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Sprache nie ohne Wippchen

Stettenheim wäre aber nicht auf den Einfall gekommen, diese Unform zu bearbeiten und zu Tode zu hetzen, wenn er sie nicht sehr häufig in ernst gemeinten Zeitungsaufsätzen gefunden hätte. Der ironische Briefkasten des Kladderadatsch wimmelt von Wippchen, die von eiligen Zeitungsschreibern unbewußt verübt worden sind. Oft kann man auch von bessern Schriftstellern die Meinung aussprechen hören: niemand sei davor sicher, einmal so etwas hinzuschreiben. Mir aber handelt es sich hier darum, festzustellen, dass die unbewußten kleinen Wippchen, die darum auch nicht komisch wirken und fast immer übersehen werden, eine alltägliche Erscheinung sind; ja wir werden vielleicht zu dem bedenklichen Ergebnis gelangen, dass eine Sprache ohne versteckte Wippchen gar nicht möglich sei.

Überlegen wir den psychologischen Vorgang nur allgemein nach der Anschauung, die ich hier von der Entwicklung der menschlichen Sprache niedergelegt habe, so wird sich dieses traurige Ergebnis sofort ganz logisch und wissenschaftlich ergeben. Und wäre es mir darum zu tun, zu überreden anstatt zu überzeugen, so könnte ich mich wie andere Bücherschreiber mit Logik und Wissenschaft begnügen. Wir wissen nämlich, dass alle Worte unserer Sprache zu ihren Bedeutungen durch bildliche Anwendung gekommen sind. Jedes Wort in jeder seiner Bedeutungen geht nun naturgemäß auf eine andere bildliche Vorstellung zurück. Es kann also gar nicht ausbleiben, dass schon bei der alltäglichsten Zusammenstellung zweier Worte eine Vermischung zweier unzusammenhängender Bilder sich ergibt. Man nehme ein beliebiges Beispiel, das einfachste wird das beste sein. Wenn das Sanskritwort für unser davon abstammendes (?) "Tochter" wirklich von der Vorstellung einer Melkerin hergenommen ist (weil vielleicht das Amt des Melkens als ein Ehrenamt der Tochter des Hauses zufiel), so mußte es ein Wippchen sein, wenn damals, als das Bild von der Melkerin noch im Bewußtsein der Sprache lebte, gesagt wurde: die "Melkende" mache Feuer an oder sticke oder gebäre. Wobei ich ganz beiseite lasse, dass das Feueranmachen, das Sticken, das Gebären wieder auf andere bildliche Vorstellungen zurückging. Heute sagen freilich nur die Philologen, dass unser "Tochter" (ebenso das slavische dcera) einst mit dem Bilde einer Melkerin verbunden war. Die Möglichkeit, das Wippchen zu empfinden, hat damit aufgehört. Der Wortlaut ist, wie fast immer, zu einem bloßen Zeichen geworden, das in der Luft schwebt. Aber es kann nicht geleugnet werden, dass so hinter fast allen Wortzusammenstellungen der Sprache solche uralte Wippchen verborgen sind. Es muß geradezu ein seltener Zufall genannt werden, wenn einmal die Bilder zweier verbundener Worte zusammenstimmen. Wie z. B. wenn jemand sagt, die Tochter habe ihm einen Trunk Milch gegeben. Und doch wird mir jeder zugeben, dass in diesem Satze etwas steckt, was uns urzeitlich, patriarchalisch anmutet. Das Gesamtbild hat etwas innerlich Wahres.