Bildung von Legenden
Um aber auf die Beobachtungen zurückzukommen, die von den Massen gemacht werden, so können wir daraus schließen, dass die Kollektivbeobachtungen die verfehltesten von allen sind, und dass sie meistens nur die einfache Täuschung eines einzelnen sind, die durch Übertragung alle andern beeinflußt hat. Unzählige Fälle beweisen, dass man gegen die Zeugenschaft der Masse das größte Mißtrauen hegen muß. Tausende von Menschen erlebten den berühmten Reiterangriff der Schlacht bei Sedan, und doch ist es unmöglich, aus den widersprechenden Berichten von Augenzeugen festzustellen, von wem er kommandiert wurde. Der englische General Wolseley hat in einem neuen Buch den Beweis erbracht, dass man bis jetzt über die wichtigsten Ereignisse der Schlacht bei Waterloo, obwohl Hunderte von Zeugen sie beglaubigt hatten, in größtem Irrtum befangen war.*)
All diese Beispiele zeigen, ich wiederhole es, wie wenig Wert die Zeugenschaft der Massen hat. Die Lehrbücher der Logik zählen die Übereinstimmung zahlreicher Zeugen zur Klasse der sichersten Beweise, die man zur Erhärtung einer Tatsache erbringen kann. Aber was wir von der Psychologie der Massen wissen, zeigt, wie sehr sie sich in diesem Punkte täuschen. Die Ereignisse, die von der größten Anzahl von Personen beobachtet wurden, sind sicher am zweifelhaftesten. Zu erklären, eine Tatsache sei von Tausenden von Zeugen gleichzeitig festgestellt worden, heißt erklären, dass das wirkliche Ereignis von dem angenommenen Bericht im allgemeinen erheblich abweicht.
Aus dem Vorstehenden folgt klar, dass die Geschichtswerke als reine Phantasiegebilde zu betrachten sind. Es sind Phantasieberichte schlecht beobachteter Ereignisse nebst nachträglich ersonnenen Erklärungen. Hätte uns die Vergangenheit nicht ihre Literaturdenkmäler, ihre Kunst- und Bauwerke hinterlassen, so wüßten wir nicht die geringste Tatsache von ihr. Kennen wir ein einziges wahres Wort über das Leben der großen Männer, die in der Menschheit eine hervorragende Rolle spielten? Höchstwahrscheinlich nicht. Im Grunde hat übrigens ihr tatsächliches Leben recht wenig Interesse für uns. Die legendären Helden, nicht die wirklichen Helden haben Eindruck auf die Massen gemacht.
Leider sind die Legenden selbst nicht von Dauer. Die Phantasie der Massen formt sie je nach den Zeiten und den Rassen um. Vom grausamen Jehova der Bibel bis zum Gott der Liebe der heiligen Therese ist ein großer Schritt, und der in China verehrte Buddha hat mit dem in Indien angebeteten keinen Zug gemein.
Es bedarf nicht des Ablaufs von Jahrhunderten, damit sich die Heldenlegende in der Phantasie der Massen wandelt; diese Wandlung erfolgt oft innerhalb weniger Jahre. Wir haben in unsern Tagen erlebt, wie sich die Legende eines der größten Helden der Geschichte in weniger als fünfzig Jahren wiederholt verändert hat. Unter den Bourbonen wurde Napoleon zu einer idyllischen, menschenfreundlichen und freisinnigen Persönlichkeit, einem Freunde der Armen, die, wie der Dichter sagt, sein Andenken in ihrer Hütte für lange Zeit bewahren würden. Dreißig Jahre später war der gutmütige Held zu einem grausamen Despoten geworden, zu einem Usurpator von Macht und Freiheit, der drei Millionen Menschen nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes geopfert hatte. Gerade jetzt wandelt sich die Legende wieder. Wenn einige Dutzend Jahrhunderte darüber hingegangen sind, werden die zukünftigen Forscher angesichts dieser widersprechenden Berichte vielleicht das Dasein des Helden bezweifeln, wie wir bisweilen das Dasein Buddhas bezweifeln, und werden dann in ihm nur einen Sonnenmythus oder eine Fortentwicklung der Herkulessage erblicken. Zweifellos werden sie sich über diese Ungewißheit leicht trösten, denn da sie eine bessere psychologische Erkenntnis haben werden als wir heutzutage, so werden sie wissen, dass die Geschichte nur Mythen zu verewigen vermag.
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*) Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht, wie sie sich wirklich abgespielt hat? Ich zweifle sehr daran. Wir kennen Sieger und Besiegte, aber wahrscheinlich weiter nichts. Was d'Harcourt über die Schlacht von Solferino berichtet, die er teils mitgemacht und teils gesehen hat, läßt sich auf alle Schlachten anwenden: "Die Generäle (natürlich durch Hunderte von Aussagen unterrichtet) setzen ihre offiziellen Berichte auf; die mit der Verbreitung der Berichte betrauten Offiziere ändern diese Schriftstücke und setzen die endgültige Fassung fest; der Generalstabschef kritisiert und erneuert sie nochmals. Man bringt sie Zum Feldmarschall, er ruft: 'Sie befinden sich in einem völligen Irrtum!' und nimmt eine neue Überarbeitung vor. Von dem ursprünglichen Bericht bleibt fast nichts stehen." D'Harcourt erzählt dies als Beweis der Unmöglichkeit, die Wahrheit über das packendste und aufs genaueste beobachtete Ereignis festzustellen.