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"Blatt"

Verfolgen wir einmal den ersten, den besten Begriff zurück, um das Metaphorische in ihm bis in die vorsprachliche Zeit zu begreifen. Wenn wir sagen "ein Blatt vor den Mund nehmen", so ist die Metapher (für: ungenau oder höflich sprechen) zwar nicht ganz klar, aber doch für unser Sprachgefühl bewußt; nennen wir (wahrscheinlich in Übersetzung des lateinischen folium) dünne flache Gegenstände, z. B. das entsprechende Stück eines Papierbogens Blatt, das doch ursprünglich nur Baumblatt war, sprechen wir von Schulterblatt, nennt Luther noch einen Türflügel Blatt, so ist die Metapher für das Sprachgefühl nicht mehr vorhanden, für den forschenden Blick aber auf der Stelle zu erkennen. Bis dahin geleitet uns die Sprachgeschichte mit Sicherheit. Die unsichere Sprachgeschichte, welche Etymologie heißt, geht von der Vorstellung aus, dass das Wort Blatt entweder etwas Blühendes oder vielleicht ursprünglich eine bestimmte Pflanzenform, den Strohhalm, Grashalm bedeutet habe. Wie dem auch sei, wir können recht gut annehmen, dass "Blatt" oder das entsprechende Wort ursprünglich den grünen Teil einer bestimmten Pflanze bedeutet habe und dass die wer weiß wie langsame Beobachtung, es seien ähnliche Teile an vielen Pflanzen vorhanden, zu der metaphorischen Vorstellung führte: das ist auch so was. Hätte z. B. das entsprechende Wort zu irgendeiner Zeit den Grashalm bedeutet, so wäre es doch auch in unserem Sinne die reinste Metapher gewesen, von den Grashalmen der Rose, von den Grashalmen eines Baumes zu sprechen.

Diese Ausdehnung des Begriffes Metapher auf jeden psychologischen Vorgang der Vergleichung, besonders auf den psychologischen Vorgang der Begriffsbildung, ist einer der Schritte, die uns notwendig dazu führen, Philosophie in Psychologie aufgehen zu lassen. Wir stehen da sogar in der Psychologie auf festerem Boden als bezüglich der nächstverwandten Frage in der Physiologie. Wenn wir nämlich die Entwicklung der Sprache nach den beiden Seiten des Lautwandels und des Bedeutungswandels betrachten, wenn wir den Lautwandel durch die physiologischen Bedingungen der Sprachwerkzeuge, den Bedeutungswandel durch den psychologischen Vorgang der Metapher verstehen, so bleiben wir beim Lautwandel sehr bald stecken, während wir beim Bedeutungswandel mit der einzigen Erklärung wirklich bis zum Ursprung der Sprache auskommen. Wir können nämlich über die Geschichte des Lautwandels nichts aussagen, als was uns die Dokumente der letzten zwei- bis dreitausend Jahre da nachweisbar an die Hand gegeben haben; dann klafft eine ungeheure Lücke, und über die Sprachlaute der Urzeit können wir nicht einmal eigentliche Hypothesen aufstellen; was ich darüber vorgetragen habe, über den möglichen Ursprung aus den Äußerungen des Staunens, des Lachens und des Weinens, das hat doch nicht einmal den Wert einer Hypothese, das ist nur ein Beispiel, wie wir uns den Ursprung vorstellen mögen. Die Zurückführung jedoch des Bedeutungswandels auf den psychologischen Vorgang der Metapher ist eine echte Hypothese; sie beschreibt (erklärt) ebensogut die jüngste Begriffserweiterung eines Wortes, wie sie die erste Begriffsbildung einer Urzeit erklären hilft.