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Hyperästhesie

Verzichten wir auf diese eigentlich physischen Fragen, die man darum metaphysische nennt, so ist die Hypothese von den Wellenschwingungen ebensogut wie eine andere, um an ihr die Entwicklung der Zufallssinne ein wenig anschaulich zu machen. Es bleibt uns übrig, nach Lyells Prinzip der Aktualität diejenige Erscheinung der lebendigen Gegenwart ausfindig zu machen, in welcher die Sinne noch heute etwa deutlich fortfahren, sich zu entwickeln. Haben wir es je erlebt, daß menschliche Sinne erst empfinden lernten, was vorher unter der Schwelle ihrer Empfindlichkeit lag? Es gibt eine solche Erscheinung: die Hyperästhesie.

Hyperästhesie ist der griechische Fachausdruck für übermäßige Empfindlichkeit der Nerven, heißt wörtlich übermäßige Empfindlichkeit und wird angewendet, einerlei ob diese Empfindlichkeit wie bei Augenentzündungen unerheblich und ungefährlich, oder ob sie wie bei Erkrankungen des Zentralnervensystems ein äußerst qualvolles und gefährliches d. h. wohl dem Ende vorausgehendes Symptom ist. Die Übermäßigkeit ist natürlich ein relativer Begriff. Dem Dutzendmenschen kann schon die gesteigerte Empfindlichkeit für die leisesten Gerüche, Geschmacksunterschiede, Farben und Tonempfindungen, wie sie besondere Menschen besitzen, als krankhaft, als hyperästhetisch erscheinen. Wo ist die Grenze zwischen krankhafter Hyperästhesie und gesteigerter Empfindlichkeit zu ziehen? Wo die Grenze zwischen Fortschritt und Decadence auf dem Gebiete der Sinnesempfindlichkeit? Wir können uns recht gut vorstellen, daß diejenigen Fortschritte auf dem Gebiete der Sinneswahrnehmungen (denen ganz gewiß eine mikroskopisch physiologische Entwicklung der Sinnesorgane selbst parallel geht), welche zu reicheren und immer reicheren Vorstellungen der Menschheit führen, von relativ hyperästhetischen Menschen ausgegangen sind. Hyperästhetisch mußte von Geschlecht zu Geschlecht die Entwicklung des Farbensinnes, des Tonsinnes den Dutzendmenschen erscheinen. Immer noch und auch gegenwärtig sehen und hören die jüngsten Maler und Musiker Harmonien, wo die "Zurückgebliebenen" oder die Älteren Disharmonien wahrnehmen. Es wurde das hier schon bemerkt, als die Malerei mit der Wortkunst verglichen wurde. Und es ist charakteristisch für diese Entwicklung, daß die Fortgeschrittenen schon Worte für Töne und Farben haben, welche den Zurückgebliebenen noch chaotisch erscheinen. Auch die Entwicklung der Sprache, um die Naturgegenstände zu bezeichnen, ließe sich durch Hyperästhesie der Bahnbrecher erklären. Feinere Ähnlichkeiten ebensogut wie feinere Unterschiede mußten von gesteigerter Empfindlichkeit der Sinne einmal zuerst wahrgenommen worden sein, um für neue Ober- und Unterbegriffe benutzt zu werden. Von den gesunden und kranken Besitzern hyperästhetischer Sinne sind die Simulanten, die auch auf diesem Gebiete nicht fehlen, wohl zu scheiden.

Wie schwer die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit dabei zu ziehen ist, das wird klar, wenn wir den Begriff der Hyperästhesie zu definieren suchen, d. h. die tautologische Erklärung durch die Übermäßigkeit auszuschalten suchen. Es bleibt uns dann nichts übrig als zu sagen, es sei derjenige Sinn hyperästhetisch, bei welchem schon solche minimale Reize Wirkungen verursachen oder gar über die Schwelle des Bewußtseins treten, bei denen die große Mehrzahl der Menschen weder bewußte noch unbewußte Wirkungen verspürt. Wenn dann der eine Organismus auf den Molekularsturm der auf sein Gehör z. B. einwirkenden minimalen Reize durch krankhafte Halluzinationen reagiert, der andere Organismus durch Erfinden, d. h. Weiterentwickeln neuer Melodien, so war nur die Kraft der beiden Organismen verschieden; das physiologische Wesen der Erscheinung war wohl das gleiche.

Man kann die menschliche Sprache auffassen als den Niederschlag der gesunden Hyperästhesie in den Zufallssinnen der Menschheit.