Verlust des Nimbus
Aber der Nimbus gründet sich nicht allein auf das persönliche Ansehen, den militärischen Ruhm und die religiöse Angst, er kann auch einen unbedeutenderen Ursprung haben und doch noch beträchtlich sein. Das neunzehnte Jahrhundert bietet uns mehrere Beispiele dafür. Das eine, woran die Nachwelt von Zeit zu Zeit erinnert wird, ist in der Geschichte des berühmten Mannes gegeben, der das Antlitz der Erde und die Handelsbeziehungen der Völker änderte, indem er zwei Erdteile voneinander trennte. Sein Unternehmen gelang ihm durch seinen ungeheuren Willen, aber auch durch den Zauber, den er auf seine ganze Umgebung ausübte. Um die einstimmige Gegnerschaft, die er vorfand, zu besiegen, brauchte er sich nur zu zeigen, einen Augenblick zu sprechen, und die Gegner wurden durch den Zauber, der von ihm ausging, seine Freunde. Die Engländer bekämpften sein Vorhaben besonders wütend; er brauchte nur in England zu erscheinen, um alle Stimmen für sich zu gewinnen. Als er später durch Southampton kam, läuteten die Glocken während seiner Durchreise. Als er alles besiegt hatte, Menschen und Dinge, glaubte er nicht mehr an Hindernisse und wollte in Panama mit denselben Mitteln Suez wiederholen. Aber der Glaube, der Berge versetzt, versetzt sie nur, wenn sie nicht zu hoch sind. Die Berge widerstanden und die daraus folgende Katastrophe zerstörte die leuchtende Ruhmesglorie, die den Helden umgab. Sein Leben lehrt, wie der Einfluß wachsen und vergehen kann. Nachdem er den größten Helden der Geschichte gleichgekommen, wurde er von der Obrigkeit seines Landes zum gemeinen Verbrecher gestempelt. Nach seinem Tode wurde sein Sarg einsam durch gleichgültige Massen getragen. Nur die Herrscher des Auslandes ließen seinem Andenken Ehre widerfahren.*)
Jedoch die verschiedenen Beispiele, die angeführt wurden, stellen nur Grenzfälle dar. Zur genauen Begründung der Psychologie des Nimbus müßten sie an das Ende einer Reihe gestellt werden, die von den Begründern der Religionen und Staaten bis zum Kleinbürger reicht, der durch einen neuen Anzug oder eine Auszeichnung auf seine Nachbarn Eindruck zu machen sucht.
Zwischen den äußersten Gliedern dieser Reihe liegen alle Arten des Nimbus auf den verschiedenen Kulturgebieten: der Wissenschaft, der Künste, der Literatur usw., und es zeigt sich, dass er den Grundstoff der Überzeugung bildet. Das Wesen, die Idee oder die Sache, von denen der Nimbus ausgeht, werden infolge ihrer ansteckenden Wirkung sofort nachgeahmt und bestimmen für ein ganzes Menschenalter die Art des Fühlens und die Form des Gedankenausdrucks. Überdies geschieht die Nachahmung meistens unbewußt, und das macht sie vollkommen. Die modernen Maler, welche die verwischten Farben und die starre Haltung gewisser Primitiver erneuern, haben keine Ahnung von der Quelle ihrer Begeisterung, sie glauben so sehr an ihre Ursprünglichkeit, dass man an ihnen auch weiterhin nur die naiven und unfertigen Seiten bemerkt haben würde, wenn nicht ein hervorragender Meister diese Kunstform wiedererweckt hätte. Die, welche nach dem Muster eines berühmten Neuerers ihre Leinwand mit violetten Schatten bedecken, sehen in der Natur nicht mehr Violett, als man vor fünfzig Jahren sah, aber sie unterliegen dem besonderen, persönlichen Eindruck eines Malers, der einen großen Nimbus zu erlangen wußte. Aus allen Gebieten der Kunst lassen sich leicht derartige Beispiele anführen.
Man ersieht aus dem Vorhergehenden, dass an der Entstehung des Nimbus zahlreiche Faktoren beteiligt sein können. Einer der bedeutendsten war stets der Erfolg. Jeder Mensch, der Erfolg hat, jede Idee, die sich durchsetzt, wird damit schon anerkannt.
Der Nimbus verschwindet immer im Augenblick des Mißerfolges. Der Held, dem die Masse gestern zujubelte, wird morgen von ihr angespien, wenn das Schicksal ihn schlug. Je größer der Nimbus, um so heftiger der Rückschlag. Die Masse betrachtet dann den gefallenen Helden als ihresgleichen und rächt sich dafür, dass sie sich einer Überlegenheit gebeugt hat, die sie nicht mehr anerkennt. Als Robespierre seinen Kollegen und einer ganzen Anzahl seiner Zeitgenossen den Hals abschneiden ließ, besaß er einen ungeheuren Nimbus. Die Verschiebung weniger Stimmen beraubte ihn augenblicklich dieses Nimbus, und die Masse folgte ihm mit ebenso vielen Verwünschungen zur Guillotine wie am Tage zuvor seinen Opfern. Die Gläubigen zertrümmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer früheren Götter.
Durch Mißerfolg aufgehoben, ist der Nimbus schnell verloren. Er kann sich auch abnutzen, indem man ihn diskutiert; das geht langsamer, aber sicher. Der diskutierte Nimbus ist kein Nimbus mehr. Die Götter und Menschen, die ihren Nimbus lange zu bewahren wußten, haben Erörterungen nie geduldet. Wer von den Massen bewundert sein will, muß sie stets in Abstand halten.
___________________
*) Ein ausländisches Blatt, die Wiener "Neue Freie Presse", hat gelegentlich des Schicksals von Lesseps sehr scharfsinnige psychologische Bemerkungen gemacht, die daher hier mitgeteilt seien:
"Nach der Verurteilung Ferdinands von Lesseps hat man kein Recht mehr, sich über das traurige Ende von Christoph Columbus zu wundern. Ist Lesseps ein Gauner, dann ist jede edle Täuschung ein Verbrechen. Das Altertum hätte das Andenken von Lesseps mit einer Ruhmesglorie bekränzt und ihn im Olymp den Nektarbecher leeren lassen, denn er hat das Antlitz der Erde verändert und Werke ausgeführt, die die Schöpfung vervollkommnen. Durch die Verurteilung von Lesseps hat sich der Präsident des Appellationsgerichtes unsterblich gemacht, denn stets werden die Völker den Namen des Mannes verlangen, der nicht fürchtete, sein Jahrhundert dadurch zu erniedrigen, einen Greis mit Sträflingsjacke zu bekleiden, dessen Leben der Ruhm seiner Zeitgenossen war." "Man rede uns hinfort nicht von unbeugsamer Gerechtigkeit, dort, wo bürokratischer Haß gegen alle kühnen, großen Unternehmungen herrscht. Die Völker bedürfen der wagemutigen Männer, die an sich selbst glauben und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Ich alle Hindernisse bewältigen. Das Genie kann nicht vorsichtig sein, mit Vorsicht könnte es den Kreis menschlicher Betätigung nie erweitern.
... Ferdinand von Lesseps hat den Rausch des Triumphs und die Bitterkeit der Enttäuschungen gekannt: Suez und Panama. Hier empört sich das Gemüt gegen die Moral des Erfolges. Als es Lesseps gelang, zwei Meere zu verbinden, da erwiesen ihm Fürsten und Völker Ehre; heute, da er an den Felsen der Cordilleren Schiffbruch leidet, ist er ein gemeiner Gauner. Es ist der Krieg der Gesellschaftsklassen, die Unzufriedenheit der Bürokraten und Beamten, die sich mittels des Strafgesetzes an denen rächen, die sich über die andern erheben möchten. Die modernen Gesetzgeber sind in Verlegenheit angesichts dieser gewaltigen Ideen des Menschengeistes, das Publikum versteht davon noch weniger, und es fällt einem Staatsanwalt leicht, zu beweisen, dass Stanley ein Meuchelmörder und Lesseps ein Betrüger sei."