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Vernunft in der Sprache

Es ist wahrhaftig kein Zufall, dass die verwegenste Frage der Erkenntnistheorie, die Frage nach der historischen Entstehung des Werkzeugs, das wir unsere Vernunft nennen, auf allen Wegen zu der anderen Frage führt: wie unterscheidet sich der Mensch vom Tiere? So wie wir eine Entwicklung der Menschenart aus tierischen Arten annehmen, können wir nicht anders als nach der Entwicklung seines Gehirns und dessen Tätigkeit, der Vernunft, forschen, so wie wir auch die Entwicklung des menschlichen Auges und Ohres, der menschlichen Hand und der menschlichen Placenta zu erforschen suchen. Den feineren Untersuchungen stellt sich jedoch die bekannte Schwierigkeit entgegen. Für die grobe, makroskopische Entwicklungsgeschichte des Menschenhirns aus dem Tiergehirn gibt es vergleichende Sammlungen und vergleichende Messungen. Für die Leistungen des Werkzeugs aber versagt das Forschungsmaterial, weil wir die Menschensprache mit keiner Tiersprache vergleichen können, da wir doch von den Tieren höchstens Laute, aber keine begriffbildenden Laute kennen. Wir sind also darauf angewiesen, die Leistungen des jüngsten Menschengehirns so weit wie möglich zurückzuverfolgen und zu sehen, ob es möglich sein wird, die in der Menschensprache aufbewahrten Vorstellungen an Tiervorstellungen anzuknüpfen. Der erste, welcher mit einiger Zurückhaltung, aber doch mit vollem Bewußtsein, die Menschensprache so angeschaut hat, war eben Lazarus Geiger. Er schöpfte schon aus der Vergleichung des vorliegenden Sprachmaterials die Vermutung, dass die Begriffe ursprünglich auf einer Stufe geringerer Unterscheidungsfähigkeit in der Menschheit entstanden seien. Läßt sich dieses natürliche Verhältnis zwischen den Worten und ihrer Bedeutung schon in historischer Zeit nachweisen, so ist (im Gegensatze zu Kants Kritik der apriorischen Vernunft) eine empirische Kritik der in der Sprache aufgesammelten Vernunft möglich, so läßt sich auch für die Vorzeit der Grundsatz aufstellen: es kann niemals in den Worten mehr Vernunft zum Ausdrucke gelangt sein, als jedesmal das die Worte verwendende Geschlecht besaß. Das ist das vortreffliche Aperçu Lazarus Geigers, das er selbst nur in dem Inhaltsverzeichnis zum ersten Buche seiner Schrift zu der trotzigen Unwahrheit übertrieben hat: "Nicht die Vernunft hat die Sprache verursacht, sondern umgekehrt." Wir haben oben bereits gesehen, wie er zu dieser Verwechslung kam. Jetzt sehen wir, wie sein Glaube an die Abstraktionen Sprache und Vernunft ihn auch an seine Verwechslung glauben lassen konnte. Er bemerkte ungenau, dass der Fortschritt der menschlichen Beobachtungen hinter der Entwicklung der Sprache immer einen Schritt zurückbleibt, dass die neuen Erkenntnisse sich jedesmal an den alten Worten emporranken, und hielt darum die Worte für etwas den Begriffen Vorausgehendes, also für ihre Ursache. Er sah das letzte nicht: dass nämlich dem Schwankenden, dem überall und allezeit Veralteten, dem à peu près der Worte das Schwankende, das immer Unfertige, das à peu près der Begriffe entspricht, dass also im Unzulänglichen Sprache und Vernunft erst recht zusammenfallen können.