Religion ohne Gottheit.
Atheismus


Auch ist es eine überflüssige Banalität, zu wiederholen, die Massen bedürften einer Religion. Denn alle politischen, religiösen und sozialen Glaubenslehren finden bei ihnen nur Aufnahme unter der Bedingung, dass sie eine religiöse Form angenommen haben, die sie jeder Auseinandersetzung entzieht. Wenn es möglich wäre, die Massen zu bewegen, den Atheismus anzunehmen, so würde er ganz zum unduldsamen Eifer eines religiösen Gefühls und in seinen äußeren Formen bald zu einem Kultus werden. Ein merkwürdiges Beispiel bietet uns die Entwicklung der kleinen positivistischen Sekte. Sie gleicht jenem Nihilisten, dessen Geschichte der tiefgründige Dostojewskij uns erzählt. Vom Geiste erleuchtet, zerbrach er eines Tages die Bildwerke der Gottheiten und Heiligen, die den Altar seiner Kapelle schmückten, löschte die Kerzen aus und ersetzte, ohne einen Augenblick zu zögern, die zerstörten Bilder durch die Werke einiger atheistischer Philosophen; dann zündete er pietätvoll die Kerzen wieder an. Der Gegenstand seines religiösen Glaubens war ein andrer geworden, aber kann man behaupten, dass sich seine religiösen Gefühle geändert hatten?

Ich wiederhole noch einmal: gewisse historische Ereignisse, und zwar gerade die wichtigsten, kann man nur verstehen, wenn man die Form, welche die Überzeugungen der Massen stets annehmen, in Rechnung stellt. Viele soziale Erscheinungen sollten lieber von Psychologen als von Naturforschern studiert werden. Unser großer Historiker Taine hat die Revolution nur als Naturforscher studiert, und so ist ihm die wirkliche Entwicklung der Ereignisse recht oft verborgen geblieben. Er hat die Tatsachen vorzüglich beobachtet, aber da er die Massenpsychologie nicht genügend erforscht hatte, konnte sie der berühmte Schriftsteller nicht immer aus den Ursachen erklären. Da die Tatsachen ihn durch ihre Blutigkeit und Wildheit und ihren Anarchismus erschreckten, so erschienen ihm die Helden in dem großen Epos nur als eine Horde epileptischer Wilder, die sich zügellos ihren Trieben hingaben. Die Gewalttaten der Revolution, ihre Metzeleien, ihr Bedürfnis nach Verbreitung, ihre Kriegserklärung an alle Könige sind nur zu erklären, wenn man bedenkt, dass sie zur Befestigung eines neuen religiösen Glaubens dienten. Die Reformation, die Bartholomäusnacht, die Religionskriege, die Inquisition, die Schreckenstage sind Erscheinungen derselben Art unter dem Einfluß dieser religiösen Gefühle, die notwendig dazu führen, mit Feuer und Schwert alles auszurotten, was sich der Einführung des neuen Glaubens entgegenstellt. Das Verfahren der Inquisition und der Schreckenstage ist das aller wahrhaft Überzeugten; sie wären keine Gläubigen, wenn sie anders verführen.

Umwälzungen gleich jenen, die ich erwähnte, sind nur möglich, wenn die Massenseele sie ins Leben ruft. Die unumschränktesten Gewaltherrscher könnten sie nicht entfesseln. Die Historiker, die uns die Bartholomäusnacht als das Werk eines Königs zeigen, kennen die Psychologie der Massen ebensowenig wie die der Könige. Solche Kundgebungen können nur der Massenseele entspringen. Die unumschränkteste Macht des eigenmächtigsten Herrschers reicht kaum weiter als zu einer geringen Beschleunigung oder Verzögerung des Zeitpunktes. Nicht die Könige haben die Bartholomäusnacht, die Religionskriege verursacht, und nicht Robespierre, Danton oder Saint-Just waren die Urheber der Schreckenstage. Hinter solchen Ereignissen findet man immer wieder die Seele der Massen.


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