Von den Schwätzern


... Es ist nämlich ein Gesetz in Kraft getreten, das dem Klatsch ein Ende machen soll. Seltsamerweise hat es zunächst nicht etwa eine Angehörige des zarten Geschlechts, sondern einen Mann ereilt ... der sich in einem Wirtshausgespräch mit einer jungen Dame seiner Bekanntschaft beschäftigt hatte. Er wird in der juristischen Terminologie des »eitlen, unnützen Schwatzens und Klatsches« beschuldigt ...

Aber zum Glück in Wisconsin, nicht bei uns in Wien! Der Verhaftete ist ein gewisser Peter Kesoki in Niagara und nicht etwa der Herr, der noch immer vom Donaukarpfenklub der Obergigerl ist. Die ›Frankfurter Zeitung‹ nennt es »eine wahre Hiobspost für Kaffeekränzchen und verwandte Veranstaltungen«. Aber die reine Geistigkeit und Zweckunterhaltung der Kaffeekränzchen sollte man doch nicht mehr in Verruf bringen in einer Zeit, wo die ganze Welt ein Wiener Café ist. Gar so seltsam ist es nicht, dass sogar am Niagara kein Weib, sondern ein Mann des unnützen Schwätzens überwiesen wurde. Die Weiber reden über das Wahlrecht und das hört sich, wenns auch auf dasselbe hinausläuft, beiweitem ernsthafter an als die Gespräche über den Koitus, die die Männer führen. Aber in Wisconsin kann man die Männer, die schwätzen, vielleicht noch genau so zählen wie die Männer, die stehlen. In Österreich fängt man die Diebe nicht, sonst wäre Raummangel in den Gefängnissen. Wo aber sollte man mit den Schwätzern hin? Man hat sie zur Not in den Kaffeehäusern untergebracht. Ich habe seit Jahr und Tag aus der Wiener Außenwelt nichts anderes vernommen, als dass der Mann, der eben sprach, die Frau, die eben vorbeigegangen war, schon gehabt hat, demnächst haben werde, haben könnte, wenn er wollte, dass er aber nicht will, weil sie schon ein anderer Stammgast gehabt hat, dem er aber dafür eine andere wegnehmen wolle, die es nicht länger erwarten könne und schon auf ihn spitze und die er nur anzurufen brauche und nur, weil das Telephon immer besetzt sei, noch nicht gehabt habe. Das erzählen die am Stammtisch nicht nur einander, sondern so laut, dass es die am Nebentisch hören, die auch ihrerseits aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wohl aber ein Bordell machen. Es ist die einzige Wissenschaft, deren der Mensch von heute fähig ist, und ein Gesetz, das den Klatsch verbietet, schützt nicht nur das Rechtsgut der Ehre, sondern das Lebensgut der reinen Luft. Nicht die Beleidigung werde gestraft, sondern das Wissen und Sagen. Daneben gibt es aber auch Leute, die sich weit und breit, mit einer Stimme, die jedes Geheimnis zersägt, dadurch vernehmlich machen, dass sie auch das, was sie nicht wissen, nicht bei sich behalten können. Dieses Geheimnis, das letzte, das der keusche Mensch hat, sollte er bewahren, aber er tut es nicht. Nein, er tut es nicht; denn er weiß alles. So einer zieht sein Erlebnis aus den vielen Menschen, die er nicht gelesen, und aus den vielen Büchern, mit denen er nicht gesprochen hat. Er wurde aus Bibliotheksstaub geschaffen und Gott unterließ es, ihm den Odem einzublasen. Lebt aber ein Mensch in seiner Nähe, der Schöpferkraft hat, so zerfällt jener und wird wieder zum Staube. Aber selbst so einer findet in der Stadt, die von Gerüchten satt wird, noch Lauscher, denn erzählt er nicht von Jakob Böhme, so erzählt er doch von seinem Schuster, der die einzig echten Siebenmeilenstiefel erzeuge, mit denen man zugleich dem Papst und dem Dalai-Lama einen Besuch abstatten, der Eröffnung von Bayreuth und dem Tod Nietzsches beiwohnen könne und von der Wüste Gobi in einer schwachen Stunde beim Hayek in Mödling sei. Und wenn er diese Betrachtung liest, so wird er unfehlbar sagen, zu seiner Zeit, als er sich noch in Wisconsin aufhielt, sei das Schwätzen noch erlaubt gewesen, den Peter Kesoki, oh, den habe er sehr gut gekannt, er sei mit ihm durch den Niagara geschwommen, er sei aber besser geschwommen als der Peter Kesoki, weil er so vorsichtig gewesen sei, seine dreihundert Bibliotheksgurten umzuhängen, es sei kein Wunder, dass der Kraus jetzt den Peter Kesoki angreife, denn dieser habe einmal gesagt, dass der Kraus eitel sei, und infolge dieser ungünstigen Auskunft ist der Kraus nicht in die Neue Freie gekommen.

 

 

Oktober, 1913.


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