§ 7a. Gerontokratie, Patriarchalismus, Patrimonialismus, Sultanismus


§ 7 a. 1. Die primären Typen der traditionalen Herrschaft sind die Fälle des Fehlens eines persönlichen Verwaltungsstabs des Herrn:

a) Gerontokratie und

b) primärer Patriarchalismus. Gerontokratie heißt der Zustand, daß, soweit überhaupt Herrschaft im Verband geübt wird, die (ursprünglich im wörtlichen Sinn: an Jahren) Ältesten, als beste Kenner der heiligen Tradition, sie ausüben. Sie besteht oft für nicht primär ökonomische oder familiale Verbände. Patriarchalismus heißt der Zustand, daß innerhalb eines, meist, primär ökonomischen und familialen (Haus-) Verbandes ein (normalerweise) nach fester Erbregel bestimmter Einzelner die Herrschaft ausübt. Gerontokratie und Patriarchalismus stehen nicht selten nebeneinander. Entscheidend ist dabei: daß die Gewalt der Gerontokraten sowohl wie des Patriarchen im reinen Typus an der Vorstellung der Beherrschten (»Genossen«) orientiert ist: daß diese Herrschaft zwar traditionales Eigenrecht des Herrn sei, aber material als präeminentes Genossenrecht, daher in ihrem, der Genossen, Interesse ausgeübt werden müsse, ihm also nicht frei appropriiert sei. Das, bei diesen Typen, völlige Fehlen eines rein persönlichen (»patrimonialen«) Verwaltungsstabs des Herrn ist dafür bestimmend. Der Herr ist daher von dem Gehorchen wollen der Genossen noch weitgehend abhängig, da er keinen »Stab« hat. Die Genossen sind daher noch »Genossen«, und noch nicht: »Untertanen«. Aber sie sind »Genossen« kraft Tradition, nicht: »Mitglieder« kraft Satzung. Sie schulden die Obödienz dem Herrn, nicht der gesatzten Regel. Aber dem Herrn allerdings nur: gemäß Tradition. Der Herr seinerseits ist streng traditionsgebunden.

 

Über die Arten der Gerontokratie s. später. Primärer Patriarchalismus ist ihr insofern verwandt, als die Herrschaft nur innerhalb des Hauses obligat, im übrigen aber – wie bei den arabischen Scheichs – nur exemplarisch, also nach Art der charismatischen: durch Beispiel, oder aber: durch Rat und Einflußmittel wirkt.

 

2. Mit dem Entstehen eines rein persönlichen Verwaltungs- (und: Militär-) Stabes des Herrn neigt jede traditionale Herrschaft zum Patrimonialismus und im Höchstmaß der Herrengewalt: zum Sultanismus: die »Genossen« werden nun erst zu »Untertanen«, das bis dahin als präeminentes Genossenrecht gedeutete Recht des Herrn zu seinem Eigenrecht, ihm in (prinzipiell) gleicher Art appropriiert wie irgendein Besitzobjekt beliebigen Charakters, verwertbar (verkäuflich, verpfändbar, erbteilbar) prinzipiell wie irgendeine wirtschaftliche Chance. Äußerlich stützt sich die patrimoniale Herrengewalt auf (oft: gebrandmarkte) Sklaven- oder Kolonen- oder gepreßte Untertanen- oder – um die Interessengemeinschaft gegenüber den letzteren möglichst unlöslich zu machen – Sold-Leibwachen und -Heere (patrimoniale Heere). Kraft dieser Gewalt erweitert der Herr das Ausmaß der traditionsfreien Willkür, Gunst und Gnade auf Kosten der patriarchalen und gerontokratischen Traditionsgebundenheit. Patrimoniale Herrschaft soll jede primär traditional orientierte, aber kraft vollen Eigenrechts ausgeübte, sultanistische eine in der Art ihrer Verwaltung sich primär in der Sphäre freier traditionsungebundener Willkür bewegende Patrimonialherrschaft heißen. Der Unterschied ist durchaus fließend. Vom primären Patriarchalismus scheidet beide, auch den Sultanismus, die Existenz des persönlichen Verwaltungsstabs.

 

Die sultanistische Form des Patrimonialismus ist zuweilen, dem äußeren Anscheine nach, – in Wahrheit: nie wirklich – völlig traditionsungebunden. Sie ist aber nicht sachlich rationalisiert, sondern es ist in ihr nur die Sphäre der freien Willkür und Gnade ins Extrem entwickelt. Dadurch unterscheidet sie sich von jeder Form rationaler Herrschaft.

 

3. Ständische Herrschaft soll diejenige Form patrimonialer Herrschaft heißen, bei welcher dem Verwaltungsstab bestimmte Herrengewalten und die entsprechenden ökonomischen Chancen appropriiert sind. Die Appropriation kann – wie in allen ähnlichen Fällen (Kap. II, § 19):

a) einem Verbande oder einer durch Merkmale ausgezeichneten Kategorie von Personen, oder

b) individuell und zwar: nur lebenslänglich oder auch erblich oder als freies Eigentum erfolgen.

Ständische Herrschaft bedeutet also

a) stets Begrenzung der freien Auslese des Verwaltungsstabes durch den Herrn, durch die Appropriation der Stellen oder Herrengewalten:

α. an einen Verband,

β. an eine ständisch (Kap. IV) qualifizierte Schicht, – oder

b) oft – und dies soll hier als »Typus« gelten – ferner:

α. Appropriation der Stellen, also (eventuell) der durch ihre Innehabung geschaffenen Erwerbschancen und

β. Appropriation der sachlichen Verwaltungsmittel,

γ. Appropriation der Befehlsgewalten: an die einzelnen Mitglieder des Verwaltungsstabs. Die Appropriatoren können dabei historisch sowohl 1. aus dem vorher nicht ständischen Verwaltungsstab hervorgegangen sein, wie 2. vor der Appropriation nicht dazu gehört haben.

Der appropriierende ständische Inhaber von Herrengewalten bestreitet die Kosten der Verwaltung aus eigenen und ungeschieden ihm appropriierten Verwaltungsmitteln. Inhaber von militärischen Herrengewalten oder ständische Heeresangehörige equipieren sich selbst und eventuell die von ihnen zu stellenden patrimonial oder wiederum ständisch rekrutierten Kontingente (ständisches Heer). Oder aber: die Beschaffung der Verwaltungsmittel und des Verwaltungsstabs wird geradezu als Gegenstand einer Erwerbsunternehmung gegen Pauschalleistungen aus dem Magazin oder der Kasse des Herren appropriiert, wie namentlich (aber nicht nur) beim Soldheer des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa (kapitalistisches Heer). Die Gesamtgewalt ist in den Fällen voller ständischer Appropriation zwischen dem Herrn und den appropriierenden Gliedern des Verwaltungsstabs kraft deren Eigenrechts regelmäßig geteilt, oder aber es bestehen durch besondere Ordnungen des Herrn oder besondere Kompromisse mit den Appropriierten regulierte Eigengewalten.

Fall 1 z.B. Hofämter eines Herrn, welche als Lehen appropriiert werden. Fall 2 z.B. Grundherren, welche kraft Herren-Privileg oder durch Usurpation (meist ist das erste die Legalisierung des letzteren) Herrenrechte appropriierten.

Die Appropriation an die Einzelnen kann beruhen auf:

1. Verpachtung,

2. Verpfändung,

3. Verkauf,

4. persönlichem oder erblichem oder frei appropriiertem, unbedingtem oder durch Leistungen bedingtem Privileg, gegeben:

a) als Entgelt für Dienste oder um Willfährigkeit zu erkaufen oder

b) in Anerkennung der tatsächlichen Usurpation von Herrengewalten, –

5. Appropriation an einen Verband oder eine ständisch qualifizierte Schicht, regelmäßig Folge eines Kompromisses von Herrn und Verwaltungsstab, oder einer vergesellschafteten ständischen Schicht; dies kann

α. dem Herrn volle oder relative Freiheit der Auswahl im Einzelfall lassen, oder

β. für die persönliche Innehabung der Stelle feste Regeln satzen, –

6. Lehen, worüber besonders zu reden sein wird.

 

1. Die Verwaltungsmittel sind – der dabei herrschenden, allerdings meist ungeklärten Vorstellung nach – bei Gerontokratie und reinem Patriarchalismus dem verwalteten Verband oder dessen einzelnen an der Verwaltung beteiligten Haushaltungen appropriiert: »für« den Verband wird die Verwaltung geführt. Die Appropriation an den Herrn als solchen gehört erst der Vorstellungswelt des Patrimonialismus an und kann sehr verschieden voll – bis zu vollem Bodenregal und voller Herrensklaverei der Untertanen (»Verkaufsrecht« des Herrn) – durchgeführt sein. Die ständische Appropriation bedeutet Appropriation mindestens eines Teils der Verwaltungsmittel an die Mitglieder des Verwaltungsstabes. Während also beim reinen Patrimonialismus volle Trennung der Verwalter von den Verwaltungsmitteln stattfindet, ist dies beim ständischen Patrimonialismus gerade umgekehrt: der Verwaltende ist im Besitz der Verwaltungsmittel, aller oder mindestens eines wesentlichen Teils. So war der Lehensmann, der sich selbst equipierte, der belehnte Graf, der die Gerichts- und andern Gebühren und Auflagen für sich vereinnahmte und aus eigenen Mitteln (zu denen auch die appropriierten gehörten) dem Lehensherrn seine Pflicht bestritt, der indische jagirdar, der aus seiner Steuerpfründe sein Heereskontingent stellte, im Vollbesitz der Verwaltungsmittel, dagegen der Oberst, der ein Söldnerregiment in eigener Entreprise aufstellte und dafür bestimmte Zahlungen aus der fürstlichen Kasse erhielt und sich für das Defizit durch Minderleistung und aus der Beute oder durch Requisitionen bezahlt machte, im teilweisen (und: regulierten) Besitz der Verwaltungsmittel. Während der Pharao, der Sklaven- oder Kolonen-Heere aufstellte und durch Königsklienten führen ließ, sie aus seinen Magazinen kleidete, ernährte, bewaffnete, als Patrimonialherr im vollen Eigenbesitz der Verwaltungsmittel war. Dabei ist die formale Regelung nicht immer das Ausschlaggebende: die Mameluken waren formal Sklaven, rekrutierten sich formal durch »Kauf« des Herrn, – tatsächlich aber monopolisierten sie die Herrengewalten so vollkommen, wie nur irgendein Ministerialenverband die Dienstlehen. Die Appropriation von Dienstland an einen geschlossenen Verband, aber ohne individuelle Appropriation, kommt vor, sowohl mit innerhalb des Verbands freier Besetzung durch den Herrn (Fall 5, α des Textes), wie mit Regulierung der Qualifikation zur Übernahme (Fall 5, β des Texts), z.B. durch Verlangen militärischer oder anderer (ritueller) Qualifikation des Anwärters und andererseits (bei deren Vorliegen) Vorzugsrecht der nächsten Blutsverwandten. Ebenso bei hofrechtlichen oder zünftigen Handwerker- oder Bauernstellen, deren Leistungen militärischen oder Verwaltungsbedürfnissen zu dienen bestimmt sind.

2. Appropriation durch Verpachtung (Steuerpacht insbesondere), Verpfändung oder Verkauf waren dem Okzident, aber auch dem Orient und Indien bekannt; in der Antike war Vergebung durch Auktion bei Priesterstellen nicht selten. Der Zweck war bei der Verpachtung teils ein rein aktuell finanzpolitischer (Notlage besonders infolge von Kriegskosten), teils ein finanztechnischer (Sicherung einer festen, haushaltsmäßig verwendbaren Geldeinnahme), bei Verpfändung und Verkauf durchweg der erstgenannte, im Kirchenstaat auch: Schaffung von Nepoten-Renten. Die Appropriation durch Verpfändung hat noch im 18. Jahrhundert bei der Stellung der Juristen (Parlamente) in Frankreich eine erhebliche Rolle gespielt, die Appropriation durch (regulierten) Kauf von Offizierstellen im englischen Heer noch bis in das 19. Jahrhundert. Dem Mittelalter war das Privileg, als Sanktion von Usurpation oder als Lohn oder Werbemittel für politische Dienste, im Okzident ebenso wie anderwärts geläufig.


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