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Mitleid

So sehr ich in diesen Untersuchungen mich bemühe, ethischen Problemen aus dem Wege zu gehen, so kann ich an dieser Stelle doch nicht unterlassen, auf die mögliche Rolle hinzuweisen, welche die Sprache und der Gehörsinn überhaupt bei dem Übergang egoistischer oder selbstischer Gefühle zu altruistischen oder nächstischen Gefühlen spielen mag. Und die Macht der nächstischen Gefühle bei der scheinbaren Alleinherrschaft der selbstischen Gefühle zu erklären, dürfte doch wohl die ernsthafteste Pflicht der Ethik sein. Nur ganz flüchtig möchte ich darauf hinweisen, dass z. B. beim Anhören von Schmerzenslauten wir uns nicht damit begnügen, zu hören, dass der Ton vielmehr in uns die Bewegungsgefühle der Schmerzenslaute auslöst, wenn es auch selten zu hörbaren Nachahmungen kommen mag, und dass bloß durch diese innere Nachahmung der Bewegungsgefühle das große Mysterium des Mitleids einigermaßen aufgehellt wird, ohne dass wir mit Schopenhauer das neue Mysterium der Identität aller Wesen zu Hilfe zu nehmen brauchen. Der innere Vorgang mag in feinerer Weise der Nachahmung ähnlich sein, mit welcher wir uns unwillkürlich einen heftigen Ruck geben, sobald wir einen anderen Menschen plötzlich stürzen sehen. Der nachahmende Ruck kann so stark sein, dass wir darüber selbst ins Straucheln geraten oder fallen. Mitleid ist ein bequemer Schmerz; so kann der Spaziergänger, wenn ein Vorübergehender plötzlich stolpert und fällt, zunächst den sympathetischen Ruck empfinden und nachher dennoch über den Gestürzten lachen. Noch schwerer zu entwirren ist die Mischung von Lust- und Unlustgefühlen bei dem künstlichen und vielleicht künstlerischen Mitleid, das eine Tragödie in uns erregt. Vielleicht darf ich dafür an die merkwürdige und kaum schon psychologisch beschriebene Spannung erinnern, mit welcher wir die lebensgefährlichen Spiele eines Seiltänzers betrachten; die Spannung wächst um so höher, behagliche Bewunderung und bequemes Gruseln mischt sich um so mehr, je waghalsiger der Seiltänzer ist. Jeder temperamentvolle Zuschauer fühlt die Bewegungsgefühle, mit welchen er sich bei jedem gefährlichen Schritte des Seiltänzers den entsprechenden rettenden Ruck geben möchte; er ahmt innerlich die Bewegungen nach, die dem Spieler da oben nützlich sind.  

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