Die Fabel in der Tragödie

Aus allen diesen Anmerkungen erhellt hinlänglich, auf wie vielerlei Art das Trauerspiel nützlich werden könne, wenn es nur gehörig behandelt wird. Man sieht aber auch zugleich, dass die glückliche Ausführung desselben nur von Männern zu erwarten sei, die über das gemeine Maß der Denkungsart erhaben sind. Niemand bilde sich ein, dass eine interessante Begebenheit, die ernsthafte Empfindung erweckt, ins kurze gezogen und auf der Schaubühne vorgestellt, eine gute Tragödie ausmache. Es wird dienlich sein, die Haupteigenschaften eines guten Trauerspiels hier in Betrachtung zu ziehen. Aristoteles hat sechs Punkte im Trauerspiel angemerkt, deren jeder eine besondere Betrachtung verdient. Die Fabel, die Sitten, die Schreibart, die Sittensprüche, die Veranstaltungen der Schaubühne, die Musik. Wir wollen von jedem besonders sprechen.

Von der Beschaffenheit des Inhalts oder dem tragischen Stoff, ist bereits gesprochen worden. Wir merken darüber nur noch dies einzige an, dass es ein großer Vorteil für den Dichter sei, wenn er einen bekannten Inhalt wählt. Er hat dann nicht nötig, die handelnden Personen so vieles, das der Handlung vorhergegangen, erzählen zu lassen; weil die Sachen dem Zuhörer schon bekannt sind. Bei etwas verwickelten Begebenheiten, ist es höchst schwer den Zuschauer, dem die Handlung noch ganz unbekannt ist, auf eine natürliche Weise in dem rechten Gesichtspunkt zu setzen. So sind in Corneilles Rodogüne die Erzählungen der Laodice, die diesen Endzweck haben, fast unausstehlich. Also kommt hier zuerst die Behandlung der Fabel in Betrachtung. Aristoteles verlangt zuerst davon, dass sie vollständig, ganz und von einer anständigen Größe sei.

Im Trauerspiel muss also eine Handlung zum Grund gelegt werden, das ist, es muss ein wichtiger Gegenstand da sein, der die Tätigkeit der handelnden Personen in einem hohen Grad reizt, Glück oder Unglück, großer Vorteil oder großer Schaden oder wie man sich mit einem Worte ausdruckt, ein wichtiges Interesse, an dem die handelnden Personen Anteil nehmen. Sie müssen nicht auf die Bühne kommen, um sich über geschehene oder zukünftige Dinge zu unterreden; denn dieses macht kein Schauspiel aus, sondern sie müssen etwas unternehmen, etwas, das sie wünschen, zu erhalten suchen oder etwas, das sie fürchten, zu hintertreiben. Denn dadurch werden nicht nur alle Seelenkräfte der handelnden Personen gereizt, sondern auch die Zuschauer werden in Aufmerksamkeit und Erwartung gesetzt.

Es muss nur ein solches Interesse zum Grunde liegen, das die Aufmerksamkeit beständig in der gehörigen Spannung unterhalte und der Zuschauer nur mit einem einzigen Gegenstand, der ihn ganz beschäftigt, zu tun habe. Es könnte nicht anders als schädlich sein, wenn der Zuschauer zwei wichtige Handlungen zugleich überdenken, und jeder in ihrer Entwicklung folgen müsste. Eine einzige beschäftigt ihn ganz, daher sind die Trauerspiele von doppelter Handlung als fehlerhaft in der Anlage zu verwerfen. Sie können große einzelne Schönheiten haben, aber einzelne Szenen machen kein Trauerspiel aus.

Die Handlung muss vollständig und ganz sein, das ist, man muss ihren Anfang und ihr Ende sehen. Wenn der Anfang mangelt, so ist der Zuschauer unruhig und ungeduldig zu wissen, warum die handelnden Personen in so großer Wirksamkeit sind. Kein Mensch kann sich enthalten, wenn er einen Zusammenlauf von Leuten sieht, die ein wichtiger Gegenstand beschäftiger, zu fragen, was die Ursache davon sei. So lang er diese nicht weiß, kann er das, was er sieht, nicht gehörig beurteilen. Die Begierde zu erfahren, wie dieser Handel angefangen habe, macht dass er weniger, auf das was geschieht, Achtung gibt. Erst alsdenn, wenn man die Ursache oder Veranlassung einer wichtigen Handlung weiß, hat man die Aufmerksamkeit völlig auf das gerichtet, was nun vorgeht.

Dieses ist nicht so zu verstehen, dass das Trauerspiel notwendig bei der ersten Veranlassung zur Handlung anfangen müsse. Denn dieses wäre vielmehr ein Fehler. Die Veranlassung gehört noch nicht zur Handlung selbst. Aber man muss sie dem Zuschauer zu wissen tun; zwar kann dieses geschehen wenn die Handlung schon angegangen, aber es muss bald geschehen. So fängt Sophokles seinen Ajax nicht damit an, dass er uns sehen lässt, aus welcher Ursache und wie er rasend wird, er ist es schon. Aber wir erfahren gleich, warum er es geworden und dieses ist der wahre Anfang der Handlung. Der Dichter, der seine Kunst versteht, eröffnet die Handlung gleich damit, dass er uns Personen sehen lässt, die eine große Angelegenheit beschäftigt. Dies fängt an, unsere Aufmerksamkeit zu reizen; denn unterrichtet er uns bald, welche Angelegenheit dieses ist und woher sie kommt, damit wir desto richtiger beurteilen können, was geschieht. Der Unterricht von der Veranlassung und den Ursachen der Handlung, den wir durch die handelnden Personen bekommen, wird die Ankündigung genannt, wobei verschiedenes zu bedenken ist, das wir in dem besonderen Artikel darüber näher bestimmt haben. So sehen wir in dem Oedipus in Theben des Sophokles, dass das ganze Volk mit großer Feierlichkeit und Trauer sich vor dem Palast ihres Königs versammelt. Dies ist der Anfang des Trauerspiels, aber nicht der Handlung. Wir erfahren aber bald aus dem Antrag des Priesters an den König, dass eine schreckliche Pest seit einiger Zeit in Theben herrscht, dass dieses verderbliche Übel eine Strafe der Götter sei, wegen des ungerochen gebliebenen Mordes des vorigen Königs, und dass das Volk kommt, wo möglich die Entdeckung des Mörders und seine Bestrafung zu bewirken, dieses ist der Anfang der Handlung.

Die Handlung muss ihr Ende haben; das ist so viel, es muss etwas geschehen, was auf einmal die Tätigkeit aller handelnden Personen hemmt oder überflüssig macht; etwas woraus klar erhellt, warum jetzt die Personen, die wir so beschäftigt gesehen, aufhören zu handeln. Dieses geschieht entweder, wenn sie ihren Endzweck erreicht haben oder in die Unmöglichkeit gesetzt worden, ihre Wirksamkeit in Absicht auf das Interesse der Handlung fortzusetzen. Dieses ist notwendig, weil sonst der Zuschauer in Ungewissheit über den Ausgang der Sache bleibt, welche ihm Nachdenken verursacht und seine Aufmerksamkeit von den Hauptgegenständen abzieht; weil er sonst einen großen Teil des Nutzens, den das Schauspiel ihm geben soll, vermisst, da er nicht sieht, was für einen Ausgang die Unternehmungen der handelnden Personen gehabt haben. Wenn man das Verhalten der Menschen bei Unternehmungen beurteilen soll, so muss man der Sache bis zum Ende nachgehen. Dieser Teil des Trauerspiels, in welchem die Handlung ihr Ende erreicht, heißt der Ausgang und wir haben, das was dabei zu merken ist, in einen besonderen Artikel vorgetragen.

Endlich gehört auch zur Vollständigkeit der Handlung, dass man den ganzen Verlauf der Sachen erfahre und über keinen Umstand in Ungewissheit bleibe, woher er gekommen oder was er in der Sache verändert habe; dass man den völligen Zusammenhang der Sachen erkenne und dass keine Wirkung vorkomme, deren Ursache verborgen geblieben. Denn sonst würde unser Urteil über die Sachen ungewiss und wir würden in zerstreuende Zweifel geraten.

Und hieraus lässt sich sehen, dass der Philosoph dessen Regeln wir hier erläutern, sie nicht ohne wichtige Gründe vorgeschrieben habe. Eben so verhält sichs auch mit dem, was er von der Größe sagt, die er nicht ausmisst, sondern bloß durch einen Fingerzeig angibt, indem er sagt, die Handlung müsse eine anständige Größe haben. In der Tat wird ein verständiger Dichter hierüber nicht lange in Ungewissheit sein. Eine Handlung die in wenig Minuten ihr Ende erreicht, schickt sich zu keinem Schauspiel, weil in so kurzer Zeit die Charaktere und Leidenschaften der handelnden Personen sich nicht sehr entwickeln können und weil es überhaupt angenhemer ist, einen interessanten Gegenstand so lange zu verfolgen, dass man einigermaßen gesätigt wird. Die Dauer der Handlung, nämlich des bloßen Zuschauens derselben muss wenigstens eine Stunde einnehmen, weil sie sonst die Begierde mehr reizen als befriedigen würde.

Auf der anderen Seite aber muss sie auch nicht von einer ermüdenden Länge sein. Das beste Schauspiel, das unsere Aufmerksamkeit in beständiger Spannung hält, und das muss das Trauerspiel tun, dürfte nicht über drei Stunden währen, so würde es uns gewiss ermüden; auch die Schauspieler könnten es schwerlich mit dem nötigen Feuer länger aushalten.

Aus diesen Schranken, die wir aus guten Gründen der Dauer des Schauspiels setzen, lässt sich nun die Größe der Handlung abnehmen. Wenn alles natürlich und ungezwungen sein soll, welches in allen Werken der Kunst eine Haupteigenschaft ist, so kann die Handlung keine größere Ausdehnung in der Zeit haben als ohne Zwang in der Dauer des Spiels vorgestellt werden kann. Allein eine Handlung von irgend einer Wichtigkeit, ist selten so kurz. Man nimmt es deswegen auch nicht so sehr genau und setzt zum voraus, dass der Zuschauer, der mit dem beschäftigt ist, was er vor sich sieht, den, was außer der Szene geschieht, die Zeit eben nicht genau vorrechne. Man findet sich eben nicht sehr beleidiget, dass eine Person, die etliche Minuten lang von der Szene weggewesen und nun wieder kommt, inzwischen etwas verrichtet habe, wozu eine drei oder viermal längere Zeit als ihre Abwesenheit gedauert hat, erfordert wird. Daher kommt es, dass oft Handlungen vorgestellt werden, die natürlicher Weise einen ganzen Tag wegnehmen müssten. Die Alten sind aber in diesem Stück genauer gewesen als wir sind. Viele von ihren Trauerspielen sind so, dass die ganze Handlung auch in der Natur währender Zeit der Vorstellung hätte geschehen können, wiewohl sie doch auch nicht ohne alle Überschreitung des Maßes sind. Dass sich die Neueren hierin mehr Freiheit erlaubt haben, mag meistenteils daher kommen, dass sie sich nicht getrauen, ohne viel Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Zufälle unterhaltend genug zu sein. Dieses trauten sich die Griechen zu und konnten es auch. Es gibt bei ihnen Trauerspiele, die höchst einfach und doch höchst unterhaltend sind, wo die Handlung durch viele Szenen sehr wenig fortrückt, der Zuschauer aber in beständig lebhafter Wirksamkeit ist.

Dass Shakespear, der größte tragische Dichter unter den Neuern, sowohl diese als manche andere Regel übertreten und doch gewußt hat, zu gefallen, beweißt nichts dagegen. Wenn er zu dem großen Verdienst, das er wirklich hat, noch die Beobachtung der Regeln auch hinzugetan hätte, so wäre er noch größer und würde noch mehr gefallen. Ein gothisches Gebäude kann einige sehr gute Partien haben, deswegen ist es doch ein Werk, dass im Ganzen ohne Geschmack ist. Viel Gemälde von Rembrand sind in einigen Stücken bewunderungswürdig, sonst aber jedem Menschen von Geschmack unausstehlich. Indessen wollen wir gar nicht behaupten, dass nur das Trauerspiel gut sei, das nach den Regeln der Alten behandelt wird: aber diese Behandlung halten wir überhaupt für die Beste. So viel von der Beschaffenheit der Handlung.

 


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