§ 5. Unterricht und Erziehung


An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee, der Unterricht habe den bestimmten Erfolg, die Menschen zu bessern und sogar einander ähnlich zu machen. Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schließlich zu einem der unerschütterlichsten Sätze der Demokratie geworden. Er ist ebenso unantastbar geworden, wie einst die Dogmen der Kirche.

Aber in diesem Punkt, wie in so vielen anderen, stehen die Ideen der Demokratie in schärfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung. Mehrere hervorragende Philosophen, besonders Herbert Spencer, konnten leicht beweisen, dass der Unterricht den Menschen weder sittlicher noch glücklicher macht, dass er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht ändert und, schlecht geleitet, oft mehr Schaden als Nutzen bringt. Die Statistiker bestätigen diese Ansicht, indem sie zeigen, dass die Kriminalität mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zunimmt; dass die ärgsten Feinde der Gesellschaft, die Anarchisten, oft aus den Besten der Schule hervorgehen. Ein hoher Justizbeamter, Adolphe Guillot, berichtet, dass man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Verbrecher rechnen kann, und dass innerhalb fünfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist, was einen Zuwachs von 133 Prozent bedeutet. Er hat auch, in Übereinstimmung mit seinen Kollegen, festgestellt, dass die Kriminalität besonders bei den jungen Leuten zunimmt, bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten ist.

Gewiß hat niemals jemand behauptet, dass gut geleiteter Unterricht keine praktischen, sehr nützlichen Ergebnisse haben könnte, wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht, so doch in bezug auf die Entfaltung der beruflichen Fähigkeiten. Leider haben, besonders seit dreißig Jahren, die lateinischen Völker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobachtungen der hervorragendsten Köpfe in ihren bedauerlichen Irrtümern. Ich selbst habe in verschiedenen Schriften *) gezeigt, dass unsere gegenwärtige Erziehung die Mehrzahl derer, denen sie zuteil wurde, in Feinde der Gesellschaft verwandelt, die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bilden.

Die erste Gefahr dieser Erziehung, die treffend als lateinisch gekennzeichnet wird, beruht auf einem psychologischen Grundirrtum, sich einzubilden, die Intelligenz entwickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbüchern. Ferner bemüht man sich, soviel als möglich zu lehren, und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatsprüfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Büchern vollzustopfen, ohne jemals sein Urteil oder seine Entschlußkraft zu üben. Der Unterricht besteht für ihn im Hersagen und Gehorchen. "Aufgaben lernen, eine Grammatik oder einen Abriß auswendig wissen, gut wiederholen, gut nachmachen", schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon, "das ist eine komische Erziehung, bei der jede Anstrengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehlbarkeit des Lehrers ist und dazu führt, uns herabzusetzen und unfähig zu machen."

Wäre diese Erziehung nur nutzlos, so könnte man sich damit begnügen, die unglücklichen Kinder zu bedauern, denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Söhne Chlotars, die Kämpfe zwischen Neu-strien und Austrasien oder zoologische Einteilungen beibringt; aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr, sie bewirkt bei dem, der sie genossen hat, einen heftigen Widerwillen gegen die Verhältnisse, in denen er geboren ist, und den nachdrücklichen Wunsch, aus ihnen herauszukommen. Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter, der Bauer nicht mehr Bauer bleiben, und der letzte Kleinbürger sieht für seine Söhne keine andere Möglichkeit als die Laufbahn eines festbesoldeten Staatsbeamten. Anstatt die Menschen für das Leben vorzubereiten, bereitet die Schule sie nur für öffentliche Ämter vor, in denen man ohne einen Schimmer von Tatkraft Erfolg haben kann. Sie erzeugt am Fuße der sozialen Leiter die proletarischen Heere, die mit ihrem Los unzufrieden und stets zum Aufstand bereit sind; oben aber unsere leichtfertige, zugleich skeptische und gläubige Bourgeoisie, mit ihrem übertriebenen Vertrauen zur Staatsvorsehung, die sie gleichwohl unaufhörlich beschimpft, weil sie stets ihre eigenen Fehler der Regierung zuschiebt und unfähig ist, ohne die Vermittlung der Obrigkeit etwas zu unternehmen.

Der Staat kann nur eine kleine Anzahl der Anwärter verwenden, die er mit Hilfe von Handbüchern fabriziert und dafür auszeichnet, und läßt die andern ohne Beschäftigung. Er muß sich also dareinfinden, die ersten zu ernähren und die andern zu Feinden zu haben. Von der Spitze bis zum Fuß der sozialen Pyramide belagert heute das riesige Heer der Anwärter die verschiedenen Ämter. Ein Kaufmann findet schwer einen Stellvertreter in den Kolonien, aber es gibt Tausende von Kandidaten, die sich um die bescheidensten öffentlichen Stellungen bemühen. Das Seinedepartement allein zählt zwanzigtausend beschäftigungslose Lehrer und Lehrerinnen, die Feld und Werkstatt verachten und sich an den Staat wenden, um leben zu können. Da die Zahl der Auserwählten beschränkt ist, so muß notwendigerweise die der Unzufriedenen ungeheuer groß sein. Sie sind zu allen Revolutionen bereit, gleichgültig unter welchem Führer und zu welchen Zielen. Der Erwerb unnützer Kenntnisse ist ein sicheres Mittel, einen Menschen zum Empörer zu machen.**)

 

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*) Vgl. "Psychologie des Sozialismus"; "Psychologie der Erziehung".

**) Übrigens ist dies nicht nur eine besondere Erscheinung bei den lateinischen Völkern, man kann sie auch in China feststellen, das ebenfalls von einer festen Hierarchie von Mandarinen geleitet wird, und wo das Mandarinat wie bei uns auf dem Wege von Prüfungen erlangt wird, deren einziges Erfordernis das fehlerlose Hersagen dicker Lehrbücher ist. Das Heer beschäftigungsloser Gelehrter wird heute in China für ein wahres Nationalunglück gehalten. Auch in Indien hat sich, seitdem die Engländer dort Schulen gegründet, um die Eingeborenen zu belehren, nicht um sie zu erziehen, eine besondere Klasse von Gelehrten, die der Babus, gebildet, die zu unversöhnlichen Feinden der englischen Macht werden, wenn es ihnen nicht gelingt, eine Anstellung zu erhalten. Die erste Wirkung des Unterrichts bei allen Babus, ob angestellt oder ohne Beschäftigung, war ein außerordentliches Sinken ihrer Sittlichkeit. Ich habe diesen Punkt in meinem Buch "Die Kulturen Indiens" ausführlich behandelt. Alle Autoren, die die Halbinsel besuchten, haben das ebenfalls festgestellt.


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