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Entwicklungshypothese

Die Hypothese von der allmählichen Entwicklung ist seit Schleicher oft auf die Geschichte der Sprache angewendet worden. Erst neuerdings hat M. Bréal davor gewarnt (Einleitung zu seinem Essai de Semantique), solche Vergleichungen anders als metaphorisch aufzufassen. Ganz klar und ernsthaft wird jedoch diese Hypothese weder von den Anthropologen noch von den Linguisten verstanden. Die Anthropologen lehren zwar in der Theorie ganz konsequent, dass diejenige Art der Tiere, welche uns gegenwärtig als Mensch entgegentritt, sich in ungemessenen Zeiten aus irgendeiner nicht genau zu bestimmenden menschenähnlichen Affenart entwickelt habe, diese wieder aus einer andern Tierart und so fort zurück bis zu den niedersten Lebewesen; diese Anthropologen stellen also einen hypothetischen Stammbaum des Menschen auf, dem dann die Entwicklung des menschlichen Individuums vom befruchteten Ei bis zum neugeborenen Kinde entsprechen soll. Wer von der Wahrheit dieser Hypothese überzeugt ist — und sie schließt sich immerhin als eine Phantasie schlecht und recht unserer modernen Weltanschauung an —, der müßte überall unendlich kleine Übergänge annehmen und dürfte sich um das Fehlen unendlich vieler Zwischenglieder nicht kümmern. Denn die Entdeckung jedes einzelnen Zwischengliedes wäre wohl eine erfreuliche Bestätigung der Entwicklungslehre, aber es wäre doch nur ein bekanntes Zwischenglied unter Millionen von unbekannten. Trotzdem lauern diese Naturforscher unaufhörlich auf die Auffindung des Zwischengliedes zwischen Affe und Mensch, und wenn einmal irgendwo in der Tiefe aufgeschwemmten Erdreichs ein Knochen gefunden wird, der teils mit Affenknochen, teils mit Menschenknochen einige Ähnlichkeit besitzt, so stürzen sich sofort alle Fachleute darauf; es werden zahlreiche Abhandlungen geschrieben, und wenn einmal ein solcher Knochen einstimmig als ein Zwischenglied bestimmt werden könnte, so würde alle Welt behaupten, einen Knochen des Urmenschen zu besitzen. Hätte diese Naturforschung ihren Begriff der Entwicklung immer fest vor Augen, so müßte sie wissen, dass auch im glücklichsten Falle nur von einem Beispiel, nicht aber von einem Urtypus die Rede sein kann.

Die Anwendung der Entwicklungshypothese auf die Sprache ist jüngeren Datums, und so ist es kein Wunder, wenn diese fixe Idee von einer greifbaren und bestimmbaren Urgestalt in der Sprachwissenschaft noch weiter verbreitet ist als in der Naturwissenschaft. In der Theorie werden fort- geschrittene Sprachphilosophen ebenfalls die unendlich kleinen Übergänge der Entwicklung zugestehen; in der Darstellung ihrer Forschungen sind sie aber noch leichter als die deutschen Haeckelianer geneigt, einen Knochen für den Urtypus auszugeben. Und sie sind noch schlimmer daran, weil sie gar nicht auf die Auffindung eines vorhistorischen Knochens hoffen dürfen, sondern die vorhistorische Form der von ihnen angenommenen Ursprache nur hypothetisch erschließen können. Ein starkes Beispiel dieser fixen Idee von einer am Anfang aller Sprachen stehenden, die Entwicklung also erst beginnenden, irgendwo vom Himmel gefallenen, deutlich geformten, das heißt artikulierten und ebenso deutlich begrifflichen Ursprache scheint mir das zu sein, was Schleicher (Die deutsche Sprache S. 45) vorbringt. Er ist darin vorurteilsfrei, dass er zahlreiche Ursprachen annimmt. Aber er hat seine fixe Idee von der ältesten Form jeder dieser Ursprachen. Er denkt sich allerdings wert in eine vorhistorische Zeit zurück, in welcher die gemeinsame Ursprache unserer Mundarten weder Flexion noch auch Agglutination kannte und wo die Bedeutung der Wurzeln noch nicht nach den Kategorien unserer Sprache unterschieden war. Es ist, wie man sieht, einer der vielen Fälle, in denen — wie ich oben sagte — die beiden Bedeutungen des Wortes Ursprache durcheinander geworfen werden. Schleicher sagt nun, dass in der Urperiode der Satz, welcher höchst unbestimmt die beiden Begriffe "Mensch" und "stehen" miteinander verband, ma sta gelautet haben müsse. Müsse! Dem beneidenswerten Manne steigt kein Zweifel an seiner Erkenntnis auf und kein Gedanke an den Schöpfungsakt, der diese Ursprache dem Menschen geschenkt haben mag.

Von unserem Standpunkt wäre ma sta (Mensch—stehen) auch dann noch ein unendlich kleines Zwischenglied der Entwicklung, wenn seine Existenz wie die eines vorhistorischen Knochens nachgewiesen wäre. Auch dann könnten wir bei der Frage nach der Entstehung der Menschensprache nicht anders als annehmen, dass ma sta der gegenwärtigen Sprache unendlich näher liege als den Uranfängen, dass also die Ursprache Schleichers eher mit dem vorläufigen Ende der Entwicklung als mit ihrem Anfange verglichen werden könnte.

Aber auch bei einer besseren Vorstellung von der Entwicklungshypothese ist ihre Anwendung auf die Geschichte der Sprache schwieriger als ihre Anwendung auf die Geschichte der organischen Welt. Wenn nämlich wirklich, wie diese Lehre behauptet, die Organismen von den niedersten Pflanzen-Tieren angefangen bis zum Menschen, wie diese Organismen gegenwärtig nebeneinander auf der Erde leben, historisch nacheinander entstanden sind, und wenn die Entwicklung eines Menschen von der Keimzelle bis zur Geburt ein kurzer Abriß dieser Entwicklungsgeschichte ist, so liegen für beide Entwicklungsreihen alle Stadien zur Vergleichung bereit. Der Naturforscher kann die Typen sämtlicher Organismen nebeneinander legen, kann sie mit dem Messer zerschneiden und unter dem Mikroskop untersuchen; ebenso kann er zahllose Exemplare des tierischen Embryos mit den Stadien der Entwicklung vergleichen. Und beides geschieht bekanntlich in allen Studierstuben dieser Forscher. Wer jedoch die Entstehung der menschlichen Sprache in diesem Sinne zurückverfolgen will, der muß auf die Kenntnis all der unendlich zahlreichen Formen verzichten, die der gegenwärtigen Sprache, das heißt der Sprache der letzten drei bis vier Jahrtausende, vorausgegangen sind. Der phylogenetische Stammbaum, das heißt die Übersicht über die Entwicklung der Art, ist für die Sprache so klaffend unterbrochen, als es der phylogenetische Stammbaum der Naturgeschichte wäre, wenn auf der Erde von allen Organismen nur der Mensch lebte; wir werden gleich sehen, dass allerdings auch dann noch daneben die Existenz der niedersten Lebewesen zur Vergleichung herangezogen werden könnte. Aber kein Forscher der Welt wäre auf die Entwicklungslehre gekommen, wenn es auf der Erde außer den Moneren und den Menschen keine Organismen gäbe. Nach der Lehre Haeckels (Müllers) ist nun der onto-genetische Stammbaum, das heißt die Übersicht über die Entwicklung des Individuums, eine Abkürzung des phylogenetischen. Dieser ontogenetische Stammbaum der Sprache, das heißt also die Entwicklung der Individualsprache eines Menschen von der Geburt ab, läßt sich nun freilich ohne Lücke verfolgen; und das geschieht auch von Seiten der Psychologen ein bißchen seit einigen Jahrzehnten. Aber auch hier ist die Sprachwissenschaft schlimmer daran als die Naturgeschichte; denn der zerschnittene Embryo hält der mikroskopischen Untersuchung stand, während die Beobachtung der ersten Kindersprache sich streng genommen auf die flüchtigen akustischen Erscheinungen beschränken muß, über die Bedeutung der ersten Laute jedoch, über die Gehirnvorgänge, weit mehr im Dunkeln tappt, als man gewöhnlich glaubt.