Herr Wittmarin und die Wollust


»Wenn beispielsweise die käufliche Liebe in ihrer abschreckenden Naturtreue wie sie nächtens durch die Gassen streicht und frech ihre Ware feilbietet, mit kühnster Deutlichkeit im Buch oder auf der Bühne dargestellt wird, da sträuben sich gar manchem Leser oder Zuschauer die Haare, vorausgesetzt dass ihm, der gewöhnlich den älteren Jahrgängen angehört, das Leben noch etliche Haare gelassen hat ....

Nun war auch eines jener Häuser, hinter deren Wänden diese Unglücklichen wie in Pferchen zusammenleben, für die Literatur erobert worden. Diese Häuser tragen einen bestimmten Namen, aber ihn auszusprechen, ihn niederzuschreiben, hindert uns eine gewisse Scheu, ein letzter Nachhauch jener kleinbürgerlichen Schamhaftigkeit, in der sich einst alle gesitteten Menschenkinder befangen fühlten. Nach und nach wird auch dieser schäbige Rest sich verflüchtigen, und dann kann es ja morgendlich aufgehen, das goldene Zeitalter ... doch nein, es ist wieder nicht das richtige Wort. Golden, ja, insofern nur das Gold der blonden Chrysis gemeint ist; aber deutlicher, sinngemäßer heiße es das kotige Zeitalter, für welches das Grunztier mit dem Rüssel als weltbeherrschendes Symbol vorzuschlagen wäre ... Lulu wird uns als unwiderstehliches Weibchen geschildert, mit allen erdenklichen Reizen bewehrt. Schwellende Lippen, schwebender Gang. Augen mit seraphischem Blick. Einer ihrer Lieb- haber übersetzt ihre Schönheiten ins Musikalische. Er empfindet ihren Wuchs wie eine Symphonie und detailliert ihn von unten herauf: diese Knöchel »ein Cantabile«; diese Knie, »ein Capriccio« (wenn das nur nicht auf X-Beine hindeutet!), das Ganze ein »gewaltiges Andante der Wollust« ...

Schade nur, dass die Zensur das zweite Stück hinter verschlossene Türen bannte und so dem großen Publikum die Gelegenheit raubte, sein Urteil klar und deutlich auszusprechen Wir sind überzeugt, es hätte sich nicht verblüffen, durch den Vorwurf der Rückständigkeit sich nicht einschüchtern lassen, sondern bei aller Anerkennung eines großen, höchst persönlichen, leider verirrten und beinahe selbstmörderischen Talents sein Richteramt mit unerbittlicher Strenge ausgeübt. Und dann fort aus der Umgebung dieser Kloake, fort in reinere Luft! * * *

Wenn die Bucheinsicht eingeführt sein wird, dann wird sich's ja herausstellen, dass der Herausgeber des Blattes, in dem diese Sätze gedruckt sind, allein an den Bordellannoncen — die Scheu des Herrn Wittmann hindert mich nicht — jährlich ein paar Tausender verdient.

 

 

März, 1913.


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