Zum Hauptinhalt springen

X. Entstehung der Sprache

Ursprache

Das Wort Ursprache bedeutet für die Gelehrten der indoeuropäischen Sprachwissenschaft ein Fabelwesen, die Sprache, welche das Urvolk der Arier, dessen Existenz nicht bewiesen ist, zu einer Zeit, die wir nicht kennen, gesprochen haben soll; jedenfalls mußte die Zeit jener Ursprache vor der legendaren Wanderung oder Trennung jenes legendaren Urvolkes liegen. Ein schematischer Begriff ist das Urvolk, ein schematischer Begriff ist auch die Ursprache und wird es trotz aller Bemühungen der Linguisten bleiben müssen. Doch soll nicht vergessen werden, dass gerade Bopp, der Schöpfer oder Erfinder der vergleichenden Sprachwissenschaft, bewundernswert auch in seinem Mute zu irren, sich von allen wüsten Untersuchungen über den Ursprung der Sprache fern gehalten hat. Bopp verhält sich zu den phantasievollen Historiographen des Urvolks wie Darwin zu Haeckel.

Das Wort Ursprache bedeutet für die Sprachphilosophen, mögen sie nun ihre Studien eine Geisteswissenschaft oder eine Naturwissenschaft nennen, diejenige Sprache, welche die Menschen in einer viel weiter zurückliegenden Urzeit redeten, als sie eben durch den Gebrauch der Sprache den Tierzustand verließen und zu redenden Menschen wurden. Den vorhistorischen Tatsachen würde beides angehören, was das Wort Ursprache bedeutet; nur dass die indoeuropäische Ursprache der geschichtlichen Zeit unmittelbar vorausgehen müßte, die Ursprache der Menschheit aber irgendwo und irgendwann in unendlich weit zurückliegenden Zeiten zu suchen wäre.

Man sollte kaum glauben, dass diese beiden Bedeutungen des einen Wortes jemals miteinander verwechselt werden konnten. Dennoch geschieht das alle Tage; und zwar nicht so, dass etwa die beiden verschiedenen Begriffe klar erkannt und dann miteinander vertauscht würden, sondern so, dass es bequem ist, sich den Begriff Ursprache gar nicht klar zu machen. Man will zu positiven Ergebnissen kommen und täuscht sich darum am liebsten durch eigene Dunkelheit über die Schwierigkeiten hinweg, als ob wissenschaftliche Beobachtungen Fische wären, nach denen man am besten im Trüben angelt.

Ein solches Beginnen ist nicht selten in den angeblich ursprachlichen Forschungen, und es ist gar nicht verwunderlich, dass den einflußreichsten Lehren über die nähere indoeuropäische Ursprache und über die entfernteren Sprachanfänge der Menschheit die gleichen Unklarheiten zugrunde liegen. Wie die Bibel allen wissenschaftlichen Sorgen damit ein Ende macht, dass sie sagt: "Im Anfang hat Gott die Welt geschaffen" und dabei wohl selber glaubt, mit dem Worte "Im Anfang" eine Zeitbestimmung zu geben, so lieben es die Sprachforscher, irgendwo am Flußlaufe stehen zu bleiben, ihren Stock in den Boden zu stoßen und auszurufen: Hier fängt die ganze Geschichte an. Ebensogut hätte man darauf verzichten können, nach den Quellen des Nils zu forschen; man hätte bei den unteren Katarakten stehen bleiben und rufen können: Hier kommt der Nil herunter.

Nicht anders haben die Sprachforscher gehandelt, die in gutem Bibelglauben an die Urweisheit indischer Grammatiker die angeblichen Wurzeln des Sanskrit für die Ausgangspunkte der indoeuropäischen Sprache nahmen. Und doch standen die sanskritredenden Menschen, welche die gelehrten Sanskritgrammatiker in viel späterer Zeit sich als Erfinder oder Gebraucher jener Wurzeln dachten, ganz gewiß mitten in irgendeiner Sprachentwicklung und empfanden die Wurzelhaftigkeit ihrer Sprache nicht mehr und nicht weniger, als wir die Stammsilben unserer Muttersprache naiv als Wurzeln empfinden, als die heutigen Araber "Wurzeln" empfinden, während die Forscher sie doch, verändert durch Lautwandel und Bedeutungswandel, um einige Jahrtausende zurückverfolgen können. Die indoeuropäische Sprachwissenschaft hat an diesen angeblichen Sprachwurzeln wenigstens etwas Positives, woran sie anknüpfen kann; und so läßt sich ihr Treiben wenigstens mit einigem Erfolge kritisieren.

Wenn aber in bezug auf die Anfänge der Menschensprache das gleiche Spiel beliebt wird, wenn dort die Spezialgelehrten ebenfalls irgendwo ihren Stock ins Ufer stoßen, um sagen zu können: "Hier ist der Anfang", wenn sie dann dieses Wort Anfang für eine Zeitbestimmung halten, so ist ihre Torheit kaum in Worte zu fassen und darum auch schwer zu widerlegen. Sie stehen der natürlichen Anschauung von einer ununterbrochenen Entwicklung der Sprache so gegenüber, wie etwa Cuvier mit seiner Annahme aufeinanderfolgender Schöpfungsakte der darwinistischen Lehre gegenübersteht.