2. Die sogenannten verbrecherischen Massen


Da nach einer bestimmten Erregungszeit die Massen in den Zustand einfacher, unbewußter Automaten zurückfallen, die von Beeinflussungen abhängig sind, so scheint es schwierig zu sein, sie in irgendeinem Falle als verbrecherisch zu bezeichnen. Ich behalte jedoch diese irrige Bezeichnung bei, weil sie durch die psychologischen Forschungen üblich geworden ist. Gewisse Handlungen der Masse sind, an sich betrachtet, sicherlich verbrecherisch, aber doch nur in demselben Sinne, wie die Tat eines Tigers, der einen Hindu verschlingt, nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassen.

Die Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion, und die einzelnen, die daran teilnahmen, sind hinterher davon überzeugt, einer Pflicht gehorcht zu haben. Das ist beim gewöhnlichen Verbrecher durchaus nicht der Fall.

Die Geschichte der Verbrechen, die durch die Massen begangen wurden, läßt dies klar erkennen.

Als bezeichnendes Beispiel kann man die Ermordung des Gouverneurs der Bastille, du Launay, anführen. Nach der Eroberung dieser Festung hagelten von allen Seiten aus der aufs äußerste gereizten Menge, die ihn umgab, Hiebe auf den Gouverneur. Man schlug vor, ihn zu hängen, zu enthaupten oder an den Schweif eines Pferdes zu binden. Bei dem Versuch, sich zu befreien, versetzte er einem der Umstehenden versehentlich einen Fußtritt. Da machte jemand den Vorschlag — dem die Menge sofort zujauchzte — der Getretene solle dem Gouverneur den Hals abschneiden.

"Dieser, ein stellenloser Koch, der halb und halb aus Neu-gierde nach der Bastille gegangen war, um zu sehen, was dort vorging, glaubt, weil dies die allgemeine Ansicht ist, die Tat sei patriotisch, und glaubt sogar, eine Auszeichnung zu verdienen, wenn er ein Ungeheuer tötet. Man gibt ihm einen Säbel, mit dem er auf den bloßen Hals losschlägt; da aber der schlechtgeschliffene Säbel nicht schneidet, zieht er ein kleines Messer mit schwarzem Heft aus der Tasche und vollendet (da er als Koch Fleisch zu bearbeiten weiß) erfolgreich seine Operation."

Hier zeigt sich klar der früher festgestellte Mechanismus: Gehorsam gegen einen Einfluß, der um so mächtiger wirkt, weil er einer Gesamtheit entstammt, die Überzeugung des Mörders, damit eine äußerst verdienstvolle Tat getan zu haben, eine Überzeugung, die um so natürlicher ist, da er auf die einmütige Zustimmung seiner Mitbürger rechnen kann. Eine derartige Tat kann vielleicht gesetzlich, aber nicht psychologisch als Verbrechen bezeichnet werden. Die allgemeinen Merkmale der sogenannten verbrecherischen Massen sind genau dieselben, die wir bei allen Massen festgestellt haben: Beeinflußbarkeit, Leichtgläubigkeit, Überschwang der guten und schlechten Gefühle, das Hervortreten gewisser Formen der Sittlichkeit usw.

Alle diese Merkmale finden wir bei der Masse der Septembermänner wieder, die in unserer Geschichte das unseligste Andenken hinterlassen haben. Sie zeigen übrigens viel Ähnlichkeit mit den Urhebern der Bartholomäusnacht. Die Einzelheiten des Berichtes entnehme ich Taine, der sie aus zeitgenössischen Erinnerungen geschöpft hat. Es ist nicht genau bekannt, wer Befehl oder Veranlassung gegeben hat, die Gefangenen abzuschlachten, um die Gefängnisse zu räumen. Ob es Danton war, wie es wahrscheinlich ist, oder ein anderer, ist gleichgültig; wir haben es nur mit dem mächtigen Einfluß zu tun, den die mit dem Blutbade beauftragte Menge empfing.

Die Schar der Menschenschlächter umfaßte ungefähr dreihundert Mitglieder und zeigte vollkommen die Grundform einer ungleichartigen Masse. Abgesehen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmäßiger Bettler, bestand sie namentlich aus Händlern und Handwerkern aller Art, aus Schustern, Schlossern, Perückenmachern, Maurern, Angestellten, Dienstmännern usw. Unter dem Einfluß der empfangenen Suggestion sind sie, wie der obenerwähnte Koch, völlig überzeugt davon, eine vaterländische Pflicht zu erfüllen. Sie üben ein doppeltes Amt aus, das des Richters und das des Henkers, und halten sich in keiner Weise für Verbrecher.

Durchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe, bilden sie zunächst eine Art Gerichtshof, und sofort zeigt sich der beschränkte Geist und das nicht weniger beschränkte Rechtsgefühl der Massen. Angesichts der beträchtlichen Anzahl der Angeklagten wird zunächst entschieden: die Adligen, die Priester, die Offiziere, die Diener des Königs, d. h. diejenigen, deren Beruf in den Augen eines guten Patrioten allein schon ein Schuldbeweis ist, sollen in Haufen niedergemetzelt werden, ohne dass es eines besonderen Urteils bedarf. Im übrigen wird nach Aussehen und Ansehen verurteilt. Das unausgebildete Gewissen der Masse ist auf diese Weise befriedigt, sie kann rechtmäßig an die Abschlachtung gehen und den Instinkten der Grausamkeit, deren Entstehen ich an anderer Stelle behandelt habe, und die die Gesamtheiten stets in hohem Maße entfalten können, freien Lauf lassen. Sie stehen übrigens — das ist die Regel bei den Massen — einer gleichzeitigen Offenbarung entgegengesetzter Gefühle nicht im Wege, so z. B. der Empfindsamkeit, die oft, ebenso wie ihre Grausamkeit, bis zum äußersten geht. "Sie haben das offenherzige Mitgefühl und die bewegliche Empfindlichkeit der Pariser Arbeiter. Als ein Föderierter vernahm, dass man in der Abtei die Häftlinge seit sechsundzwanzig Stunden ohne Wasser gelassen hatte, wollte er durchaus den nachlässigen Pförtner umbringen und hätte es getan, wenn nicht die Gefangenen selbst für ihn gebeten hätten. Ist ein Gefangener (von ihrem fliegenden Gerichtshof) freigesprochen, so wird er von den Wächtern und Henkern, kurz von jedermann, umarmt und stürmisch begrüßt." Dann kehrt man zur Abschlachtung der übrigen zurück. Während des Blutbades herrscht andauernd liebenswürdige Fröhlichkeit. Man singt und tanzt um die Leichen herum, stellt den "Damen", die glücklich darüber sind, zu sehen, dass Aristokraten getötet werden, Bänke zur Verfügung. Auch weiterhin werden Proben einer besonderen Höflichkeit gegeben. Als sich ein Henker in der Abtei beklagt, die etwas entfernter sitzenden Damen sähen schlecht und nur einige der Anwesenden hätten das Vergnügen, die Aristokraten zu schlagen, gibt man die Richtigkeit dieser Beobachtung zu und bestimmt, dass man die Opfer langsam zwischen zwei Reihen von Mördern hindurchgehen lasse, die zur Verlängerung der Qualen nur mit dem Säbelrücken schlagen dürfen. In der Festung werden die Opfer völlig entkleidet, eine halbe Stunde lang zerfleischt, dann, wenn jedermann alles gut gesehen hat, erledigt man sie, indem man ihnen den Bauch aufschlitzt. Die Menschenschlächter sind im übrigen sehr gewissenhaft und bekunden jene Sittlichkeit, auf deren Vorhandensein im Herzen der Massen wir bereits hinwiesen. Sie legen das Geld und den Schmuck der Opfer auf dem Tisch des Ausschusses nieder.

In allen ihren Handlungen finden sich diese unentwickelten Formen des Denkens, die für die Massenseele bezeichnend sind. So macht irgend jemand nach einer Abschlachtung von zwölf- bis fünfzehnhundert Volksfeinden darauf aufmerksam — und seine Anregung wird sofort angenommen —, dass in den andern Gefängnissen, in denen alte Bettler, Landstreicher, jugendliche Häftlinge sitzen, in Wahrheit nur unnütze Fresser eingesperrt wären, deren man sich am besten entledige. Übrigens müßten sich unter ihnen auch Volksfeinde befinden, wie z. B. eine gewisse Frau Delarue, die Witwe eines Giftmischers: "Sie soll wütend sein, im Gefängnis zu sitzen; wenn sie könnte, würde sie Paris in Brand stecken; das soll sie gesagt haben, das hat sie gesagt. Fort mit ihr." Der Beweis ist überzeugend, und haufenweise wird alles abgeschlachtet, inbegriffen sogar etwa fünfzig Kinder von zwölf bis siebzehn Jahren, die ja auch Volksfeinde werden könnten und folglich beseitigt werden mußten.

Nach einer Woche der Arbeit waren all diese Maßnahmen ausgeführt, und die Menschenschlächter durften von Ruhe träumen. Da sie tief davon durchdrungen waren, dem Vaterland gut gedient zu haben, verlangten sie von den Machthabern eine Belohnung; die Eifrigsten forderten sogar eine Auszeichnung.

Die Geschichte der Kommune von 1870 weist ähnliche Tatsachen auf. Der wachsende Einfluß der Massen und das allmähliche Zurückweichen der Mächte vor ihnen wird sicherlich noch viele andre hinzufügen.


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