§ 3. Die Zeit


Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit. Sie ist der wahre Schöpfer und der große Zerstörer. Sie hat die Berge aus Sandkörnern aufgebaut und die winzige Zelle der geologischen Urzeit zur menschlichen Würde erhoben. Die Einwirkung der Jahrhunderte genügt, um jede beliebige Erscheinung umzuformen. Mit Recht sagt man, dass eine Ameise, die Zeit genug hätte, den Montblanc abtragen könnte. Ein Wesen, das die magische Gewalt besäße, die Zeit nach Belieben zu verändern, hätte die Macht, die von den Gläubigen ihren Göttern zugeschrieben wird.

Aber wir haben uns hier nur mit dem Einfluß der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu beschäftigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer. Sie hält die großen Kräfte, wie die der Rasse, die sich nicht ohne sie bilden können, in ihrer Abhängigkeit. Sie läßt alle Glaubenslehren entstehen und absterben. Von ihr empfangen sie ihre Macht, und sie entzieht sie ihnen auch wieder.

Die Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor, d. h. den Boden, auf dem sie keimen. Daraus folgt, dass gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit, dann nicht mehr zu verwirklichen sind. Die Zeit häuft unermeßliche Überreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an, denen die Ideen eines Zeitalters entspringen. Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefähr. Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit. Wenn sie blühen, so hatte die Zeit ihre Blüte vorbereitet, und um ihren Ursprung zu erfassen, muß man stets zurückgehen. Sie sind Töchter der Vergangenheit und Mütter der Zukunft, stets aber Sklavinnen der Zeit.

So ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin, und man braucht sie nur walten zu lassen, um zu sehen, wie alle Dinge sich wandeln. Heute beunruhigen uns die bedrohlichen Ansprüche der Massen, und die Zerstörungen und Umwälzungen, die sie ahnen lassen. Die Zeit allein wird es auf sich nehmen, das Gleichgewicht wieder herzustellen. "Keine Ordnung", schreibt treffend Lavisse, "wurde an einem Tage gegründet. Die politischen und sozialen Organisationen sind Werke, die Jahrhunderte erfordern; der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chaotisch, bevor er seine Richtlinien fand; die absolute Monarchie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte, bis sie regelrechte Herrschaftsmittel herausbildete, und es gab große Verwirrungen in diesen Übergangszeiten."


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