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Laut- und Bedeutungswandel

Dagegen könnte eine ausdenkbare Vielwissenheit immerhin eine andere Schwierigkeit überwinden. Man hat den Lautwandel immer isoliert betrachtet, und auch da gab es genug zu tun. Es kann aber gar nicht in Frage gestellt werden, dass es einen isolierten Lautwandel gar nicht gibt, dass der Wandel der Laute und der Wandel der Wortbedeutungen einander kreuzen und also auch bedingen müssen. Für den Erweis der Tatsache müssen, da gute Vorarbeiten nicht vorhanden sind, die ersten, die besten Beispiele genügen. Man denke daran, wie Götternamen gleichzeitig in Laut und Bedeutung sich verändern mußten, während ihr Gebrauch allgemeiner wurde, würdevoller und dann wieder würdelos. Der Weg von Zeus zu Dieu oder gar (sacre-) bleu ist doch unmöglich als bloßer Lautwandel aufzufassen. Ebensowenig der von mir nachgewiesene Weg von "Götze" zu "Gott". Auf Schritt und Tritt ging der Bedeutungswandel mit. Man hat längst die Wichtigkeit des Akzents oder der Betonung für den Lautwandel erkannt. Der Akzent aber ist durchaus abhängig von der Vorstellung, die wir mit einem Worte verbinden. Das Wort "Herr" mußte mit einem ganz anderen Akzent oder Nachdruck ausgesprochen werden, da der Herr über Leben und Tod des Knechtes verfügte, als später, da der Herr nur mehr Geld hatte als der selbstbewußte Arbeiter. So verwandelte sich monseigneur schließlich in monsieur (ausgesprochen m'siö), was doch ohne Bedeutungswandel nicht möglich gewesen wäre, weshalb denn auch monseigneur neben monsieur ungefähr in der alten Bedeutung und der alten Aussprache stehen geblieben ist. Man denke an unsere Interjektion "herrje". Der Name des Gottessohns (Jesus) war ganz ähnlich wie der des Gottes im französischen sacrebleu zu einer bedeutungslosen Schwurformel herabgesunken, der Schwur zu einem fast bedeutungslosen Ausdruck von Interesse oder Lebhaftigkeit, und so blieb nur die erste Silbe des Namens zurück. Und das "Herr" davor hatte so sehr allen Sinn verloren, dass es auch den Akzent einbüßte und in einzelnen Mundarten (z. B. acherje) noch mehr eingebüßt hat.

Eine einfache Besinnung muß uns lehren, dass eine solche Kreuzung von Lautwandel und Bedeutungswandel, wenn auch weniger stark, immer und überall auf jedes Wort jeder Sprache eingewirkt haben muß. Wir pflegen einen Felsen das Bild der Unveränderlichkeit zu nennen. Aber die Verwitterungen, die er im Laufe der Jahre erfährt, belehren uns darüber, dass er sich, wenn auch noch so unmerklich, unaufhörlich verändert. Von der Menschensprache können wir sagen, dass es nicht zwei Menschen gibt, die das gleiche Wort mit absolut mathematischer Gleichheit aussprechen, dass ferner nicht ein und derselbe Mensch das gleiche Wort mit absolut mathematischer Gleichheit zweimal ausspreche. In dieser Tatsache liegt sicherlich das Grundphänomen des Lautwandels. Wir müssen aber hinzufügen, dass niemals noch zwei Menschen mit dem gleichen Worte vollkommen genau die gleiche Vorstellung verbanden. Wir müssen endlich einsehen, dass ein Mensch gar häufig nicht zweimal mit demselben Worte die ganz gleiche Vorstellung verbunden hat.