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Urzeit

Es ist aber gar nicht daran zu zweifeln, dass im Laufe der Jahrhunderte die Sprache durch diese grammatische Beschäftigung allmählich noch analogischer geworden ist. Ich glaube; ohne mich hier auf den Streit um den Ursprung der Sprache und um die Frage, ob das Huhn oder das Ei früher war, einzulassen, dass man sich die Sprache in der Urzeit nicht anomalisch genug vorstellen kann.

Ich habe eben gesagt: Urzeit der Sprache. Was ich darunter verstehe, kann ich unmöglich positiv aussprechen. Ich kann weder eine Jahreszahl angeben, noch ein Zeitalter der Geologie; ich kann nicht einmal die Sprachwurzeln sprechen lassen, denn ich bin nicht dabei gewesen, wie andere Leute dabei gewesen zu sein scheinen, wenn sie von einer Ursprache reden. Aber ich kann andeuten, was alles damals die Sprache noch nicht beeinflußt haben darf, als sie noch im Stande der Urzeit war. In der Urzeit wußte man noch nicht, dass die Sprache sich auch schreiben läßt, nicht, dass die Worte aus Buchstaben bestehen, aus artikulierten Lauten, ferner wußte man in der Urzeit noch nicht, dass es außer der eigenen Sprache noch andere Sprachen gibt; die Barbaren, die Gojim waren stumm, nemci, wie die Affen für uns stumm sind. In dieser Urzeit waren die Geräte und Tätigkeiten des Menschen noch wenig differenziert, also auch mit wenigen Begriffen oder Worten zu bezeichnen; ebenso waren die Gefühle und Absichten noch nicht zahlreich. Verkehr unter den Gruppen gab es nicht, weil sie füreinander stumm waren. Und eine Sprache zum Zeitvertreib, ein Schwatzen, gab es noch nicht häufig, weil es wohl noch außerordentlicher Gelegenheiten brauchte, um den tiefen Atemzug so streng zu artikulieren.

Damals nun muß die Sprache ganz anomalisch gewesen sein.

Wenn so ein Kerl plötzlich ausrief — ich erfinde natürlich die Urzeitsprache, aber es gibt noch gegenwärtig solche Sprachen —: "Bär freß Sohn!", so verstand ihn wohl jeder, obwohl vielleicht "Bär" noch kein Artname war, "Sohn" vielleicht noch ein Eigenname und "freß" ganz gewiß noch kein Verbum, weder mit regelmäßiger noch unregelmäßiger Konjugation. "Freß", was vielleicht zugleich fressen, Fraß, Fresser usw. bedeutete, war dem Kerl vielleicht ganz besonders der Ausdruck für die Nahrungsaufnahme des Bären. Es konnte Jahrhunderte dauern, bis dies Wort dann die analoge Tätigkeit anderer Tiere bezeichnete. Ganz anderswo, an anderen Verben, werden sich die Zeitkategorien in den Endungen ausgeprägt haben: fresse, fraß. Und wieder an anderen Worten zu anderen Zeiten mag die Änderung nach erster, zweiter und dritter Person, nach Einzahl und Mehrzahl entstanden sein. Es lag für den Urzeitmenschen gar keine Veranlassung vor, ein Imperfekt von "fressen" zu bilden, weil vielleicht eins von "waten" bestand. Es lag keine Veranlassung vor, in der zweiten Person "du hast gefressen" zu sagen, weil er den Einfall gehabt hatte, "du hast geboren" zu sagen.

Vielleicht mußte so eine Gruppe erst Fremde aufnehmen, als Sklaven z. B., mußte die Stummen erst sprechen lehren, bevor diese Fremden in der fremden Sprache die unwillkürlichen Analogien herausfanden und sich gewöhnten, nach Regeln das heißt analogisch alle Formen aller Worte zu bilden.

Wir jetzt sind freilich am entgegengesetzten Ende angelangt. Wir lernen die Muttersprache in der Schule zum zweitenmal, nach Regeln; da belästigen uns die Selbständigkeiten, die Anomalien, die sogenannten Ausnahmen, und nach siebzig Jahren werden wir vielleicht anstatt "ich fraß" — "ich freßte" sagen. In der Nürnberger Spielschachtel sind die Bäume kreisrund gedrechselt.

Die starken Formen haben die Tendenz zu verschwinden.

Es ist natürlich, dass die Worte, die am allerhäufigsten gebraucht werden, am längsten ihre Anomalie bewahren. Ich bin — wir sind — I am — we are. Sollte die Sozialdemokratie einige Utopien wahr machen, z. B. die Kinder von der Geburt an den Müttern fortnehmen und sie in Erziehungshäuser stecken, so wird es keine Muttersprache mehr geben, keine Anomalie mehr und nach aber siebzig Jahren wird es vielleicht heißen: ich bin — wir binnen.