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Zufall und Welterkenntnis

Wenn wir uns nun über die Negativität des Zufallbegriffs klar sind, so werden wir von jetzt ab nicht ohne eine grausige Ironie erkennen, was es mit der Welterkenntnis auf sich hat, die ja doch nur an unserer Sprache haftet wie das Licht an den Körpern. Es ist nämlich einerseits unsere Welterkenntnis nichts anderes als die geordnete Summe dessen, was durch unsere Zufallssinne in unser Denken oder Sprechen eingetreten ist. Die Welterkenntnis eines Eisenstücks oder eines Klumpen Bernstein ist in einer Beziehung reicher als die Welterkenntnis des Menschen, weil das Eisenstück und der Bernsteinklumpen etwas wie "Sinne" haben für die in der Welt vorhandene magnetische und elektrische Kraft. Wir Menschen sehen diese "Energien" nicht; wir lernen sie erst kennen, wenn sie sich in sichtbare Erscheinungen verwandelt haben. Es ist also ein Zufälliges in äußerster Potenz, was wir von der Welt wahrnehmen und was wir faute de mieux unser Wissen nennen. Dieses Zufallswissen haben wir, um es übersichtlicher merken zu können, im Gedächtnis an die Sprache geknüpft. Alle Versuche, die Entstehung der Sprache zu erklären, die Ursprache zu ergründen, gehen aber von dem beneidenswerten Glauben aus, dass erstens unser Denken der Wirklichkeitswelt analog sei, dass zweitens zwischen unserem Denken und unserem Sprechen irgend eine geheime Beziehung bestehe. Wir aber erkennen nun und entsetzen uns darüber, dass: wie unser Denken nur ein Zufallsblick in die Wirklichkeit sein kann, wie der Bedeutungswandel der Sprachgeschichte ein Werk des Zufalls ist, so auch die Sprache aus Zufallslauten hervorgegangen sein muß, wenn wir die Kindersprache mit der Entstehung der Ursprache in Vergleichung setzen dürfen.

Möge man sich darüber verwundern. Diese Verwunderung ist ja doch die höchste Geistestat, deren der stolze Mensch fähig ist. Nur dass man sich selten an der richtigen Stelle verwundert.

Es ist also — um diese Zwischengedanken abzuschließen — die Fünfzahl unserer Sinne insofern zufällig, als wir ihre notwendige Beziehung zu der übrigen Entwicklungsgeschichte des Menschen nicht kennen; es sind die Laute und Lautgruppen, welche der Säugling hervorbringt, insofern zufällig, als er sie so und nicht anders unabsichtlich artikuliert. Diese Zufälligkeit der Laute entspricht vollkommen der Zufälligkeit aller anderen Bewegungen im ersten Kindesalter. Mechanisch und anatomisch bewegen sich Ärmchen und Beinchen auch im dummen ersten Vierteljahr ebenso wie später; es fehlt aber jegliche Absicht oder, da wir auch von dieser Tatsache nichts wissen, es fehlt die Übereinstimmung mit irgend welcher Absicht. Eine Ausnahme machen nur die Bewegungen beim Saugen und beim Entleeren, die wir freilich gern dem starken Esel Instinkt aufbürden. Die Bewegung des Greifens, welche das Kind vom vierten Monate an erlernt, ist zwar nicht komplizierter als die Bewegung des Saugens, aber unsere Sprache bezeichnet sie bereits als einen Willensakt, vielleicht weil wir das Kind nach uns beurteilen und ihm eine bewußte Absicht zuschreiben, ein Denken.

Lange noch, nachdem der Säugling mit seinem übrigen Körper zweckmäßige Bewegungen zu machen gelernt hat, dauert das zwecklose, zufällige Hervorbringen von Lauten und Lautgruppen fort. Absichtlich ist in dieser ersten Zeit nur das Schreien des Kindes, und zwar von der Zeit ab, wo der Säugling die Erfahrung gemacht hat, dass sein Schreien irgend ein Unbehagen wie Hunger oder Nässe abstellt. Von diesem Tage an erst ist sein Schreien Sprache, während der Schrei des neugeborenen Kindes, da es ihn selbst nicht hört und nichts von einer Außenwelt weiß, also keine Mitteilung beabsichtigen kann, noch nicht Sprache ist.