Zum Hauptinhalt springen

Etymologie und Menschwerdung

Er hatte sich die ungeheure Aufgabe gestellt, die Menschwerdung des Menschen zu beschreiben, denn etwas anderes ist es nicht, wenn er die Entwicklung der Vernunft darzustellen versprach. Er hatte gegenüber seinen Vorgängern Rousseau und Herder den scheinbaren Vorteil, dass die neuere Sprachwissenschaft ihm die Begriffsgeschichte der historischen Zeit genauer und reicher darbot. Er vergaß aber, dass man über jene ururalten Zeiten, in welchen der Mensch wurde, heute wie vor hundert Jahren höchstens überzeugend phantasieren kann, dass die Nutzanwendung der Etymologie unmöglich auf eine Zeit gehen kann, in welcher der Mensch und seine Sprache erst entstanden. Und dennoch hat er den unglaublichen und wirklich skurrilen Einfall, in der historischen Sprache nach Spuren zu suchen, in welchen sich die physische Entwicklung des Menschengeschlechts ausgedrückt haben könnte (II, S. 209). Die Anthropologie hat ihn gelehrt, dass der Mensch sich vom Affen, der Kulturmensch von niedrig stehenden Menschengattungen unter anderem durch Stirn und Mund unterscheide. Der Kulturmensch hat eine hohe, oft bewunderte Menschenstirn im Gegensatze zum zurückfliegenden Tierschädel, der Kulturmensch hat einen Mund und keine vorstehende Schnauze. Und für diese Entwicklung, welche wer weiß vor wie vielen hunderttausend Jahren sich vollzog, wenn sie sich so vollzogen hat, sucht Geiger ernsthaft etymologische Spuren in der allerjüngsten Sprachentwicklung, das heißt in den klassischen Sprachen und im Sanskrit. Für den Begriff Stirn sei nicht einmal in den germanischen Sprachen ein übereinstimmendes Wort zu finden. Das lateinische frons solle ähnlich wie das germanische Braue (englisch brow) als unklarer Begriff sowohl Augenbraue als Stirn bedeuten. Ebenso sei das griechische metôpon kein klarer Ausdruck für Stirn. Geiger unterbricht sich nun zwar selbst mit der Bemerkung, dass solche und ähnliche Wortbildungen zu jung seien, um etwa die Geschichte der menschlichen Körperbildung aufhellen zu können, aber er deutet doch an, dass zum mindesten die geringere Aufmerksamkeit, welche solche Wörter für die hohe Stirn, für die aufrechte Körperhaltung und dergleichen beweisen, zugleich auf ein geringeres Hervortreten dieser menschlichen Besonderheiten schließen lasse. Es fällt ihm nicht ein, dass solche Ausdrücke vielleicht technische Worte einer vorhistorischen Anatomie waren und dass wir über die Voretymologie von Stirn, Kopf, Mund usw., also für die eigentliche und ursprüngliche Bedeutung dieser Wörter nichts wissen können. Dahin gehört es auch, wenn Geiger (II, S. 223) einmal anzudeuten scheint, es lasse sich in historischen Sprachen eine Zeit nachweisen, da Hand und Fuß noch nicht genau durch Worte unterschieden wurden, es sei also vielleicht in der Sprache noch eine Spur zurückgeblieben von jener Zeit, da Hand und Fuß als Gliedmaßen noch nicht so differenziert waren wie heute. Er brauchte die vielen Beispiele gar nicht. Es ist bekannt, dass einzelne Negerstämme, ferner die Neuholländer und bei manchen "Hantierungen" auch die Japaner den Fuß wie eine Hand gebrauchen. Es ist bekannt, dass viele Sprachen, sogar slawische, für Hand und Arm nur eine gemeinsame Bezeichnung haben. Da braucht es nicht weiter Wunder zu nehmen, wenn es bei den berüchtigten Botokuden ein gemeinsames Wort für Hand und Fuß, wieder ein gemeinsames Wort für Finger und Zehe gibt. Sollen wir aus solchen Bemerkungen, welche vielleicht zehn oder hundert oder tausend Jahre alte Entwicklungen zum Gegenstande haben, wirklich Schlüsse ziehen auf Urzeiten, in denen nach der gegenwärtigen Biologie der Mensch möglicherweise sich von einem affenähnlichen Urahn differenzierte? Geiger verstrickt sich noch tiefer in diese wahrhaft anachronistischen Irrwege, wenn er das alte Zählsystem nach Zwanzigern, also sicherlich eine verhältnismäßig hohe Denkstufe der Menschheit, mit jenem Verwechseln von Hand und Fuß in Zusammenhang bringt. Ich habe nie noch davon erfahren, dass die ausgesprochenen Vierhänder zugleich im Besitze des Zwanzigersystems seien.

Wenn ein Volk kein besonderes Wort für Stirn besitzt oder Hand und Fuß durch keine besonderen Wörter unterscheidet, so können wir daraus nur den einen Schluß ziehen, so sehen wir vielmehr darin ohne jeden Schluß, dass dieses Volk auf die Stirn, auf die Hand seine Aufmerksamkeit nicht gelenkt hatte. Wir können höchstens fragen, wo wohl dieser Mangel an Aufmerksamkeit herrühre. Den Mangel an Aufmerksamkeit aus dem Fehlen des Dings selbst zu erklären, wäre doch ein mehr als verwegenes Beginnen, wenn man in Betracht zieht, wie viele Teile des menschlichen Körpers heute noch Fachausdrücke des Anatomen sind und der Volkssprache nicht angehören, weil die Aufmerksamkeit des Volks nicht auf sie gerichtet worden ist. Sicherlich hat man das Herz des geschlachteten Schafs und Schweins früher gekannt und benannt als das Herz des ungenießbaren Menschen, weil das Interesse sich mehr mit dem Herzen der Tiere beschäftigte als mit dem des Menschen. Wir können also höchstens sagen, dass es heute noch Sprachen gibt und in früherer Zeit noch mehr Sprachen gab, deren Interesse nicht auf die menschliche Stirn, nicht auf die Differenzierung von Fuß und Hand gelenkt war.