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Abteilung IV.
 
Skeptische Zweifel in Betreff der Tätigkeiten des Verstandes.
Abschnitt I.

 

     Alle Gegenstände des menschlichen Denkens und Forschens zerfallen von Natur in zwei Klassen, nämlich in Beziehungen der Vorstellungen und in Tatsachen. Zur ersten Klasse gehören die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik; mit einem Wort: jeder Satz von anschaulicher oder zu beweisender Gewissheit. Dass das Quadrat der Hypotenuse gleich ist den Quadraten der beiden Seiten, ist ein Satz, welcher die Beziehung zwischen diesen Figuren ausdrückt. Dass dreimal fünf gleich ist der Hälfte von Dreißig drückt eine Beziehung zwischen diesen Zahlen aus. Sätze dieser Klasse können durch die reine Tätigkeit des Denkens entdeckt werden, ohne von irgend einem Dasein in der Welt abhängig zu sein. Wenn es auch niemals einen Kreis oder Dreieck in der Natur gegeben hätte, so würden doch die von Euklid dargelegten Wahrheiten für immer ihre Gewissheit und Beweiskraft behalten. Tatsachen, der zweite Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, werden nicht in derselben Weise festgestellt, und unsere Überzeugung von ihrer Wahrheit ist war groß, aber doch nicht von derselben Art, wie bei den ersten. Das Gegenteil einer Tatsache bleibt immer möglich; denn es ist niemals ein Widerspruch; es kann von der Seele mit derselben Leichtigkeit und Bestimmtheit vorgestellt werden, als wenn es genau mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Dass die Sonne morgen nicht aufgehen werde, ist ein ebenso verständlicher und widerspruchsfreier Satz als die Behauptung: dass sie aufgehen werde. Man würde vergeblich den Beweis ihrer Unwahrheit versuchen. Könnte man sie widerlegen, so müsste sie einen Widerspruch enthalten und gar nicht deutlich von der Seele vorgestellt werden.

     Es ist deshalb von wissenschaftlichem Interesse, die Natur der Gewissheit zu untersuchen, welche uns von der wirklichen Existenz und von Tatsachen überzeugt, so weit sie über das gegenwärtige Zeugnis unserer Sinne oder die Angaben unseres Gedächtnisses hinausgeht. Dieser Teil der Philosophie ist, wie man bemerkt, sowohl bei den Alten wie bei den Neueren nur wenig gepflegt worden; man wird deshalb unsere Zweifel und Irrtümer bei der Verfolgung einer so wichtigen Untersuchung um so mehr entschuldigen, als der Weg auf sehr schwierige Pfade führt, wo Richtung und Führer fehlen. Diese Zweifel können selbst nützlich werden, weil sie die Wissbegierde wecken und jenen unbedingten Glauben und jene Sicherheit zerstören, welche das Gift alles Forschens und aller freien Untersuchung ist. Wenn in der gewöhnlichen Philosophie Mängel bestehen und entdeckt werden, so darf, nach meiner Meinung, dies nicht entmutigen, sondern muss vielmehr antreiben, etwas Vollständigeres und Genügenderes zu erreichen, als man bis jetzt dem Publikum geboten hat.

     Alles Schließen in Bezug auf Tatsachen scheint sich auf die Beziehung von Ursache und Wirkung zu gründen. Nur durch diese Beziehung allein kann man über das Zeugnis unseres Gedächtnisses und unserer Sinne hinauskommen. Wenn man einen Menschen fragt, weshalb er eine Tatsache, die nicht wahrnehmbar ist, glaubt, z.B. dass sein Freund auf dem Lande oder in Frankreich ist, so wird er einen Grund angeben, und dieser Grund wird irgend eine andere Tatsache enthalten, etwa einen Brief, den er von ihm empfangen hat, oder die Kenntnis seiner früheren Entschlüsse und Zusagen. Wenn man auf einer wüsten Insel eine Uhr oder eine andere Maschine findet, so wird man schließen, dass einmal Menschen dort gewesen sind. Alle unsere Folgerungen in Bezug auf Tatsachen sind von derselben Beschaffenheit; es wird hier beständig vorausgesetzt, dass zwischen der gegenwärtigen Tatsache und der auf sie gestützten eine Verknüpfung besteht. Bände sie nichts zusammen, so wäre der Schluss ganz willkürlich. Hört man in der Dunkelheit eine artikulierte Stimme und ein vernünftiges Gespräch, so vergewissert uns dies von der Gegenwart einer Person. Weshalb? weil jene die Wirkungen menschlicher Bildung und Tätigkeit und eng mit ihnen verknüpft sind. Untersucht man alle anderen Schlüsse dieser Art, so wird man finden, dass sie sich auf die Beziehung von Ursache und Wirkung stützen, und dass diese Beziehung bald nahe, bald entfernt, bald hinter einander, bald gleichzeitig statt hat. Hitze und Licht sind gleichzeitige Wirkungen des Feuers, und man kann von dem einen richtig auf das andere schließen.

     Will man daher in Bezug auf die Natur der Gewissheit, über Tatsachen etwas Befriedigendes erreichen, so muss man untersuchen, wie man zur Kenntnis von der Ursache und Wirkung gelangt.

 


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