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Katachrese

Die Algebra ist noch keine eigentliche Sprache, der lateinische Aufsatz unserer bedauernswerten Schuljungen ist keine Sprache mehr. Was zwischen diesen beiden Extremen als Sprache lebt, das ist in jedem Worte eine Metapher, darum in jeder Zusammenstellung von zwei Worten deutlich oder undeutlich eine Metaphervermischung, ein Wippchen. Ich hätte die ganze Darlegung bekannter erscheinen lassen können, wenn ich statt Wippchen Katachrese gesagt hätte. Katachrese bezeichnet in der Rhetorik zunächst den Gebrauch eines Wortes in uneigentlicher Bedeutung (wo es dann mit Metapher gleichwertig ist), sodann die Sünde des Redners gegen die Einheit des Bildes, also Bildervermischung, also ein Wippchen. Ein bekanntes Schulbeispiel für die tadelnswerte Katachrese lautet: "In diesem Jahre wurde die Säule des Staates geboren"; ein musterhaftes Wippchen. Die griechischen Rhetoren hatten bereits eine Ahnung davon, dass die ernst gesteigerte oder komisch abgeschwächte Wirkung einer Katachrese sich nicht durch Gesetze bestimmen lasse, sondern vom Sprachgebrauche abhänge. Nach unserer ganzen Untersuchung müßten wir die Katachresen in diejenigen einteilen, die noch im Sprachbewußtsein vorhanden sind, und die unzähligen andern, die das Sprachgefühl nicht mehr bemerkt. Ich finde in einer Anzeige eine Art Binde als "Gesichts-Handschuh" angepriesen. Ein lächerliches Wort, gewiß. Aber "Handschuh" war einmal ebenso lächerlich. Vielleicht ebenso "handkerchief", wenn "kerchief" wirklich Kopftuch bedeutete. Und wir müßten hinzufügen, dass unser Lachen über Katachresen oder Wippchen, weil es vom jeweiligen Sprachgebrauche abhängt, gar nichts über den Wert der Wortzusammenstellung entscheidet, dass jedes Wippchen, das heute komisch ist. morgen zu einem ziervollen Sprachgebrauche werden kann. In der Katachrese wird die syntaktische Kontamination erst lustig.

Ich darf vor der äußersten Konsequenz des Gedankens nicht zurückschrecken. Ich bin mir bewußt, sprachliche Anarchie auszudenken, wenn ich sage: ist man imstande, sich für eine Minute vom Zwange des üblichen Bildergebrauchs zu befreien, so hat man es vollständig in seiner Gewalt, ob man eine Katachrese, ein Wippchen ernst oder komisch nehmen will. Denn Sprachgesetze sind wie andere Gesetze nur Bräuche; und wir brauchen nur unhistorisch das heißt anarchisch zu empfinden, um uns der Pietät auch dieses Brauches zu entziehen. Es gibt kein noch so tolles Wippchen, das nicht von der Sprachanarchie hübsch gefunden werden könnte. Ich las jüngt im "Briefkasten des Kladderadatsch" das Wippchen "Bord der Wahlurne" zitiert. Warum nicht, fragt der Sprachanarchist. Auch wenn Bord nicht ursprünglich so viel hieße wie Rand, auch wenn es immer ein Schiffsbord wäre. Warum nicht "Alle Mann an Bord der Wahlurne?" Es braucht nur über ein Gelächter hinweg üblich zu werden wie "Briefkasten eines Blattes".

Eine allgemein belachte Katachrese ist in Frankreich die Phrase "le char de l'état navigue sur un volcan". Und wieder frage ich: warum nicht? Ich werde das übermütige Gefühl nicht los, dass in der Sprache wie im Leben häufiger, als man glaubt, etwas Gesetz, Mode oder Brauch geworden ist, weil es bei seinem ersten Auftreten durch ungeheure Komik imstande war, sich dem Gedächtnisse einzuprägen.

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