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Leidenschaft

Leidenschaft (lat. passio, gr. pathos) heißt eine dauernde Begierde, die so stark ist, daß sie des Menschen Willen beherrscht, ihn also in praktische Unfreiheit versetzt. Kant definiert (Anthrop. § 77): „Die Neigung, durch welche die Vernunft verhindert wird, sie in Ansehung einer gewissen Wahl mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen, ist die Leidenschaft.“ Sie ruft einen Gegensatz zwischen Willen und Vernunft, zwischen Wollen und Wissen hervor. Sie ist mit dem Eigensinn verwandt und doch von ihm verschieden. Sie ist rücksichtslos und einseitig wie der Eigensinn, aber der Eigensinn ist ein intellektueller Mangel; er hört nicht das Urteil der Vernunft und entschließt sich, ohne erwogen zu haben; die Leidenschaft ist ein sittlicher Mangel; sie hört die Vernunft und entschließt sich doch gegen dieselbe. Sie hindert an der Ausübung vernünftiger Willenstätigkeit, raubt die ruhige Besinnung und den unbefangenen Blick in die Welt, obgleich sie in bezug auf ihr eigenes Ziel den Verstand schärft. Sie entsteht, wenn sich irgend ein Vorstellungskreis isoliert, sich zur bestimmten Neigung umgestaltet und diese sich fest behauptet. Innere Zerrissenheit befördert die Leidenschaften, Vielseitigkeit des Interesses hemmt sie. Die Leidenschaft grenzt an die Seelenkrankheit an. Sie hat verschiedene Ursachen. Häufige Befriedigung einer Begierde kann ebenso durch Gewöhnung zur Leidenschaft führen wie gänzliche Unterdrückung oder nur mangelhafte Befriedigung. Auch aus stillen, scheinbar harmlosen Gewohnheiten (Liebhabereien u. dgl.) kann sie entspringen, ebenso aus vagem Phantasieren und scheinbar kühlem, sophistischem Räsonnement. Ihre Maximen sind nicht Urteile über, sondern durch und für das Wollen. Sie kann wohl den Schein des Charakters annehmen, weil sie zäh ihr Ziel verfolgt, dem Wollen Einheit verleiht, aber zum wahren Charakter fehlt ihr sittliche Motivierung, Ruhe und Einsicht; alle Leidenschaften sind blind; sie wissen weder den wahren Wert der Objekte, noch die Interessen des Subjekts richtig abzuschätzen. „Durch Leidenschaften glücklich werden wollen heißt sich wärmen durch ein Brennglas.“ Der von Leidenschaften beherrschte Mensch verfällt wechselnd in Exaltation und in Depression. Solange die Leidenschaft herrscht, verleiht sie ihm scheinbar Kraft und Einheit, die nach dem vorangegangenen Kampf mit sich selbst das Gefühl der Befreiung hat. Aber bald tritt Schwäche, Abstumpfung und Ekel ein, da sich die Leidenschaft durch die Einseitigkeit des Interesses und die Verschrobenheit ihrer Wertschätzung selbst zerstört. Der Mensch erscheint sich so selber als Opfer fremder Mächte und sucht sich oft aus der durch die Tyrannei einer Leidenschaft herbeigeführten Verödung des Gemütes in eine andere Leidenschaft zu retten.

Die Leidenschaften unterscheiden sich durch ihre Intensität, Dauer und Triebkraft. Man kann sie in objektive, deren Befriedigung das Selbstgefühl des Subjektes aufhebt, und subjektive, deren Befriedigung das Selbstgefühl steigert, einteilen. Jenes sind Leidenschaften des Besitzens, diese des Seins. Praktischer ist die Einteilung in physische und geistige. Physisch sind z.B. Völlerei, Trunksucht, Leckerhaftigkeit, Wollust, Rauflust, Faulheit, Spielwut, Unterhaltungssucht, Plaudersucht – geistig Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht, Geiz, Verschwendung, Sammelwut, Liebe, Eifersucht, Haß, Rache. Kant unterscheidet natürliche und aus der Kultur des Menschen hervorgehende. Zu jenen gehört die Freiheits- und Geschlechtsneigung, zu diesen die Eifersucht, Herrschsucht und Habsucht. – Trieb, Begierde, Neigung, Hang und Leidenschaft ist die Stufenreihe des Wollens, die der Mensch durchläuft. Affekt und Leidenschaft sind nicht dasselbe; denn Affekte gehen mehr aus Gefühlen, Leidenschaften mehr aus Trieben hervor. Jene sind mehr vorübergehende, diese dauernde Zustände des Ichs. Der Affekt greift mehr den Körper, die Leidenschaft die Seele an. Derselbe Mensch kann gleichzeitig nicht von mehreren Affekten, aber wohl von mehreren Leidenschaften beherrscht werden, die freilich nur eine Übereinkunft, keine Verschmelzung miteinander eingehen. Doch hat jede Leidenschaft auch ihre intellektuellen Komponenten, wie Th. Ribot neuerdings besonders hervorgehoben hat. Wundt weist die Trennung der Affekte und Leidenschaften für die psychologische Betrachtung zurück und läßt sie nur für die ethische Auffassung zu (Grundr. d. Psych., § 13, S. 210). – Bekämpfen kann man die Leidenschaft, indem man ihr Entstehen verhütet, die entstehende dämpft und die entstandene ausrottet, indem man die Absonderungen einzelner Vorstellungskreise meidet, die Aufmerksamkeit von den verlockend ausgemalten Phantasiebildern abwendet und sich nicht ins Labyrinth der Wünsche einläßt. Ferner ist eine gleichmäßige Ausbildung aller Kräfte, fleißige Pflichterfüllung, Veränderung der Lebensweise, Ablenkung vom Individuellen, Hinwendung aufs Ewige (Spinozas Erfassung der Dinge sub specie aeternitatis) ein Schutzmittel gegen Leidenschaften. Goethe sagt in bezug auf sie in den Geheimnissen: „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet“. Vgl. Platon, Polit. IX. Leibniz, Nouv. Essais, p. 258. Descartes, Des passions. 1649. Spinoza, Ethik, 3. und 4. Buch. 1677. Kant, Anthropologie. 1798. S. 225 ff., § 77 ff. Maaß. Über die Leidensch. 1805. Feuchtersleben, Diätetik der Seele. 1838. Biunde, Empir. Psychol. II. 1851. H. Klencke, Diätetik d. Seele. 1873. Fr. Kirchner, Diätetik d. Geistes. 1884, 2. Aufl. 1886. Th. Ribot, Essai sur les passions. Paris 1907.