in diesem Punkte sachverständig.

Glaubt man nach all dem, daß unsere Kritik im Argen liegt? Dafür gedeiht unsere Produktion. Denn unter dem Namen Servaes wird nicht nur gerichtet, sondern auch bewiesen, daß man es selber besser machen kann. Nur so ist die Gründung von Vereinen für Kultur und die Institution der Servaes-Abende zu erklären, an denen ja nicht Inserate, sondern Dichtungen vorgelesen werden. Wir haben einen Peter Altenberg, der fünfzig Jahre alt wird, die deutsche Literaturkritik leistet allerorten den Salut, doch unser Intelligenzblatt bringt Feuilletons und Romane eines schlechtgefärbten Blaustrumpfs und unser Kulturverein veranstaltet einen Servaes-Abend. Nein, es will mir nicht stimmen, daß dieses wundervolle Wort »Abend«, welches Zeitenende und Sonnenuntergang, Fest und Weihe bedeutet und in dem ein Hauch aller Dichtung atmet, jene sonderbare Verbindung eingehen konnte. Ein schlechtes Beispiel mag einmal die guten Sitten des Wortes verdorben haben. Denn:

Eines Abends noch sehr spöte
Gingen Wassermaus und Kröte
Einen steilen Berg hinan.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 275-76, X. Jahr
Wien, 22. März 1909.