Erster Grundsatz:
Preisgabe aller eigenen Ansichten und Überzeugungen


Ehe man das Haus, in dem man wohnt, von neuem aufzubauen beginnt, muß man es nicht bloß niederreißen und sich Material und Bauleute besorgen oder sich selbst in der Baukunst üben und außerdem auch den Grundriß sorgfältig gezeichnet haben, sondern man muß auch ein anderes Haus haben, wo man solange, als hier gearbeitet wird, bequem wohnen kann. Um also in meinen Handlungen nicht unentschlossen zu bleiben, solange die Vernunft mich verpflichten würde, es in meinen Urteilen zu sein, und um so glücklich wie möglich weiterzuleben, bildete ich mir vor der Hand eine Moral nur aus drei oder vier Grundsätzen, die ich euch gern mitteilen will.

Der erste war, den Gesetzen und Sitten meines Vaterlandes zu gehorchen, die Religion standhaft beizubehalten, in der von meiner Kindheit an belehrt zu werden Gott mir die Wohltat erwiesen hat, in allen übrigen Dingen mich nach den mäßigsten und von dem Übermaß entferntesten Ansichten zu richten, die unter den Leuten meines Umgangs die Verständigsten in ihre Handlungsweise gemeiniglich würden aufgenommen haben. Hatte ich damit begonnen, meine eigenen Ansichten für nichts gelten zu lassen, weil ich sie alle der Prüfung anheim geben wollte, so war ich sicher, dass es das beste sei, den Ansichten der Verständigsten zu folgen. Und wenn es auch vielleicht ebenso verständige Leute unter den Persern oder Chinesen geben mag wie unter uns, so schien es mir doch am nützlichsten, mich nach denen zu richten, mit welchen ich umgehen würde, und dass, um ihre wirklichen Ansichten zu erfahren, ich mehr auf ihre Handlungen als auf ihre Worte achten müßte, nicht bloß, weil es bei der heutigen Sittenverderbnis wenig Leute gibt, die alles sagen wollen, was sie glauben, sondern auch, weil viele es selbst gar nicht wissen, denn die Geistestätigkeit, wodurch man etwas glaubt, ist von der verschieden, wodurch man erkennt, dass man diesen Glauben hat, und so ist oft die eine ohne die andere. Und unter mehreren Ansichten von gleichem Ansehen wählte ich nur die gemäßigtsten: einmal, weil sie stets für die Praxis die bequemsten und wahrscheinlich die besten sind, denn alles Übermaß ist in der Regel schlecht; dann auch, um im Fall des Fehlgriffs mich von dem wahren Weg weniger abzuwenden, als wenn ich das eine Extrem ergriffen hätte, während ich das andere hätte ergreifen sollen. Und besonders rechnete ich zum Übermaß alle Versprechungen, wodurch man etwas an seiner Freiheit aufgibt. Nicht, dass ich die Gesetze tadelte, die der Unbeständigkeit schwacher Geister zu Hilfe kommen wollen und deshalb zulassen, wenn man eine gute oder auch für die Sicherheit des Verkehrs eine nur gleichgültige Absicht hat, dass man Gelübde oder Verträge macht, die zum Beharren verpflichten, sondern, weil ich nichts in der Welt in demselben Zustande bleiben sah, und weil, was mich insbesondere betrifft, ich mir das Versprechen gegeben hatte, meine Urteile immer mehr zu vervollkommnen, nicht aber sie zu verschlechtern. So hätte ich gemeint, einen großen Fehler gegen die gesunde Vernunft zu begehen, wenn ich deshalb, weil ich einmal irgendeine Sache gutgeheißen, mich verpflichtet hätte, sie auch dann noch für gut zu achten, nachdem sie aufgehört, es zu sein, oder ich aufgehört, sie dafür zu halten.


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Seite zuletzt aktualisiert: 21.12.2006 
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