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Gedächtnis und Vernunft

alten wir jedoch fest, dass Sprache das Gedächtnis der gegenwärtigen und der früheren Menschen ist, so können wir die Vernunft als Sprache auch dem Gedächtnisse à peu près gleichsetzen und es 'wenigstens als ein Problem aussprechen, dass Physiologen und Psychologen in einer Geschichte des menschlichen Gedächtnisses etwas wie eine Geschichte der Vernunft zustande bringen würden. Wobei nicht einen Augenblick vergessen Werden darf, dass auch Gedächtnis nur eine Personifikation ist, ein zusammenfassender Ausdruck für eine unzählbare Menge von Akten, dass also eine Geschichte des Gedächtnisses eigentlich weder die Geschichte eines Organs noch die Geschichte seiner Leistungen, sondern die Geschichte der Arbeit selbst Werden müßte. In die Augen springt der Unterschied, dass das Gedächtnis sich immer auf Vergangenes bezieht, Vernunft jedoch gerade da, wo sie dem Menschen am wertvollsten ist, Künftiges voraussieht. In einer engen Analogie mit der Beziehung der Vernunft zu der Vergangenheit, aus welcher die Erfahrung stammt, und zu der Zukunft, welche aus vernünftigen Gründen erwartet wird, stehen die Wechselbegriffe Ursache und Wirkung. Die Analogie ist so genau, dass von Zeit zu Zeit immer wieder versucht wird, den Ursachbegriff durch den Zeitbegriff zu ersetzen, als ob das die Erkenntnis fördern könnte. Wie dem auch sei, Vernunft ist zu ihrer einen Hälfte (abgesehen nämlich von ihrer Weltklassifikation durch Begriffe) etwas wie eine richtige Einsicht in die Zeitfolge der Ereignisse; Geschichte der Vernunft wäre also eine richtige Einsicht der Zeitfolge dieser Einsichten in die Zeitfolge. Ich wage es nicht, diese Potenzierung weiter zu verfolgen. Man hat einmal mit ebenso potenzierter Abstraktion in parodistischer Absicht das lateinische Wort "rationabilitudinalitas" gebildet; wer sich's vornimmt, glaubt das Monstrum zu verstehen.