§ 21. Begriff, Wesen und Formen der Repräsentation


Unter Repräsentation wird primär der (in Kap. I, § 11) erörterte Tatbestand verstanden: daß das Handeln bestimmter Verbandszugehöriger (Vertreter) den übrigen zugerechnet wird oder von ihnen gegen sich als »legitim« geschehen und für sie verbindlich gelten gelassen werden soll und tatsächlich wird.

Innerhalb der Verbandsherrschaften aber nimmt Repräsentation mehrere typische Formen an:

1. Appropriierte Repräsentation. Der Leiter (oder ein Verbandsstabsmitglied) hat das appropriierte Recht der Repräsentation. In dieser Form ist sie sehr alt und findet sich in patriarchalen und charismatischen (erbcharismatischen, amtscharismatischen) Herrschaftsverbänden der verschiedensten Art. Die Vertretungsmacht hat traditionalen Umfang.

 

Scheichs von Sippen oder Häuptlinge von Stämmen, Kastenschreschths, Erbhierarchen von Sekten, Dorfpatels, Obermärker, Erbmonarchen und alle ähnlichen patriarchalen und patrimonialen Leiter von Verbänden aller Art gehören hierher. Befugnis zum Abschluß von Verträgen und zu satzungsartigen Abmachungen mit den Ältesten der Nachbarverbände finden sich schon in sonst primitiven Verhältnissen (Australien).

 

Der appropriierten Repräsentation sehr nahe steht

2. die ständische (eigenrechtliche) Repräsentation. Sie ist insofern nicht »Repräsentation«, als sie primär als Vertretung und Geltendmachung lediglich eigener (appropriierter) Rechte (Privilegien) angesehen wird. Aber sie hat insofern Repräsentationscharakter (und wird daher gelegentlich auch als solche angesehen), als die Rückwirkung der Zustimmung zu einem ständischen Rezeß über die Person des Privileginhabers hinaus auf die nicht privilegierten Schichten, nicht nur der Hintersassen, sondern auch anderer, nicht durch Privileg ständisch Berechtigter, wirkt, indem ganz regelmäßig deren Gebundenheit durch die Abmachungen der Privilegierten als selbstverständlich vorausgesetzt oder ausdrücklich in Anspruch genommen wird.

 

Alle Lehenshöfe und Versammlungen ständisch privilegierter Gruppen, .at’ e’....` . aber die »Stände« des deutschen Spätmittelalters und der Neuzeit gehören hierher. Der Antike und den außereuropäischen Gebieten ist die Institution nur in einzelnen Exemplaren bekannt, nicht aber ein allgemeines »Durchgangsstadium« gewesen.

 

3. Den schärfsten Gegensatz hierzu bildet die gebundene Repräsentation: gewählte (oder durch Turnus oder Los oder andere ähnliche Mittel bestimmte) Beauftragte, deren Vertretungsgewalt durch imperative Mandate und Abberufungsrecht nach Innen und Außen begrenzt und an die Zustimmung der Vertretenen gebunden ist. Diese »Repräsentanten« sind in Wahrheit: Beamte der von ihnen Repräsentierten.

 

Das imperative Mandat hat von jeher und in Verbänden der allerverschiedensten Art eine Rolle gespielt. Die gewählten Vertreter der Kommunen z.B. in Frankreich waren fast immer durchaus an ihre »cahiers de doléances« gebunden. – Zurzeit findet sich diese Art der Repräsentation besonders in den Räterepubliken, für welche sie Surrogat der in Massenverbänden unmöglichen unmittelbaren Demokratie ist. Gebundene Mandatare sind sicherlich Verbänden der verschiedensten Art auch außerhalb des mittelalterlichen und modernen Okzidents bekannt, doch nirgends von großer historischer Bedeutung gewesen.

 

4. Freie Repräsentation. Der Repräsentant, in aller Regel gewählt (eventuell formell oder faktisch durch Turnus bestimmt), ist an keine Instruktion gebunden, sondern Eigenherr über sein Verhalten. Er ist pflichtmäßig nur an sachliche eigene Überzeugungen, nicht an die Wahrnehmung von Interessen seiner Deleganten gewiesen.

Freie Repräsentation in diesem Sinn ist nicht selten die unvermeidliche Folge der Lücken oder des Versagens der Instruktion. In andern Fällen aber ist sie der sinngemäße Inhalt der Wahl eines Repräsentanten, der dann insoweit: der von den Wählern gekorene Herr derselben, nicht: ihr »Diener«, ist. Diesen Charakter haben insbesondere die modernen parlamentarischen Repräsentationen angenommen, welche die allgemeine Versachlichung: Bindung an abstrakte (politische, ethische) Normen: das Charakteristikum der legalen Herrschaft, in dieser Form teilen.

Im Höchstmaß gilt diese Eigenart für die Repräsentativ- Körperschaften der modernen politischen Verbände: die Parlamente. Ihre Funktion ist ohne das voluntaristische Eingreifen der Parteien nicht zu erklären: diese sind es, welche die Kandidaten und Programme den politisch passiven Bürgern präsentieren und durch Kompromiß oder Abstimmung innerhalb des Parlaments die Normen für die Verwaltung schaffen, diese selbst kontrollieren, durch ihr Vertrauen stützen, durch dauernde Versagung ihres Vertrauens stürzen, wenn es ihnen gelungen ist, die Mehrheit bei den Wahlen zu erlangen.

Der Parteileiter und der von ihm designierte Verwaltungsstab: die Minister, Staats- und, eventuell, Unterstaatssekretäre, sind die »politischen«, d.h. vom Wahlsieg ihrer Partei in ihrer Stellung abhängigen, durch eine Wahlniederlage zum Rücktritt gezwungenen Staatsleiter. Wo die Parteiherrschaft voll durchgedrungen ist, werden sie dem formalen Herrn: dem Fürsten, durch die Parteiwahl zum Parlament oktroyiert, der von der Herrengewalt expropriierte Fürst wird auf die Rolle beschränkt:

1. durch Verhandlungen mit den Parteien den leitenden Mann auszuwählen und formal durch Ernennung zu legitimieren, im übrigen

2. als legalisierendes Organ der Verfügungen des jeweils leitenden Parteihaupts zu fungieren.

Das »Kabinett« der Minister, d.h. der Ausschuß der Mehrheitspartei, kann dabei material mehr monokratisch oder mehr kollegial organisiert sein; letzteres ist bei Koalitionskabinetten unumgänglich, ersteres die präziser fungierende Form. Die üblichen Machtmittel: Sekretierung des Dienstwissens und Solidarität nach außen dienen gegen Angriffe stellensuchender Anhänger oder Gegner. Im Fall des Fehlens materialer (effektiver) Gewaltenteilung bedeutet dies System die volle Appropriation aller Macht durch die jeweiligen Parteistäbe: die leitenden, aber oft weitgehend auch die Beamtenstellen werden Pfründen der Anhängerschaft: parlamentarische Kabinettsregierung.

 

Auf die Tatsachen- Darlegungen der glänzenden politischen Streitschrift W. Hasbachs [»Die parlamentarische Kabinettsregierung« (1919)] gegen dies System (fälschlich eine »politische Beschreibung« genannt) ist mehrfach zurückzukommen. Meine eigene Schrift über »Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland« [1918] hat ausdrücklich ihren Charakter als einer nur aus der Zeitlage heraus geborenen Streitschrift betont.

 

Ist die Appropriation der Macht durch die Parteiregierung nicht vollständig, sondern bleibt der Fürst (oder ein ihm entsprechender, z.B. plebiszitär gewählter, Präsident) eine Eigenmacht, insbesondere in der Amtspatronage (einschließlich der Offiziere), so besteht: konstitutionelle Regierung. Sie kann insbesondere bei formeller Gewaltenteilung bestehen. Ein Sonderfall ist das Nebeneinanderstehen plebiszitärer Präsidentschaft mit Repräsentativparlamenten: plebiszitär- repräsentative Regierung.

Die Leitung eines rein parlamentarisch regierten Verbandes kann andererseits schließlich auch lediglich durch Wahl der Regierungsbehörden (oder des Leiters) durch das Parlament bestellt werden: rein repräsentative Regierung.

Die Regierungsgewalt der Repräsentativorgane kann weitgehend durch Zulassung der direkten Befragung der Beherrschten begrenzt und legitimiert sein: Referendums-Satzung.

 

1. Nicht die Repräsentation an sich, sondern die freie Repräsentation und ihre Vereinigung in parlamentarischen Körperschaften ist dem Okzident eigentümlich, findet sich in der Antike und sonst nur in Ansätzen (Delegiertenversammlungen bei Stadtbünden, grundsätzlich jedoch mit gebundenen Mandaten).

2. Die Sprengung des imperativen Mandats ist sehr stark durch die Stellungnahme der Fürsten bedingt gewesen. Die französischen Könige verlangten für die Delegierten zu den Etats généraux bei Ausschreibung der Wahlen regelmäßig die Freiheit: für die Vorlagen des Königs votieren zu können, da das imperative Mandat sonst alles obstruiert hätte. Im englischen Parlament führte die (s.Z. zu besprechende) Art der Zusammensetzung und Geschäftsführung zum gleichen Resultat. Wie stark sich infolgedessen, bis zu den Wahlreformen von 1867, die Parlamentsmitglieder als einen privilegierten Stand ansahen, zeigt sich in nichts so deutlich wie in dem rigorosen Ausschluß der Öffentlichkeit (schwere Bußen für Zeitungen, die über die Verhandlungen berichteten, noch Mitte des 18. Jahrhunderts). Die Theorie: daß der parlamentarische Deputierte »Vertreter des ganzen Volkes« sei, das heißt: daß er an Aufträge nicht gebunden (nicht »Diener«, sondern eben – ohne Phrase gesprochen – Herr) sei, war in der Literatur schon entwickelt, ehe die französische Revolution ihr die seitdem klassisch gebliebene (phrasenhafte) Form verlieh.

3. Die Art, wie der englische König (und nach seinem Muster andere) durch die unoffizielle, rein parteiorientierte, Kabinettsregierung allmählich expropriiert wurde, und die Gründe für diese an sich singuläre (bei dem Fehlen der Bureaukratie in England nicht so »zufällige«, wie oft behauptet wird), aber universell bedeutsam gewordene Entwicklung sind hier noch nicht zu erörtern. Ebenso nicht das amerikanische plebiszitär-repräsentative System der funktionalen Gewaltenteilung, die Entwicklung des Referendums (wesentlich: eines Mißtrauensinstruments gegen korrupte Parlamente) und die in der Schweiz und jetzt in manchen deutschen Staaten damit kopulierte rein repräsentative Demokratie. Hier waren nur einige der Haupttypen festzustellen.

4. Die sog. »konstitutionelle« Monarchie, zu deren Wesenheiten vor allem die Appropriation der Amtspatronage einschließlich der Minister und der Kommandogewalt an den Monarchen zu zählen pflegt, kann faktisch der rein parlamentarischen (englischen) sehr ähnlich sein, wie umgekehrt diese einen politisch befähigten Monarchen keineswegs, als Figuranten, aus effektiver Teilnahme an der Leitung der Politik (Eduard VII.) ausschaltet. Über die Einzelheiten später.

5. Repräsentativ-Körperschaften sind nicht etwa notwendig »demokratisch« im Sinn der Gleichheit der Rechte (Wahlrechte) Aller. Im geraden Gegenteil wird sich zeigen, daß der klassische Boden für den Bestand der parlamentarischen Herrschaft eine Aristokratie oder Plutokratie zu sein pflegte (so in England).

 

Zusammenhang mit der Wirtschaft: Dieser ist höchst kompliziert und späterhin gesondert zu erörtern. Hier ist vorweg nur folgendes allgemein zu sagen:

1. Die Zersetzung der ökonomischen Unterlagen der alten Stände bedingte den Übergang zur »freien« Repräsentation, in welcher der zur Demagogie Begabte ohne Rücksicht auf den Stand freie Bahn hatte. Grund der Zersetzung war: der moderne Kapitalismus.

2. Das Bedürfnis nach Berechenbarkeit und Verläßlichkeit des Fungierens der Rechtsordnung und Verwaltung, ein vitales Bedürfnis des rationalen Kapitalismus, führte das Bürgertum auf den Weg des Strebens nach Beschränkung der Patrimonialfürsten und des Feudaladels durch eine Körperschaft, in der Bürger ausschlaggebend mitsaßen und welche die Verwaltung und Finanzen kontrollierte und bei Änderungen der Rechtsordnung mitwirken sollte.

3. Die Entwicklung des Proletariats war zur Zeit dieser Umbildung noch keine solche, daß es als politische Macht ins Gewicht gefallen wäre und dem Bürgertum gefährlich erschienen wäre. Außerdem wurde unbedenklich durch Zensuswahlrecht jede Gefährdung der Machtstellung der Besitzenden ausgeschaltet.

4. Die formale Rationalisierung von Wirtschaft und Staat, dem Interesse der kapitalistischen Entwicklung günstig, konnte durch Parlamente stark begünstigt werden. Einfluß auf die Parteien schien leicht zu gewinnen.

5. Die Demagogie der einmal bestehenden Parteien ging den Weg der Ausdehnung des Wahlrechts. Die Notwendigkeit der Gewinnung des Proletariats bei auswärtigen Konflikten und die – enttäuschte – Hoffnung auf dessen, gegenüber den Bürgern, »konservativen« Charakter veranlaßten Fürsten und Minister überall, das (schließlich:) gleiche Wahlrecht zu begünstigen.

6. Die Parlamente fungierten normal, solange in ihnen die Klassen von »Bildung und Besitz«: – Honoratioren also, – sozusagen »unter sich waren«, rein klassenorientierte Parteien nicht, sondern nur ständische und durch die verschiedene Art des Besitzes bedingte Gegensätze vorherrschten. Mit dem Beginn der Macht der reinen Klassenparteien, insbesondere der proletarischen, wandelte und wandelt sich die Lage der Parlamente. Ebenso stark aber trägt dazu die Bureaukratisierung der Parteien (Caucus-System) bei, welche spezifisch plebiszitären Charakters ist und den Abgeordneten aus einem »Herrn« des Wählers zum Diener der Führer der Parteimaschine macht. Davon wird gesondert zu reden sein.


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