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Apriorität des Ursachebegriffs

Nach Kant entsteht also jede Erfahrung erst dadurch, dass das menschliche Denken sie in die Formen von Zeit, Raum und Kausalität hineinbringt; es fragt sich nur, warum diese Formen apriorisch, nach Kants eigenem Sprachgebrauch also von aller Erfahrung unabhängig sein müssen. Es ist offenbar, dass Kant nur durch die letzten Abstraktionen dieser Begriffe dazu geführt worden ist, von ihnen auszusagen, dass sie sich überhaupt nicht wegdenken lassen. Ein bestimmtes Raumgebilde, ein bestimmter Zeitabschnitt, eine bestimmte Ursache läßt sich gar wohl wegdenken; wir tun das unaufhörlich. Nur dadurch, dass wir die unkontrollierbare Vorstellung eines unendlichen Raumes, einer unendlichen Zeit und einer unendlichen Kausalität gefaßt haben, müssen wir diese Begriffe überall mitdenken; wobei freilich die Unendlichkeit der Kausalität den Menschen noch kein so geläufiger Begriff ist wie der unendliche Raum und die unendliche Zeit. Aber Kausalität oder Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist genau ebenso unabschließbar, duldet ebensowenig einen Anfang, eine "erste Ursache", die dann freilich der liebe Gott wäre. Gehen wir von welchem Ereignis immer aus, so ist es nur ein schlechter Sprachgebrauch, wenn wir ihm eine Anfangsursache geben. Ich will es dabei ganz unerörtert lassen, dass es in letzter Instanz nicht in der Wirklichkeit, sondern nur für den Menschen Ereignisse gibt. Wenn eine Kugel mit lautem Knall das Flintenrohr verläßt, oder wenn die Kugel mir den Oberarm durchbohrt, so sind das für den Beteiligten zwei Ereignisse; in der Wirklichkeitswelt sind es Folgen von Veränderungen, die so wenig Ereignisse sind wie das unwahrnehmbare Kleinerwerden eines Tautropfens in der Morgensonne. Wir nennen es nun eine Ursache des Schusses, dass in der Patrone eine Kugel saß oder dass das Pulver Schwefel enthielt oder dass ein Finger den Drücker berührte oder dass der Lauf aus Eisen war oder dass der Wille eines Menschen dem Lauf eine Richtung gab oder dass der Wille dieses Menschen durch Eifersucht gelenkt wurde oder dass der Gegenstand dieser Eifersucht an dem und dem Tag in die und die Stadt gereist kam usw. usw. Immer ist es die Aufmerksamkeit auf eine unter den unzähligen Bedingungen der Veränderung, welche ein Glied der unendlichen Kette von Bedingungen zur Ursache stempelt. Es ist also eine anthropomorphe Bezeichnung. Psychologisch konnte der Begriff der Ursache nur auf zweierlei Art entstehen; der Mensch empfand seinen eigenen Willen als Realgrund seiner Handlungen und legte diesen Begriff metaphorisch als Realgrund in die Außenwelt; oder der Mensch empfand einen Gedanken als den Erkenntnisgrund eines anderen und legte diese Vorstellung wieder metaphorisch in die Wirklichkeit hinein. So erhielt der Ursachbegriff halb einen realen, halb einen logischen Charakter, und nach einigen tausend Jahren seines Begriffslebens konnte der Wortstreit darüber entstehen, ob kausale Notwendigkeit nur in der Logik oder auch in der Wirklichkeitswelt zu finden sei. Das Metaphorische in den Anschauungsformen der reinen Vernunft vermochte Kant noch nicht zu sehen. Da ihm nun dennoch die unendliche Kette der Kausalität deutlich war und ihre Verwandtschaft mit der unendlichen Kette von Zeit und Raum, da die eherne Notwendigkeit wohl aus der Logik, nicht aber aus der Erfahrung erschließbar schien, so mußten diese Begriffe, sollten sie auf die Wirklichkeitswelt Anwendung finden, vor aller Erfahrung, so mußten sie apriorisch sein. Setzen wir anstatt des Begriffs der Ursache den Begriff der Bedingung, erkennen wir, wie jede Veränderung von einer unendlichen Zahl von Bedingungen abhängt, sagen wir dann, dass die Bedingtheit aller Weltveränderungen unbedingt sei, so sehen wir vielleicht ganz nahe, wie die Sprache selbst mit einem Kant ihr Spiel trieb, als er die Ursächlichkeit einen apriorischen oder unbedingten Begriff nannte.

Wir müssen aber immer wieder zu dem Dilemma zurückkehren: Wie konnte der Begriff der Kausalität aus der Erfahrung entstehen, wenn schon zu der einfachsten Erfahrung das Denken und seine Anschauungsformen (zu denen auch die Kausalität gehört) notwendig waren? Das Dilemma wiederholt sich bei einer Erscheinung, welche sonst allein imstande wäre, uns das Rätsel der Apriorität zu lösen. Die Vererbung der physischen und geistigen Eigenschaften erklärt uns nämlich auf einfache Weise das Vorhandensein apriorischer Begriffe und auch die Verschiedenheit der Apriorität bei Tieren und Menschen, bei verschiedenen Menschenrassen und bei verschiedenen Individuen. Ist die Disposition zu einer bestimmten Geistesentwicklung bei einer Art oder bei einer Menschenfamilie ererbt, so können wir es uns recht gut vorstellen, wie das Individuum zu einer bestimmten Orientierung in der Wirklichkeitswelt gelangen kann, über eine gewisse Grenze nicht hinausgelangt und z. B. Raum, Zeit und Kausalität als Metaphern menschlicher Subjektivität zu apriorischen Formen der Erfahrung macht.