Zum Hauptinhalt springen

Verstand und Vernunft

Und da stehen wir wieder vor dem Gegensatz zweier anderer Worte, in deren Gebrauch die modernen Sprachen zu keiner Festigkeit gelangen können. Es ist fast unmöglich, ohne vorausgehende Definition und ohne Anlehnung an den individuellen Sprachgebrauch eines bestimmten Philosophen über diese Dinge zu reden, so banal alle Ausdrücke auch sind. Am schärfsten scheint mir Schopenhauer zwischen Verstand und Vernunft unterschieden zu haben, am schönsten im zweiten Band seiner "Welt als Wille und Vorstellung", Kapitel 6 und 7. Ich möchte seine Definition (denn es handelt sich nicht um eine Sacherklärung, es handelt sich nur um eine Worterklärung, um Feststellung des eigenen Sprachgebrauchs) ein wenig ändern. Er nennt den Verstand das "Vermögen" der anschaulichen Vorstellungen, die Vernunft das "Vermögen" der abstrakten Vorstellungen. Es scheint ihm also Verstand die Benützung anschaulicher, Vernunft die Benützung abstrakter Vorstellungen oder Erkenntnisse. Ich glaube aber, wir können uns weit realistischer ausdrücken, wenn wir sagen: unter Verstand verstehen wir die Benützung unmittelbarer, gegenwärtiger Erkenntnis der Außenwelt, unter Vernunft verstehen wir die Benützung mittelbarer Erkenntnis der Außenwelt, das heißt unserer Erinnerung, wie sie in unserem Denken oder in unserer Sprache aufbewahrt ist. Diese Definition, die in der Sache besser ist als in der Sprache, paßt vorzüglich auf die Unterscheidungen, die wir zwischen dem Seelenleben der Tiere und der Menschen zu machen genötigt sind. Die geistige Arbeitsleistung der winzigen Ameise z. B. übertrifft bei weitem (im Verhältnis zu dem Gewichte der Gehirne) die des Menschen, an Willenskraft sowohl als an Planmäßigkeit. Trotzdem ist in der Leistung der Ameise, für menschliche Beobachter wenigstens, etwas Gleichmäßiges, was eben zu dem Aufkommen des Wortes Instinkt geführt hat. An der Hand unserer Wortdefinition können wir sagen, dass der Verstand der Ameise von dem des Menschen kaum verschieden sei; die anschauliche, unmittelbare, gegenwärtige Erkenntnis läßt eine oder mehrere Ameisen ein Holzstück ebenso klug und geschickt anfassen, wie es Zimmerleute mit einem Balken tun. Die Vernunft der Ameise, oder da man bei Ameisen völkerpsychologisch reden muß, die Vernunft der Ameisen ist aber darin von der Vernunft begabter Menschenindividuen unterschieden, dass die abstrakte, mittelbare Erkenntnis der Außenwelt, dass die Erinnerung der Ameisen verhältnismäßig stationär geblieben ist, dass die Ameisen, soweit wir Menschen es beurteilen können, von Generation zu Generation und auch im Laufe eines Einzellebens nicht viel hinzuzulernen scheinen. Damit dürfte auch ein helles Licht fallen auf die Frage nach der Sprache der Ameisen und anderer geselliger Tiere. Die Erinnerungen einer Tiergattung sind, Wenn wir nach uns Menschen urteilen dürfen, in Sprache aufgespeichert. Bei den Menschen aber, deren abstrakte, mittelbare Erkenntnis, das heißt deren Erinnerung sich im Laufe eines Einzellebens erstaunlich entwickelt und so von Generation zu Generation wächst, konnte und mußte sie sich darum im Laufe der Jahrtausende zu dem gegenwärtigen Sprachschatz entwickeln. Der Sprache der Tiere fehlt die Entwicklung. Wir müssen uns darum die Sprache der Ameisen (eine Verständigung unter ihnen gibt es ohne Zweifel) gar nicht nach Art der Menschensprache vorstellen.

Noch deutlicher wird die Rolle der Sprache, wenn wir an den Gegensatz von Verstand und Vernunft denken. Wenn der Hund über einen Graben springt, so hat er dazu sehr viel Verstand nötig. Nicht sein Auge, sondern sein Verstand nimmt den Graben wahr, sein Verstand läßt ihn die Entfernung von einem Grabenrande zum anderen genau abschätzen, sein Verstand läßt ihn seine Muskeln so weit spannen, dass er mit dem geringsten Kräfteaufwand gerade noch über den Graben kommt. Wenn ein kleiner Junge über denselben Graben springt, so ist die Verstandestätigkeit, so weit ich auch umherblicke, doch nur dieselbe. Ein Unterschied könnte sich dann ergeben, wenn zwischen den beiden Rändern nicht ein niedriger Graben läge, sondern ein hundert Meter tiefer Abgrund. Dann wird der Hund die Außenwelt nach seiner Erfahrung falsch beurteilen und den Sprung ebenso unbefangen wagen; beim Menschen wird die größere Erfahrung, also die Vernunft hinzutreten und ihn ängstlich machen. Doch die wohlbekannte Tätigkeit der Vernunft wird beim Abschätzen von Entfernungen erst da anfangen, wo der Mensch mit Maßen und Zahlen rechnen muß. Der Hund scharrt sich höchstens unter dem Zaun einen Tunnel, wenn er anders nicht zur Hündin gelangen kann; das gehört zu den Tätigkeiten des Verstandes. Das menschliche Paar auf seiner Hochzeitsreise benutzt den Gotthardtunnei, und um den auszuscharren war Vernunft nötig. Auch um über den Abgrund nur einen Balken von der richtigen Länge zu legen, auch dazu ist Vernunft nötig, bewußte Überlegung. Die Vernunft besteht darin, dass die Meterzahl ziffermäßig verglichen wird, dass die Länge und die Festigkeit des Balkens aus der Erinnerung auftauchen, dass sich der Mensch in der ihn umgebenden Welt mit Hilfe von Begriffen oder Worten zurechtfindet.

Wenn wir sehen und gehen, so schätzen wir unbewußt Distanzen ab, wie auch der Löwe so gut wie die Seenelke beim Springen und Greifen nach der Beute Distanzen kennen oder verhungern muß. Nun ist darin das Tier dem Menschen überlegen, es irrt nicht so oft. Ein Jäger mit seinem Hund verfolgt einen Wilddieb. Der Wilddieb, der in Todesangst das Visier aufblitzen sieht, setzt über einen Wassergraben, trifft die Distanz à peu près und stolpert drüben weiter, nachdem er hingestürzt ist. Der Jäger, der nur sein Brot verdienen will, irrt sich und plumpst in den Graben. Der Hund nur setzt sicher und elegant hinüber.

Schopenhauers Distinktion läuft darauf hinaus, dass die Vernunft ein Denken in Begriffen sei, während der Verstand intuitive Erkenntnis biete. Da wir aber Begriffe und Worte nicht für etwas Verschiedenes zu halten vermögen, so können wir in dieser ganzen Untersuchung Schopenhauers für das Wort Vernunft das Wort Sprache einsetzen und werden dann freilich zu dem banalen Satz gelangen, dass der Mensch sich vom Tiere durch die Sprache unterscheide. Die Scholastiker (Schopenhauer zitiert auch noch Picus de Mirandula, den er mit Unrecht einen Scholastiker nennt) waren gar nicht so dumm, als sie dem Menschen bloß Vernunft oder diskursives Denken zuschrieben, den Verstand aber, das intuitive Denken, dem lieben Gott und den guten Engeln überließen. Für uns ist es aber nicht ohne Humor, dass man die Vernunft das diskursive Denken genannt hat und wohl heute noch so nennt; denn es liegt darin ein unfreiwilliges Eingeständnis, dass ein vernünftiges Denken ohne Diskurs, ohne Rede nicht möglich sei.

* * *