§ 10. Merkmale der charismatischen Herrschaft


§ 10. »Charisma« soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als »Führer« gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus »objektiv« richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den »Anhängern«, bewertet wird, kommt es an.

 

Das Charisma eines »Berserkers« (dessen manische Anfälle man, anscheinend mit Unrecht, der Benutzung bestimmter Gifte zugeschrieben hat: man hielt sich in Byzanz im Mittelalter eine Anzahl dieser mit dem Charisma der Kriegs-Tobsucht Begabten als eine Art von Kriegswerkzeugen), eines »Schamanen« (Magiers, für dessen Ekstasen im reinen Typus die Möglichkeit epileptoider Anfälle als eine Vorbedingung gilt), oder etwa des (vielleicht, aber nicht ganz sicher, wirklich einen raffinierten Schwindlertyp darstellenden) Mormonenstifters, oder eines den eigenen demagogischen Erfolgen preisgegebenen Literaten wie Kurt Eisner werden von der wertfreien Soziologie mit dem Charisma der nach der üblichen Wertung »größten« Helden, Propheten, Heilande durchaus gleichartig behandelt.

 

1. Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten. Aber diese ist (bei genuinem Charisma) nicht der Legitimitätsgrund, sondern sie ist Pflicht der kraft Berufung und Bewährung zur Anerkennung dieser Qualität Aufgerufenen. Diese »Anerkennung« ist psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe.

 

Kein Prophet hat seine Qualität als abhängig von der Meinung der Menge über ihn angesehen, kein gekorener König oder charismatischer Herzog die Widerstrebenden oder abseits Bleibenden anders denn als Pflichtwidrige behandelt: die Nicht-Teilnahme an dem formal voluntaristisch rekrutierten Kriegszug eines Führers wurde in aller Welt mit Spott entgolten.

 

2. Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden. Dies ist der genuine charismatische Sinn des »Gottesgnadentums«.

Selbst für altgermanische Könige kommt ein »Verschmäher« vor. Ebenso massenhaft bei sog. primitiven Völkern. Für China war die (erbcharismatisch unmodifizierte, s. § 11) charismatische Qualifikation des Monarchen so absolut festgehalten worden, daß jegliches, gleichviel wie geartete, Mißgeschick: nicht nur Kriegsunglück, sondern ebenso: Dürre, Überschwemmungen, unheilvolle astronomische Vorgänge usw. ihn zu öffentlicher Buße, eventuell zur Abdankung zwangen. Er hatte dann das Charisma der vom Himmelsgeist verlangten (klassisch determinierten) »Tugend« nicht und war also nicht legitimer »Sohn des Himmels«.

3. Der Herrschaftsverband Gemeinde: ist eine emotionale Vergemeinschaftung. Der Verwaltungsstab des charismatischen Herrn ist kein »Beamtentum«, am wenigsten ein fachmäßig eingeschultes. Er ist weder nach ständischen, noch nach Gesichtspunkten der Haus- oder persönlichen Abhängigkeit ausgelesen. Sondern er ist seinerseits nach charismatischen Qualitäten ausgelesen: dem »Propheten« entsprechen die »Jünger«, dem »Kriegsfürsten« die »Gefolgschaft«, dem »Führer« überhaupt: »Vertrauensmänner«. Es gibt keine »Anstellung« oder »Absetzung«, keine »Laufbahn« und kein »Aufrücken«. Sondern nur Berufung nach Eingebung des Führers auf Grund der charismatischen Qualifikation des Berufenen. Es gibt keine »Hierarchie«, sondern nur Eingreifen des Führers bei genereller oder im Einzelfall sich ergebender charismatischer Unzulänglichkeit des Verwaltungsstabes für eine Aufgabe, eventuell auf Anrufen. Es gibt keine »Amtssprengel« und »Kompetenzen«, aber auch keine Appropriation von Amtsgewalten durch »Privileg«. Sondern nur (möglicherweise) örtliche oder sachliche Grenzen des Charisma und der »Sendung«. Es gibt keinen »Gehalt« und keine »Pfründe«. Sondern die Jünger oder Gefolgen leben (primär) mit dem Herrn in Liebes- bzw. Kameradschaftskommunismus aus den mäzenatisch beschafften Mitteln. Es gibt keine feststehenden »Behörden«, sondern nur charismatisch, im Umfang des Auftrags des Herrn und: des eigenen Charisma, beauftragte Sendboten. Es gibt kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze, keine an ihnen orientierte rationale Rechtsfindung, keine an traditionalen Präzedenzien orientierten Weistümer und Rechtssprüche. Sondern formal sind aktuelle Rechtsschöpfungen von Fall zu Fall, ursprünglich nur Gottesurteile und Offenbarungen maßgebend. Material aber gilt für alle genuin charismatische Herrschaft der Satz: »es steht geschrieben, – ich aber sage euch«; der genuine Prophet sowohl wie der genuine Kriegsfürst wie jeder genuine Führer überhaupt verkündet, schafft, fordert neue Gebote, – im ursprünglichen Sinn des Charisma: kraft Offenbarung, Orakel, Eingebung oder: kraft konkretem Gestaltungswillen, der von der Glaubens-, Wehr-, Partei- oder anderer Gemeinschaft um seiner Herkunft willen anerkannt wird. Die Anerkennung ist pflichtmäßig. Sofern der Weisung eine konkurrierende Weisung eines Andern mit dem Anspruch auf charismatische Geltung entgegentritt, liegt ein letztlich nur durch magische Mittel oder (pflichtmäßige) Anerkennung der Gemeinschaft entscheidbarer Führerkampf vor, bei dem notwendig auf der einen Seite nur Recht, auf der anderen nur sühnepflichtiges Unrecht im Spiel sein kann.

Die charismatische Herrschaft ist, als das Außeralltägliche, sowohl der rationalen, insbesondere der bureaukratischen, als der traditionalen, insbesondere der patriarchalen und patrimonialen oder ständischen, schroff entgegengesetzt. Beide sind spezifische Alltags-Formen der Herrschaft, – die (genuin) charismatische ist spezifisch das Gegenteil. Die bureaukratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit. Die traditionale Herrschaft ist gebunden an die Präzedenzien der Vergangenheit und insoweit ebenfalls regelhaft orientiert, die charismatische stürzt (innerhalb ihres Bereichs) die Vergangenheit um und ist in diesem Sinn spezifisch revolutionär. Sie kennt keine Appropriation der Herrengewalt nach Art eines Güterbesitzes, weder an den Herrn noch an ständische Gewalten. Sondern legitim ist sie nur soweit und solange, als das persönliche Charisma kraft Bewährung »gilt«, das heißt: Anerkennung findet, und »brauchbar« [ist] der Vertrauensmann, Jünger, Gefolge nur auf die Dauer seiner charismatischen Bewährtheit.

 

Das Gesagte dürfte kaum eine Erläuterung benötigen. Es gilt für den rein »plebiszitären« charismatischen Herrscher (Napoleons »Herrschaft des Genies«, welche Plebejer zu Königen und Generälen machte) ganz ebenso wie für den Propheten oder Kriegshelden.

 

4. Reines Charisma ist spezifisch wirtschaftsfremd. Es konstituiert, wo es auftritt, einen »Beruf« im emphatischen Sinn des Worts: als »Sendung« oder innere »Aufgabe«. Es verschmäht und verwirft, im reinen Typus, die ökonomische Verwertung der Gnadengaben als Einkommensquelle, – was freilich oft mehr Anforderung als Tatsache bleibt. Nicht etwa, daß das Charisma immer auf Besitz und Erwerb verzichtete, wie das unter Umständen (s. gleich) Propheten und ihre Jünger tun. Der Kriegsheld und seine Gefolgschaft suchen Beute, der plebiszitäre Herrscher oder charismatische Parteiführer materielle Mittel ihrer Macht, der erstere außerdem: materiellen Glanz seiner Herrschaft zur Festigung seines Herrenprestiges. Was sie alle verschmähen – solange der genuin charismatische Typus besteht – ist: die traditionale oder rationale Alltagswirtschaft, die Erzielung von regulären »Einnahmen« durch eine darauf gerichtete kontinuierliche wirtschaftliche Tätigkeit. Mäzenatische – großmäzenatische (Schenkung, Stiftung, Bestechung, Großtrinkgelder) – oder: bettelmäßige Versorgung auf der einen, Beute, gewaltsame oder (formal) friedliche Erpressung auf der anderen Seite sind die typischen Formen der charismatischen Bedarfsdeckung. Sie ist, von einer rationalen Wirtschaft her gesehen, eine typische Macht der »Unwirtschaftlichkeit«. Denn sie lehnt jede Verflechtung in den Alltag ab. Sie kann nur, in voller innerer Indifferenz, unsteten Gelegenheitserwerb sozusagen »mitnehmen«. »Rentnertum« als Form der Wirtschaftsenthobenheit kann – für manche Arten – die wirtschaftliche Grundlage charismatischer Existenzen sein. Aber für die normalen charismatischen »Revolutionäre« pflegt das nicht zu gelten.

 

Die Ablehnung kirchlicher Ämter durch die Jesuiten ist eine rationalisierte Anwendung dieses »Jünger«-Prinzips. Daß alle Helden der Askese, Bettelorden und Glaubenskämpfer dahin gehören, ist klar. Fast alle Propheten sind mäzenatisch unterhalten worden. Der gegen das Missionarsschmarotzertum gerichtete Satz des Paulus: »wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«, bedeutet natürlich keinerlei Bejahung der »Wirtschaft«, sondern nur die Pflicht, gleichviel wie, »im Nebenberuf« sich den notdürftigen Unterhalt zu schaffen, weil das eigentlich charismatische Gleichnis von den »Lilien auf dem Felde« nicht im Wortsinn, sondern nur in dem des Nichtsorgens für den nächsten Tag durchführbar war. – Auf der andern Seite ist es bei einer primär künstlerischen charismatischen Jüngerschaft denkbar, daß die Enthebung aus den Wirtschaftskämpfen durch Begrenzung der im eigentlichen Sinn Berufenen auf »wirtschaftlich Unabhängige« (also: Rentner) als das Normale gilt (so im Kreise Stefan Georges, wenigstens der primären Absicht nach).

 

5. Das Charisma ist die große revolutionäre Macht in traditional gebundenen Epochen. Zum Unterschied von der ebenfalls revolutionierenden Macht der »ratio«, die entweder geradezu von außen her wirkt: durch Veränderung der Lebensumstände und Lebensprobleme und dadurch mittelbar der Einstellungen zu diesen, oder aber: durch Intellektualisierung, kann Charisma eine Umformung von innen her sein, die, aus Not oder Begeisterung geboren, eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur »Welt« überhaupt bedeutet. In vorrationalistischen Epochen teilen Tradition und Charisma nahezu die Gesamtheit der Orientierungsrichtungen des Handelns unter sich auf.


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