Der Schutzmann


Der Wiener Hofoperndirektor Gregor aus Berlin hat einem Berliner Interviewer aus Wien gesagt, dass er bis 1921 bleiben werde. Aber nicht genug daran:

Ich bin sogar fest überzeugt davon, dass ich noch länger bleibe. Unter meinen Vorgängern hat sich Jahn am längsten gehalten — so etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre. Ich gedenke diesen Rekord zu schlagen.

Rekordsucht pflegt Titanic-Katastrophen herbeizuführen. Aber wenn sich die Wiener Hofbehörde solche Zuversicht gefallen läßt, dann ist diese gewiß berechtigt. Herr Gregor findet, dass die Wiener Oper das erste Institut der Welt sei. Und warum?

Ein Orchestermitglied kann zwei Jahre, ein Solosänger sechs Monate krank sein, ohne sich der Gefahr einer Kündigung auszusetzen.

Außerdem versichert Herr Gregor, dass er »nicht rechts und nicht links sehe«. Das ist gewiß vorsichtig von einem Theaterdirektor, weil er sonst leicht bemerken könnte, dass rechts und links kein Publikum sitzt. Herr Gregor versichert auch, dass er — nicht ohne last not least — in kein Kaffeehaus gehe. Das ist sein gutes Recht und es ist sehr anständig, dass er hinzusetzt: »ohne den Wienern den Besuch des Kaffeehauses zu verleiden oder ihn den Wienern abgewöhnen zu wollen«. Von verleiden kann keine Rede sein, da Herr Gregor eben in kein Kaffeehaus kommt, und abgewöhnen "könnte er es den Wienern doch auch nur vielleicht dann, wenn er ins Kaffeehaus ginge. So aber könnte es ihm keineswegs gelingen. Es ist eine eingewurzelte Wiener Sitte, die Leute, die in den Wiener Kaffeehäusern sitzen, sind wohl zumeist recht unangenehm, aber die Kellner verstehen immerhin etwas vom Theater und es ist gerade kein Gewinn, dass Herr Gregor ihren Verkehr meidet. Herr Gregor betont nachdrücklich, dass er »auf Ordnung halten« wolle. Das ist bekannt. Mit den Wienern, soweit sie sich das Kaffeehausleben nicht abgewöhnen lassen oder die Passion haben, auf der Straße herumzutorkeln, wird er keine besonderen Resultate erzielen. Aber er hat es sich ja auch nicht zur Aufgabe gemacht, das Chaos vor der Oper zu regeln, sondern er will, dass gerade jene Leute in Wien, von denen man eher Stimme als Ordnung verlangt, links, bitte links gehen. Er erklärt, dass Kopfweh kein Grund zur Absage sei. Es ist ja gewiß richtig, dass ein Sänger nur den Kehlkopf für seine Arbeit braucht, aber immerhin ist der Vergleich, zu dem sich Herr Gregor gereizt fühlt, hart genug:

Sie sind Journalist. Haben Sie noch nie Ihren schweren, verantwortungsvollen Beruf mit Kopfschmerzen, mit körperlichem Unbehagen erfüllt?

Gewiß geht es bei der Zeitung auch mit Kopf schmerzen, aber wenn der Journalist auch keine hat, das körperliche Unbehagen hat doch der Leser, besonders wenn er ein Interview mit Herrn Gregor liest. Der Hörer ist anspruchsvoller. Sonst findet Gegor noch die geographische Lage von Wien ungünstig, will aber dafür nicht verantwortlich sein. Hier Ordnung zu schaffen ist er nicht imstande. Es ist aber zu befürchten, dass er bis 1921 und darüber hinaus auch nicht imstande sein wird, Tenoristen und Balleteusen an Mannszucht zu gewöhnen. Es ist eben ein verzweifelter Ehrgeiz, die Ordnung in jenem einzigen Winkel des Wiener Lebens herstellen zu wollen, wo man sie nicht vermißt. Die Sänger und Tänzer hierzulande sind nicht laxer als die von Berlin. Herr Gregor vergeudet seine Kraft. Man braucht ihn vor der Oper. Er wird, selbst wenn ihm der angesagte Rekord gelingt, nichts erreichen. Dagegen erfordert es das Prinzip der Nibelungentreue, dass man endlich einen Wiener Schutzmann nach Berlin sendet. Auf die dortigen Opernverhältnisse würde er nicht Einfluß nehmen, aber binnen einer Woche muß es ihm gelingen, die Unordnung unter den Linden herzustellen.

 

 

Mai, 1913.


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