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XIV. Ursprung und Geschichte von Vernunft

Geschichte und Sprachwissenschaft

Sprachwissenschaft ist höchstens Sprachgeschichte. Und Schopenhauer (Welt a. W. u. V. I, S. 75) hat schlagend gezeigt, warum "Geschichte, genau genommen, zwar ein Wissen, aber keine Wissenschaft ist". Aus unklassifizierten Tatsachen kann man keine Schlüsse ziehen. Historie sagt nichts aus über die Zukunft, nichts über Vorhistorie. Ebenso geht es der Sprachgeschichte.

Wir haben eben gesehen, dass Sprachwissenschaft unfähig ist, über das anderwärts historisch Belegte hinaus, irgend etwas auch nur über diejenige Sprachgeschichte glaubhaft zu erzählen, die unmittelbar der Zeit historischer Dokumente vorausgeht. Sprachwissenschaft kann nicht einmal die nächsten Aufgaben lösen, die sie sich selbst stellen zu dürfen glaubte. Und bei dem Gedanken an die periodischen Revolutionen des Meeres erschien uns der unfruchtbare Scharfsinn, der etwas wie das neue Ideal einer geographischen Geschichte erreichen wollte, all in seiner Kleinheit und Hilflosigkeit.

Und da ist gar das unendlich entferntere Problem aufgetaucht, brückenlos zurück über einen unausdenkbaren Abgrund, aus der Sprachwissenschaft den Anfang von Sprache oder Denken zu begreifen, glaubhaft vom Ursprung der Vernunft zu reden. Schon die sprachliche Verwegenheit scheint mir schreckhaft hörbar zu sein, wenn ich anstatt "der" Vernunft sage: "Ursprung und Geschichte von Vernunft", wie ich ja ebenfalls in einem früheren Kapitel besser "Entstehung von Sprache" gesagt hätte.

So weit vorgewagt haben sich in der Meta-Sprachwissenschaft der kühne Lazarus Geiger und sein wortabergläubischer Schüler Noiré; Steinthal hat an beiden eine sehr kleinliche Kritik geübt. Nur in den Schlußsätzen über Geiger kommt Steinthal (Ursprung d. Spr. 4. Aufl. S. 215) nahe an die wichtige Erkenntnis, dass wir aus Sprachgeschichte nur erfahren, was wir sonst woher wissen. Wir haben es schon vom alten Vico gelernt: "e della storia delle cose si accertasse quella delle lingue."

Ein geistreicher Zoologe, der erst später zum Sonderling gewordene G. Jäger, hat sich darum dem Ursprung von Sprache und Vernunft vom Tiere aus besser nähern zu können geglaubt; der Weg vom Tierlaut zum ersten menschlichen Sprachlaut sei kürzer als der Weg nach rückwärts, der von der heutigen Sprache zum ersten Sprachlaut. Steinthal hat das in einer verrechneten Rechnung (das. S. 222) anzuzweifeln gesucht. Wir wollen beide Wege abschreiten und werden uns überzeugen, dass ihre Enden nicht zusammentreffen, dass zwischen ihren beiden Enden immer noch brückenlos der unausdenkbare Abgrund klafft. Die Unendlichkeit wird nicht kleiner, wenn man ihr einige Jahre abhandelt.

Einige Gesichtspunkte des Kapitels über die Entstehung der Sprache sind bei der Betrachtung der etymologischen wie der tierpsychologischen Untersuchung vorausgesetzt.

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